Nikolaj Wassiljewitsch Gogol, die russische Seele

Literaturessay von Hanns-Martin Wietek (weitere Literaturessays finden Sie hier)

Der „göttliche“ Alexander Puschkin, der „wild-draufgängerische“ Offizier Lermontow und die „Seele“ Gogol – diese drei Namen stehen für den Übergang von der Romantik zum Realismus in der Epoche der nicht nur literarischen Zeitenwende Russlands in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Puschkin – noch ganz Romantiker – begründete seinen Ruhm noch mit Poemen, Gedichten, mit Lyrik, und begann erst am Schluss seines Lebens, in Prosa zu schreiben. Lermontow feierte seine Erfolge ebenfalls noch mit Lyrik, ging aber sehr bald zu einer Prosa über, die schon Züge des Realismus trägt. Und Gogol feierte seinen einzigen, dafür aber großen Misserfolg mit seiner ersten Veröffentlichung, der Versidylle Hans Küchelgarten (1829). Er verbrannte die Reste der Auflage und „flüchtete“ nach Lübeck, Travemünde und Hamburg. Nie wieder versuchte er sich an der Lyrik; er wurde zum Begründer eines „fantastischen“, eines grotesken Realismus, der bis in unsere heutigen Tage zu einem Spezifikum der russischen Literatur geblieben ist.

In der Zeit der russischen Romantik – die 20er-, 30er- und 40er-Jahre des 19. Jahrhunderts – liegen aber nicht nur die Wurzeln der russischen Prosaerzählung, sondern auch die Wurzeln dessen, was man bis heute als russischen „Volkscharakter“ ansieht. Der religiös geprägte Gogol war maßgeblich an dieser „Selbstfindung“ beteiligt, wenn nicht gar ihr Protagonist. Er sah in Sankt Petersburg mit seinem Hofstaat das verkörpert, was er aus tiefster Seele verabscheute: den westlichen Individualismus mit seiner Oberflächlichkeit, die Gier nach Geld und Macht, Korruption, den Geiz, Gottlosigkeit, schlicht das Fehlen jeder gottverbundenen Menschlichkeit. Dieser Welt stellte er den Glauben an die tief im russischen Menschen (und darunter ist der russische Bauer zu verstehen, denn abgesehen von Moskau und eben St. Petersburg gab es in Russland fast nur Landbevölkerung) verwurzelte Frömmigkeit und Gottergebenheit und an dessen Liebe zu „Mütterchen Russland“ gegenüber.

Der bewusst antirationalen Mystik des russisch-orthodoxen Glaubens – eine Mystik, die sich vollständig mit den Vorstellungen der Romantik deckt – fügte Gogol einen aus diesem Glauben geborenen messianischen Grundgedanken hinzu. Für ihn lebte der Bauer den Glauben beispielhaft vor aller Welt und bewirkte damit eine geistige Vereinigung der gesamten Christenheit, eine „Allchristenheit“. Diese Überzeugung brachte in Verbindung mit der offensichtlichen Liebe des Bauern zu seinem „Mütterchen“ den Begriff der „Russischen Seele“ hervor, eine Art Nationalgeist, wie ihn schon der in Russland sehr verehrte deutsche Romantiker Friedrich Schelling für eine Nation entwickelt hatte. Von dieser Vorstellung war es nur noch ein kleiner Schritt zum Empfinden, dass das russische Volk einen eigenen Weg gehen müsse, unabhängig von den Regeln und Überzeugungen des Westens. Der Grundgedanke der Slawophilen war geboren und in den vierziger Jahren fanden sie sich auch als Gruppe zusammen.

Auch vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, dass Gogol neben Puschkin zu DEM russischen Schriftsteller wurde und sich viele nach ihm auf ihn beziehen – von Dostojewski und Tolstoi bis hin zu Solschenizyn. Zwangsläufig wurde und blieb er bis heute auch Streitobjekt zwischen Westlern und Slawophilen; so ist unter anderem die Renaissance zu erklären, die er im heutigen Russland erlebt.

