Neues Altes vom Lexikus-Verlag – Russisches Leben – 6. Die seltsame Verkettung der Umstände

Neues Altes vom Lexikus-Verlag – Russisches Leben – 6. Die seltsame Verkettung der Umstände

Aus: Russisches Leben in geschichtlicher, kirchlicher, gesellschaftlicher und staatlicher Beziehung. Nebst Reisebildern aus Russland während des ersten Erscheinens der Cholera.

Autor: Simon, Johann Philipp (?-?),

Erscheinungsjahr: 1855

Themenbereiche Politik, Gesellschaft, Wirtschaft  Russland Enthaltene Themen: Russland, Russen, russische Geschichte, St. Petersburg, Reisebericht, Stadtbeschreibung,

Die Sonne ging unter und in dem goldenen Gewölke des Abends tauchten alle Türme im byzantinischen Style erbaut, tauchten alle Luftschlösser aus dem kaiserlichen Dorf, Zarskoje Seló, hervor. Wir wollen dem Leser über dieses Dorf, das jetzt schon zur bedeutenden Stadt geworden, einiges hier sagen. Peter der Große ließ im Jahre 1710 ein paar hölzerne Gebäude hier errichten, auf welche Weise er den Grund zu der nunmehrigen Stadt legte, die gegenwärtig schon 12.000 Einwohner zählt. Im Jahre 1716 erhielt das damalige Dorf seinen Namen durch die Erbauung einer Kirche hier selbst. Die Dörfer in Russland gehören, mit wenigen Ausnahmen, samt ihren Bewohnern, teils der Krone, teils den Adeligen (Gutsherren). Die meisten, zumal solche Dörfer, die nur aus ein paar Hütten bestehen, haben keine Kirche, daher wird ein solches „Deréwnjä“ genannt. Hat ein Dorf eine Kirche, so heißt es. Seló. Die Bauern haben sogar noch eine dritte Benennung; denn wohnt in einem Kirchdorfe auch noch der Gutsherr, so nennen sie es Selzó, welches Wort jedoch slawonisch ist und im Russischen Seló, bedeutet. Peter der Große tat viel zur Verschönerung des zarischen Dorfes. Aber seine Nachfolgerinnen taten außerordentlich viel, um seine Umgebung zur reizendsten Gegend zu machen. Kaiserin Elisabeth ließ im Jahr 1744 den prachtvollen 1.200 Fuß langen Palast hier bauen, den Katharina II. mit großem Aufwande innerlich und äußerlich verzieren ließ. Großartig ist die Skulpturarbeit, die man daran verschwendet hat. Hier befindet sich auch das berühmte, sogenannte Bernsteinzimmer, dessen Wände von oben bis unten mit Bernstein bekleidet sind.

Mit unbeschreiblicher Pracht ist dieser Zauberpalast ausgeschmückt worden, dessen Äußeres schon auf den inneren Luxus schließen lässt. Der daran grenzende Park ist ungeheuer groß und wäre wohl geeignet, einen Dichter zu begeistern, der den Frühling besingen möchte. Die Teiche und Seen, größtenteils durch die Kunst erzeugt, sind voller kleinen Schiffe, die den verschiedenen Wasservögeln, deren es eine Menge hier gibt, zu Wohnungen dienen. Eine förmliche Admiralität leitet die Aufsicht über die Masse dieser kleinen Fahrzeuge.

Säulengänge, Triumphbögen, Obelisken und andere Denkmäler ließ Katharina II., deren Lieblingsort Zarskoje Seló war, ihren berühmten Feldherren und Günstlingen hier errichten, von denen die beiden Grafen Georg und Alexei Orlow die ersten waren. Jenem errichtete sie einen Triumphbogen für die weisen Anordnungen, die er während der Pest zu Moskau 1771 traf, und diesem eine Säule mit Schiffsschnäbeln, für den Sieg über die türkische Flotte im Meerbusen von Tschesma (1770), wo er den Oberbefehl hatte. Früher befand sich auch das kaiserliche Lyceum hier, in welchem unter andern russischen Zelebritäten der berühmteste russische Volksdichter, Alexander Puschkin, seine Bildung erhielt. Selten wird wohl ein Fremder St. Petersburg verlassen, ohne Zarskoje Seló mit allen seinen Herrlichkeiten besucht zu haben. Nur für mich hatte dieser Ort jetzt keinen Reiz; ich sehnte mich nach den Kibitken, diesen elenden Fuhrwerken. Aber wo waren sie? Das wird die Zeit lehren! Also hat der Mann dich wirklich belogen! seufzte ich, einsam meine Schritte nach Zarskoje richtend. Dass er dich belogen hat, entscheidet für dein Schicksal, ob für dein gutes oder böses, das wird die Zeit lehren, so sprach eine ahnungsvolle Stimme in mir.

Vor Zarskoje Seló sah ich mehrere Wege, und da sie mir ganz unbekannt waren, wollte ich nicht weiter gehen, sondern beschloss, hier auf Herrn Röhr und seine Kibitken zu warten. – Ich setzte mich nieder und dachte über Folgendes nach: Er hat dich zwar auf diesem Wege vorausgeschickt – Zarskoje liegt nun vor dir; wenn es aber noch einen andern Weg gibt, der von dieser Straße abführt, und er ihn einschlüge, so könntest du hier lange auf ihn warten. – Indem ich so in Gedanken versunken dasaß, ging mir ein Offizier der Garde-Kavallerie vorüber und diesen redete ich in deutscher Sprache an. Der Offizier betrachtete mich einige Augenblicke schweigend, dann sagte er auf schwedisch, dass er nicht deutsch spreche. Ich fragte ihn also in schwedischer Sprache, die ich damals so ziemlich sprach, wobei mich das Dänische sehr unterstützte. „Ich bin erst vor Kurzem aus Finnland hierher gekommen und kann Ihnen gar keinen Bescheid über das geben, was sie wissen möchten, so gern ich’s auch täte; aber ich will Sie zu unserem Rittmeister führen, der ist ein deutscher Graf, und was mehr ist – er ist ein ganz vortrefflicher Mensch“, sagte der Offizier in einem überaus herzlichen Tone. Es war schon neun Uhr Abends. Der Rittmeister ist ein ganz vortrefflicher Mensch, folglich auch ein vernünftiger Mann, er wird dir mit Rat und Tat beistehen, so dachte ich und ging mit dem Offizier.

Quelle: http://www.lexikus.de/bibliothek/Russisches-Leben–6-Die-seltsame-Verkettung-der-Umstaende

COMMENTS