Neues Altes vom Lexikus-Verlag – Russisches Leben – 19. Das unverhoffte Glück

Neues Altes vom Lexikus-Verlag – Russisches Leben – 19. Das unverhoffte Glück

Aus: Russisches Leben in geschichtlicher, kirchlicher, gesellschaftlicher und staatlicher Beziehung. Nebst Reisebildern aus Russland während des ersten Erscheinens der Cholera.

Autor: Simon, Johann Philipp (?-?),

Erscheinungsjahr: 1855

Themenbereiche Russland Enthaltene Themen: Russland, Russen, Glücksspiel, Kartenspiel, Sittenbild, Zeitvertreib

„Lasst uns um des Kaisers Bart spielen“, sagt man in Deutschland, wenn man ein Spiel zum bloßen Zeitvertreib spielen will. In Russland aber sagt man bei solcher Gelegenheit: „Lasst uns auf Scheremetjews Rechnung spielen.“

Scheremetjew war vor Zeiten der reichste aller russischen Gutsbesitzer, und deshalb mag denn auch sein Name Anlass zu diesem Sprichwort gegeben haben. Nun wollen wir den gemütlichen Alten selbst erzählen lassen: „Es war gegen Winter, als ich einmal eine Reise nach Pultáwa machte. Ein heftiges Schneegestöber überfiel mich auf dem Wege und nötigte mich, auf der nächsten Poststation das Unwetter abzuwarten. Ich mochte eine Viertelstunde in dem elenden Stübchen des Stanzionüsmotritels (Poststationsaufsehers) gesessen haben, als ein anderer Reisender, ein junger Mann, angefahren kam, den das Scheegestöber ebenfalls nötigte, hier zu verweilen. Der junge Mann schien in der schönen Tugend, in der Geduld, noch nicht geübt zu sein, wie das bei jungen Leuten gewöhnlich der Fall ist.

„Es ist zum toll werden! ich vergehe hier vor langer Weile“, sagte er zu mir, als er kaum zehn Minuten hier gesessen hatte; „ich sollte so schnell als möglich nach St. Petersburg reisen, und nun hält mich das verwünschte Wetter in diesem elenden Stübchen gefangen.“

„Man muss Gott für Alles danken“, sagte ich zu ihm, „denn wer weiß, ob das für unsere Reise so ungünstige und für unser Gefühl so höchst unangenehme Wetter nicht zu unserem Wohl von Gott angeordnet ist.“ Jetzt erzählte ich dem jungen Manne so Manches aus meinem Leben, wo gerade dasjenige, das ich Anfangs als mein Unglück betrachtete, die Quelle meines Glückes war. Möchten wir doch niemals den Glauben verlieren, dass Gott die ewige Liebe, Weisheit und Allmacht ist, dann würden wir in jedem Missgeschicke unseres Lebens die Gewissheit haben, dass Alles, was uns Widerwärtiges begegnet, vorausgesetzt, dass unser Wille gut ist, zu unterm Wohl gereicht, wo nicht für dieses arme Leben, so doch gewiss für jenes Leben, das hinter dem Grabe beginnt. Gott kann kein Stiefvater gegen diejenigen seiner Kinder sein, die da meinen, sie seien vor vielen andern die unglücklichsten. Er liebt uns Menschen in gleichem Maße, und scheint auch Einer vor dem Anderen viel glücklicher zu sein, so bleibt doch der alte Satz wahr: dass nur im Glauben und in der Ergebung zu Gott wahres Glück existiert.“

„Wenn Sie nahe am Verhungern wären“, fiel mir der junge Mann in die Rede, „und es käme Jemand, der mit seiner Moral Ihnen vordemonstrieren wollte, dass dieser, Ihr bitterster Mangel, vielleicht die Quelle Ihres Glückes sei, wie würden Sie das aufnehmen? Sie würden sagen: gib mir zu essen, das ist mir lieber als all Ihre Moral! Ein Ähnliches möchte ich Ihnen jetzt antworten . . . Ich bin zwar dem Verhungern nicht nahe, aber dass mich das Galgenwetter hier fest gebannt hat, ist mir eben so peinlich, als es meinen Familienverhältnissen, in mehr als einer Hinsicht, nachteilig ist. Wie sollte ich dafür dem lieben Gott danken, da ich besser weiß als ein Anderer, welche Eile meine Reise nach St. Petersburg erheischt! Im Gegenteil, ich würde, wenn ich es im Stande wäre, dem lieben Gott den Prozess machen, dass er das Schneegestöber herabgesendet, um mich in meinem Fluge zu hemmen.“– Weit entfernt, über das trotzige Wesen dieses jungen Menschen aufgebracht zu sein, bedauerte ich ihn von Herzen, denn er schien mir sehr unglücklich zu sein, was er auch wirklich war, wie ich späterhin erfuhr, denn seine Familie hatte durch einen harten Schicksalsstreich ein großes Vermögen eingebüßt. „Aber wollen wir uns nicht mit Kartenspielen die Zeit ein wenig vertreiben?“ sagte er nach einer kleinen Pause, „das wäre mir die liebste Unterhaltung, denn wenn ich meinen Gedanken nachhänge, sterbe ich hier vor Ungeduld.“ –