Nikolaj Wassiljewitsch Gogol entstammt einer ukrainisch-polnischen Gutsbesitzersfamilie, die eigentlich Janowskij hieß, und kam am 20. März jul / 1. April greg 1809 im ukrainischen Gouvernement Poltawa zur Welt; den Namen Gogol (dt. Schellente) legte sich die Familie 1792 zu, um ihren (etwas fragwürdigen) Adelsstatus nach russischem Recht bestätigt zu bekommen. Sein Vater war ein „Heimatdichter“ und so wuchs Nikolaj mit ukrainischen Geschichten und Märchen, vor allem aber auch in einer sehr religiösen Familie auf; diese Religiosität hat sein ganzes Leben geprägt. Auf sie ist zurückzuführen, dass er die Menschen seiner Erzählungen nicht sozialkritisch bissig, sondern immer menschlich unzulänglich darstellt, wobei er seine Kritik humorvoll durch eine bis ins Groteske reichende Überzeichnung ausdrückt.

Natürlich enthalten die in den Petersburger Erzählungen zusammengefassten Erzählungen „Petersburger Skizzen“, „Der Newskij Prospekt“, „Das Porträt“, „Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen“, „Die Nase“ und „Der Mantel“ oder das Stück Der Revisor (1836) und selbstverständlich auch Die toten Seelen Sozialkritik (und je nachdem, aus welcher politischen Ecke der jeweilige Interpret kommt, wird das mehr oder weniger betont), in erster Linie aber sind es die Personen, die Charaktere, die er (im doppelten Sinn des Wortes) vorführt. Keinesfalls will Gogol (vielleicht gar revolutionär) das System umstürzen; er will die Menschen erziehen, was ihn, wenn er wie im zweiten Teil der Toten Seelen die Humoreske zugunsten des Predigerhaften zurückdrängen wollte, in seinem Schaffen fast scheitern ließ.

1828, siebzehnjährig, kam Gogol nach St. Petersburg, um Beamter oder Schriftsteller zu werden. Da er jedoch nur mit sehr mäßigen Zeugnissen aufwarten konnte, wurde er als ›Kollegienregistrator‹ der untersten Rangstufe (XIV.) zugeordnet und versuchte, sich sein Geld unter anderem als Hauslehrer, Geschichtslehrer und Hilfsprofessor zu verdienen, wobei er stets scheiterte. Dann folgte der schon oben erwähnte grandiose Misserfolg mit der Versidylle Hans Küchelgarten, worauf Gogol nach Deutschland floh – ein Verhalten, das Zeit seines Lebens für ihn typisch war. Zurück in St. Petersburg begann er, Erzählungen über seine dörfliche Heimat in der Ukraine zu schreiben. Malorossija (dt. Kleinrussland), wie man die Ukraine damals nannte, war für die Petersburger in ihrem kalten Norden südlich-exotisch, dazu schilderte Gogol noch ganz im Sinne der Romantik dörflich-bäuerliches Leben. Seine acht Erzählungen vom Imker Rudi Panko, zusammengefasst unter dem Titel Abende auf dem Vorwerke bei Dikanka (1831/1832), wurden ein Riesenerfolg – sie dienten unter anderem Mussorgski (1874 bei Jahrmarkt von Sorotschinzy) und Rimski-Korsakow (1879 bei Mainacht) als Vorlagen für ihre Kompositionen. 1835 folgten vier weitere ukrainische Erzählungen unter dem Titel Mirgorod (1835): „Altväterliche Gutsbesitzer“ (auch: „Gutsbesitzer der guten alten Zeit“), „Taras Bulba“ (eine heroische Erzählung vom Kampf der Kosaken gegen die polnische Herrschaft im 16. und 17. Jahrhundert), die Gruselgeschichte „Wij“ (dt. Erdgeist) und die erste russische Humoreske „Die Geschichte, wie sich Ivan Ivanowitsch mit Ivan Nikiforowitsch verzankte“.
Danach folgten die schon oben erwähnten Petersburger Erzählungen.

Es waren die ukrainisch bedingte Farbigkeit seiner Erzählungen und die humorvolle Groteske, die Gogol im kühlen, ja kalten, höfischen St. Petersburg einen durchschlagenden Erfolg verschafften.
Letztere war auch der Grund, weswegen er im Vergleich zu anderen Schriftstellern weniger Ärger mit der Zensur bekam.

In seiner Komödie Der Revisor nimmt er zum Beispiel die gesamte Bürokratie und Adelsgesellschaft (in der Provinz) heftigst aufs Korn. Bei der Uraufführung in St. Petersburg in Anwesenheit des Zaren herrschte nach der Aufführung Grabesstille; das Schweigen brach Nikolaus I. selbst, indem er demonstrativ als erster Beifall klatschte. Die Betroffenen knirschten allerdings im Stillen mit den Zähnen. Man kann vermuten, dass Zar Nikolaus, der nach dem Dekabristenaufstand für ängstliches Schweigen unter den Schriftstellern und Kritikern gesorgt hatte, das Stück bei seinem rigorosen Vorgehen gegen Korruption nicht ungelegen kam.

In einem Brief an den berühmten Schauspieler Michail Semjonowitsch Schtschepkin schreibt Gogol am 29. April 1836 dazu:
„Machen Sie, was Sie wollen, mit meinem Stück, ich werde mich nicht darum kümmern. Die Wirkung, die es erzeugt hat, war groß und geräuschvoll. Alle sind gegen mich. Betagte und ehrwürdige Beamte schreien, mir sei nichts heilig, da ich die Dreistigkeit besaß, über Staatsdiener zu sprechen. Die Polizisten sind gegen mich, die Kaufleute sind gegen mich, die Literaten sind gegen mich. Man schimpft, geht aber ins Theater; für die vierte Vorstellung waren keine Billetts zu bekommen. Wäre die erhabene Fürsprache des Herrschers nicht gewesen, mein Stück wäre nicht mehr auf der Bühne, und es haben sich schon Leute gefunden, die sich um ein Verbot bemühen. Ich sehe jetzt, was es bedeutet, ein komischer Schriftsteller zu sein. Der geringste Anschein von Wahrheit – und gegen dich erheben sich alle, und zwar nicht nur einer, sondern ganze Stände. Ich stelle mir vor, was wäre, wenn ich etwas aus dem Petersburger Leben genommen hätte, das ich heute besser kenne als das in der Provinz.“
(Urban, Peter: Gogols Petersburger Jahre – Gogols Briefwechsel mit Aleksandr Puškin, 2003)

Gogols Reaktion auf den Riesenerfolg seines Stücks – die Aufführungen waren (und sind bis heute) meist restlos ausverkauft – war typisch für den Schriftsteller: Verärgert verließ er erneut das verhasste Petersburg und reiste nach Deutschland, Frankreich, in die Schweiz und vor allem nach Italien (Rom wurde in den Jahren 1837 bis 1839 zu seiner zweiten Heimat), denn er betrachtete das Stück im Kern als ein moralisches Drama und nicht als ein oberflächliches Lustspiel. Hinzu kam, dass man in ihm, dem religiös geprägten Konservativen, plötzlich einen politisch Liberalen sah – und das war in seinen Augen das Schlimmste, wessen man ihn bezichtigen konnte.

Was auch immer Gogols Intention beim Schreiben dieses Stückes gewesen ist, das Thema und die fantastische Überzeichnung der Charaktere machen die Komödie bis in die Gegenwart zu einer der gefragtesten klassischen Komödien.
Der Held des Stückes, Chlestakov, ein Beamter niederster Rangstufe, wird ohne eigenes Zutun in einem Provinzstädtchen für einen von Petersburg gesandten Revisor (Kontrolleur) gehalten und entsprechend bis in die höchsten Rangstufen hinauf hofiert. Als er dies begreift, nutzt er die Dreck am Stecken habenden Honoratioren kräftig aus – bis hin zur Verlobung mit der Tochter des Stadthauptmanns – und verschwindet, als es brenzlig wird, kurz bevor der echte Revisor erscheint. Chlestakov ist ein ausgesprochen sympathischer Hochstapler, der den korrupten Beamten zur Freude der Zuschauer richtig eins auswischt. Sein Name ist, wie Oblomow als Synonym für russische Faulenzer, als Synonym für Hochstapler in die russische Sprache eingegangen.

Gogols Erzählungen, Novellen und Stücke haben immer kleine, manchmal sogar banale Ereignisse zum Thema, nie beschreibt er ausufernde, verzweigte, vielschichtige Handlungen. Mit witzigen, verrückten Situationen, skurril überzeichneten Personen und pittoresken Milieus spießt er ein Thema auf und bringt es auf den Punkt; das macht Gogol so einzigartig, weshalb er auch heute noch mit Genuss zu lesen ist.