Also ein Spieler, dachte ich in meinem Sinn. Ein Feind alles Kartenspiels, lehnte ich einen Vorschlag höflich, aber mit Bestimmtheit von mir. Wir saßen darauf einige Minuten schweigend da, als ein dritter Passagier, ein freundlicher und einfach gekleideter Mann, den ich für den Haushofmeister einer vornehmen Herrschaft ansah, zu uns hereinkam. „Ach, Gott, welch unfreundliches Wetter!“ sagte er, als er uns freundlich gegrüßt hatte. Er setzte sich neben uns, wir waren uns einander ganz fremd. Schien mir der junge Mann unglücklich zu sein, so kam mir dieser dagegen recht glücklich vor. Mit Wohlgefallen betrachtete ich das freundliche, heitere Gesicht dieses Mannes; ein anmutiges Lächeln bewegte beständig seine schönen Lippen. Der ist gewiss im Stande, seinen Herrn, und wenn es auch ein alter Grillenfänger wäre, angenehm zu unterhalten und zu erheitern, dachte ich bei mir selbst. Wir unterhielten uns, indem wir über dies und jenes sprachen. Der Mann war sehr beredet, und in allem, was er sprach, lag viel Charakter. Aus den verschiedenen Fragen, die er auf eine schonungsvolle Art an den jungen Mann richtete, ging hervor, dass er dessen unglückliche Familie dem Namen nach kannte. Es trat ein kleines Schweigen zwischen uns ein, das durch den zudringlichen Kartenspieler unterbrochen wurde.

„Ist Ihnen vielleicht gefällig, eine Partie zu machen?“ fragte der Spieler den Mann mit der lächelnden Miene; „dieser Herr da mag nicht spielen“, fügte er hinzu und deutete auf mich. „Beim Kartenspiel vergeht die Zeit noch ein Mal so schnell, das Schneegestöber lässt noch nicht nach, und es ist unmöglich, in den Stürmen des Windes eine Werst weit zu fahren. Ist Ihnen gefällig, mit mir zu spielen.“

„Meinetwegen! aber wie hoch wollen Sie spielen?“ – fragte der Mann mit der lächelnden Miene, und mir schien, dass der Zustand seiner Kasse das Spielen weniger gestatte, als seine Gefälligkeit, den Wunsch des jungen Menschen zu erfüllen, „aber wie hoch wollen Sie spielen?“ fragte er lächelnd. „O, mir ist es gar nicht ums Gewinnen zu tun! antwortete jener zu meinem größten Erstaunen; „ich möchte nur zum bloßen Zeitvertreib spielen, im Fall Solches einiges Interesse für Sie hat. Also auf Scheremetjews Rechnung! Ist es Ihnen gefällig?“ –

„Meinetwegen auch auf Scheremetjews Rechnung!“ antwortete der freundliche Mann. Der Stanzionüsmotritel, der das Gespräch mit anhörte, hatte schon die Karten bei der Hand; denn mit solchen, mir immer verhasst gewesenen Gebetbüchern, die aus 52 Blättern bestehen, kann der Poststationsaufseher zu jeder Zeit aufwarten, die Karten gehen nie bei ihm aus, weil er, dem allgemeinen Gebrauche in Russland zufolge, mehr als das Doppelte des Einkaufpreises dafür erhält. Das Spiel begann, und ungeachtet meines Widerwillens gegen alles Kartenspiel, konnte ich nicht unterlassen, mich neben den Mann mit der lächelnden Miene zu setzen und seine Karten anzuschauen. Schweigend sah ich dem Gang des Spieles zu.

Quelle: http://www.lexikus.de/bibliothek/Russisches-Leben–19-Das-unverhoffte-Glueck

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