Auch der Inhalt der Toten Seelen ist schnell erzählt:
Leibeigene Bauern („Seelen“) wurden damals nicht sofort nach ihrem Tod aus den Listen der Leibeigenen gestrichen, sondern erst bei periodisch stattfindenden Revisionen; bis dahin galten sie als lebend und die Gutsbesitzer mussten Steuern für sie bezahlen.
Tschitschikow, der Sohn eines Gutsbesitzers, kam nun auf die Idee, diese toten, aber auf dem Papier noch lebenden Seelen den Gutsbesitzern für ein Spottgeld abzukaufen, teilweise wurden sie ihm sogar geschenkt. Die Gutsbesitzer mussten nun keine Steuern mehr für sie bezahlen und Tschitschikow hatte auf dem Papier viele, viele Seelen, also: ein großes Vermögen, das er dann versetzen, beleihen wollte – natürlich ohne zu sagen, dass diese Seelen schon tot sind. Mit dem Geld wollte er dann auf Nimmerwiedersehen verschwinden; er wollte aus dem morbiden System der Leibeigenschaft seinen eigenen Nutzen ziehen. Letztendlich (auch der Leser erfährt erst ganz am Schluss des Romans, dass Tschitschikow ein Gauner ist, und was hinter seinem Handeln steckt) fliegt die Sache aber noch auf und Tschitschikow machte sich mit seiner Troika auf und davon.

Das Werk sollte ein dreiteiliges Epos werden – in Anlehnung an Dantes Göttliche Komödie – und die Verwandlung Tschitschikows über seine Bestrafung bis hin zur Läuterung in einen wahren Menschenfreund zeigen. Von 1836 an arbeitete Gogol am ersten Teil, hauptsächlich im Ausland, in Rom; das erste Kapitel hat er, vor dessen Tod im Jahr 1837, noch Puschkin vorgelesen, auf dessen Anregung die Toten Seelen zurückgehen. Der ältere Schriftsteller war Gogol immer sehr verbunden gewesen und hatte ihm mehr als nur diese eine Idee eingepflanzt; auch die Geschichte des Revisors stammt von Puschkin, der selbst einmal in einer Provinzstadt für einen heimlich zur Aufklärung von Missbräuchen dorthin kommandierten Beamten gehalten worden war.

Erschienen ist der erste Teil von Die toten Seelen 1842, und er wurde ein so großer Erfolg, dass man das Buch heute als Gogols Hauptwerk bezeichnet. Die nachfolgenden zehn Jahre arbeitete er am zweiten Band; in dieser Zeit verbrannte er einmal einzelne, abgeschlossene Teile und zum zweiten Mal kurz vor seinem Tod den gesamten fertigen Band. Der Nachwelt sind nur einige wenige Kapitel geblieben, die man zudem nicht als Originalschriften Gogols werten kann.

Was war geschehen?

Ganz sicher hat ihn – wie auch Lermontow – der Tod Puschkins, den er bedingungslos verehrte, bis in seine Grundfesten erschüttert; Puschkin war für ihn der Gott der russischen Literatur, so etwas wie ein literarischer Übervater. Er erfuhr davon in Rom, wohin er nach dem Revisor geflüchtet war. An den Schriftsteller Pletnëv schrieb er kurz darauf:
„Kein Monat, keine Woche vergeht ohne einen neuen Verlust, aber ich hätte keine schlimmere Nachricht aus Russland erhalten können. Jede Freude meines Lebens, jede meiner erhabenen Freuden ist mit ihr verschwunden. Nichts habe ich unternommen ohne seinen Rat. Keine einzige Zeile ist geschrieben worden, ohne dass ich mir ihn vorgestellt hätte. Was er sagte, was er anmerkte, worüber er lachte, wozu er seine unzerstörbare und ewige Ermunterung gab, nur das hat mich interessiert und meine Kräfte beseelt. Ein heimliches Beben des auf Erden nicht erfahrbaren Vergnügens hielt meine Seele umfangen… Mein Gott! Mein jetziges Werk, das er mir eingegeben hat, ist sein Geschöpf… Ich habe nicht die Kraft, es fortzusetzen. Einige Male griff ich zur Feder – und die Feder fiel mir aus den Händen. Unsagbare Schwermut! …“
(Urban, Peter: Gogols Petersburger Jahre – Gogols Briefwechsel mit Aleksandr Puškin, 2003)

Aber Gogol ist immer eine schwierige Persönlichkeit gewesen. Er war ein Hypochonder; er litt mehr und mehr an eingebildeten und tatsächlichen psychischen und physischen Krankheiten, war schnell erregt und beleidigt und floh vor und in schwierigen Situationen (weshalb er die meiste Zeit seines Leben auf Reisen war!) und verfiel zunehmend einem religiösen Mystizismus, der Formen eines religiösen Wahns annahm.

1847 gab er Ausgewählte Stellen aus dem Briefwechsel mit Freunden heraus. Darin begegnete man einem vollkommen anderen Gogol, als dem, den man aus Der Revisor, Die toten Seelen und überhaupt allen seinen bisherigen Schriften kannte. Plötzlich verteidigte er die von ihm bisher angegriffene herrschende Ordnung des Zarentums und der Orthodoxie und sprach sich auch für die Leibeigenschaft aus. Er überwarf sich mit allen, die ihm nahe standen, und selbst seine Feinde schüttelten den Kopf. Selbst der damals wichtigste Kritiker Belinskij, der ihn als einen kritischen „realen“ Autor gepriesen und auch aufgebaut hatte, verfluchte ihn in einem Brief mit den Worten „Prediger der Knute, Lobsinger tatarischer Sitten, was tun Sie?“

Über die Gründe für diesen Wandel kann man nur spekulieren.
War es die durch seine fortschreitende religiöse Fanatisierung bedingte Einsicht in eine gottgewollte Ordnung? War es das Empfinden, dass er mit seinem zweiten Band der Toten Seelen, in dem er seinen bisherigen Stil – das ironisch Groteske – zwangsläufig hinter sich lassen musste (es ging ja nun um die Wandlung des Tschitschikow zu einem guten Menschen), nicht angemessen zurecht kam? Böse Zeitgenossen behaupteten gar, Gogol habe sich bei Nikolaus I. einschmeicheln wollen, um an den Posten eines Erziehers des Kronprinzen zu kommen – was ganz sicher eine Verleumdung ist!
Wie gesagt, man kann nur spekulieren.

Wie sehr sich Gogol verändert hatte, geht aus dem einem Vermächtnis gleichen Vorwort zu Ausgewählte Stellen aus dem Briefwechsel mit Freunden hervor:
„ … Meine Reise [Pilgerreise nach Jerusalem, hmw] würde ich gern als guter Christ machen, und ich bitte deshalb alle meine Landsleute, mir alles zu vergeben, womit ich sie verletzt haben könnte. Ich weiß, dass ich durch meine unbesonnenen und unreifen Schriften viele betrübt, andere sogar gegen mich aufgebracht und überhaupt bei vielen Missvergnügen erregt habe. Zu meiner Rechtfertigung kann ich nur sagen, dass meine Absichten gut waren und dass ich niemanden betrüben oder gegen mich aufbringen wollte; nur meine Unvernunft, nur meine Hast und Übereilung waren die Ursache, dass meine Werke sich in so unvollkommener Gestalt präsentierten und fast jedermann über ihren wahren Sinn täuschten; alles das aber, was an vorsätzlich Verletzendem darin vorkommen sollte, bitte ich mir mit jener Großmut zu verzeihen, mit der nur die russische Seele zu verzeihen vermag. Auch bitte ich alle um Verzeihung, mit denen mein Lebensweg mich für längere oder kürzere Zeit zusammengeführt hat. Ich weiß, dass ich vielen Unannehmlichkeiten bereitet habe, manchen vielleicht auch mit Absicht. Im Allgemeinen war an meinem Umgang mit Menschen immer viel unangenehm Abstoßendes. Das kam teils daher, weil ich Begegnungen und Bekanntschaften aus dem Wege ging, da ich das Gefühl hatte, ich könne den Menschen noch nichts Gescheites und für sie Notwendiges sagen (leere und überflüssige Redensarten jedoch wollte ich nichtmachen), und da ich zugleich überzeugt war, ich müsse mich wegen meiner zahllosen Mängel den Menschen etwas fernhalten und mich selber erst ein wenig erziehen. Zum Teil jedoch kam es auch von meiner kleinlichen Eitelkeit, wie sie nur denen unter uns eigen ist, die sich aus den Niederungen des Lebens zu einer guten gesellschaftlichen Stellung emporgearbeitet haben und sich nun für berechtigt halten, stolz auf andere herabzublicken. Wie dem auch sei, ich bitte, mir alle persönlichen Beleidigungen zu verzeihen, die ich jemandem seit den Zeiten meiner Kindheit bis zum gegenwärtigen Augenblick zugefügt haben mag. Auch meine Berufsgenossen, die Schriftsteller, bitte ich um Verzeihung, falls ich sie je vorsätzlich oder ohne Absicht geringschätzig oder unehrerbietig behandelt haben sollte; wem es aber aus irgendeinem Grund schwerfällt, mir zu verzeihen, den erinnere ich daran, dass er ein Christ ist. Wie der Fastende vor der Beichte, die er vor Gott abzulegen sich anschickt, seine Nächsten um Verzeihung bittet, so bitte ich sie um Verzeihung; … .“

1848 unternahm Gogol die angekündigte Pilgerreise nach Jerusalem und ließ sich danach endgültig in Moskau nieder. Hier geriet er unter den Einfluss des fanatischen Erzpriesters Matvej. Gogols Streben nach Gott artete in einen Kampf gegen den Körper aus; „in Gott leben heißt außerhalb des Körpers leben“ hat er einmal in seiner patethischen Art gesagt.

In der Zeit des „Großen Fastens“ im Jahr 1852 beschloss er, ganz in Gott zu leben und seinen Körper abzutöten, indem er nichts mehr aß. Dann verbrannte er den zweiten Teil seiner Toten Seelen; es wird vermutet, dass er mit diesem „Brandopfer“ – wie Abraham – Gott sein Liebstes opfern wollte. Er hatte schreckliche Visionen und sehnte den Tod herbei, der ihn nach weiteren neun Tagen großer Qualen am 21. Februar jul / 4. März greg 1852 endlich heimsuchte.

Wie erwähnt steht Gogols Komödie Der Revisor noch heute auf den Spielplänen der Theater. Sie ist – wie auch viele seiner anderen Stücke – schon viele Male verfilmt worden, so zum Beispiel 1932 von Gustaf Gründgens. Alle seine Werke, ob die ukrainischen Geschichten, die Petersburger Erzählungen oder Die toten Seelen, können auch in der heutigen Zeit noch mit großem Vergnügen gelesen werden – und oft kann man dabei nachdenklich werden. Hat sich wirklich nichts verändert?

Werke von Nikolaj Wassiljewitsch Gogol

Hans Küchelgarten
Abende auf dem Vorwerke bei Dikanka (mit den Erzählungen Der Jahrmarkt von Soročincy, Der Abend vor dem Johannistag, Die Mainacht oder Die Ertrunkene, Das verlorene Sendschreiben, Die Nacht vor Weihnachten, Die schreckliche Rache, Ivan Fëdorovič Šponka und sein Tantchen und Die verhexte Stelle)
Mirgorod (mit den Erzählungen Altväterliche Gutsbesitzer, Taras Bulba, Vij und Die Geschichte, wie sich Ivan Ivanovič mit Ivan Nikoforovič verzankte)
Petersburger Erzählungen (mit den Erzählungen Petersburger Skizzen, Der Newskij Prospekt, Das Porträt, Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen, Die Nase und Der Mantel)
Der Revisor
Die Heirat
Die toten Seelen
Ausgewählte Stellen aus dem Briefwechsel mit Freunden
Autorenbeichte

Nikolaj Gogol: Petersburger Geschichten. In: Russland lesen. Herausgegeben von Swetlana Geier. Fischer Verlag (2003)
Nikolai Gogol, Gesammelte Werke, Aufbau Verlag
Nikolai Gogol, Gesammelte Werke, Cotta Verlag

Weiterführende Literatur
Peter Urban: Gogols Petersburger Jahre – Gogols Briefwechsel mit Aleksandr Puškin (2003)
Alexander Eliasberg: Russische Literaturgeschichte in Einzelporträts (1922)
Reinhard Lauer: Geschichte der russischen Literatur von 1700 bis zur Gegenwart (2000)
Orlando Figes: Nataschas Tanz. Eine Kulturgeschichte Russlands (2003)

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