Morbidität und Mortalität: Wie kann man die Russen von der Impfung gegen Covid-19 überzeugen© Irina Shyhmchak

Morbidität und Mortalität: Wie kann man die Russen von der Impfung gegen Covid-19 überzeugen

Am Donnerstag starben 1.064 Russen an den Folgen des Coronavirus, die höchste Zahl, die jemals bei der Pandemie in Russland verzeichnet wurde. Mindestens bis zum 7. November wird die Regierung ab Samstag ein regelmäßiges „arbeitsfreies Regime“ einführen. Russland ist, selbst wenn man die offiziellen Zahlen berücksichtigt, nach wie vor weltweit führend bei der Zahl der Menschen, die täglich an dem Coronavirus sterben. In der Weltrangliste bei der Zahl der geimpften Menschen liegt Russland mit einer stagnierenden Durchimpfungsrate von rund 30 Prozent in der Weltrangliste weit hinten.

Dass eine Massenimpfung die einzige Möglichkeit ist, die nächste Viruswelle zu überleben, steht für praktisch alle Ärzte und Experten außer Zweifel. Der Soziologe Denis Wolkow, Direktor des von den russischen Behörden als „ausländischer Agent“ eingestuften Meinungsforschungsinstitutes Lewada, äußerte sich im Rahmen eines Interviews zu den Gründen der mangelnden Bereitschaft der Russen, sich gegen das Coronavirus zu impfen zu lassen und wie sich diese Situation umkehren lässt.

Das Erreichen einer Impfquote, die mindestens dem europäischen Durchschnitt entspricht, ist in Russland nur durch strenge administrative Maßnahmen in Verbindung mit einer breiten Kampagne möglich. Sollten selbst diese Maßnahmen nicht helfen, läge das an dem Doppelspiel der russischen Propaganda, die versucht hat die Impfung im Westen zu diskreditieren und gleichzeitig für Sputnik zu werben. Das habe selbst unter regierungstreuen Russen Zweifel an der Notwendigkeit einer Impfung gesät. Dieses Problem wird von einem anderen, grundlegenderen Problem überlagert: dem traditionellen Misstrauen der Bevölkerung gegenüber den Behörden.

Erhebungen des Lewada-Zentrums aus dem April und Juli zeigen, dass die Einstellung der Russen zur Impfung lange stabil war. Erst zu Beginn des Sommers, als eine groß angelegte Kampagne begann, kam ein wenig Bewegung in die Sache, und es sprachen etwas mehr Menschen über ihre Bereitschaft, sich impfen zu lassen. Im April, waren weniger als 10 Prozent der Bevölkerung in Russland vollständig geimpft, eher sogar nur 5 Prozent. Jetzt sind es etwas mehr als 30 Prozent, aber die Zahl der täglichen Todesopfer lag selbst nach offiziellen Angaben damals bei etwa 100, jetzt ist sie zehnmal höher.

Aber im Allgemeinen möchte die Mehrheit nicht geimpft werden – etwa 50 Prozent. Weil sie der russischen Führung weder glauben, dass es sich um eine gefährliche Krankheit handelt, noch, dass der Impfstoff hilft. Warum löst die katastrophale Morbiditäts- und Mortalitätsrate des Coronavirus bei den Russen nicht den Wunsch aus, sich impfen zu lassen?

Wolkow führt mehrere Gründe an, warum ist das so? Erstens besteht in einigen Fragen ein großes Misstrauen gegenüber den Behörden. Bis zu 40 Prozent glauben generell nicht an die Maßnahmen der Behörden und unterstützen sie nicht – seien es Impfungen, elektronische Wahlen oder die Installation von Kameras. Die Menschen, die den Behörden nicht vertrauen, lehnen jede Initiative von oben ab. Zweitens gab es in Russland eindeutig nicht genügend Beispiele von Amtsträgern, einschließlich des Präsidenten und der Gouverneure, die sich vor laufenden Kameras impfen ließen, um zu zeigen, dass dies wichtig ist, dass sie es selbst tun, dass es sicher ist und dass es notwendig ist.

Drittens gab es zu Beginn der Impfkampagne lange Zeit sehr widersprüchliche Informationen. Jemand sagt im Fernsehen, dass eine Impfung nicht notwendig ist, ein anderer sagt, dass die natürliche Immunität ausreicht, wir sollten sie also stärken, Atemübungen machen und so weiter. Von Anfang an gab es keine eindeutige Botschaft, dass die Impfung ein Muss sei, dass nur sie irgendwie schützen könne. Die Menschen waren verwirrt und viele sind es bis heute. Deswegen glaubt Wolkow, dass nur eine obligatorische allgemeine Impfung funktionieren kann. Dazu kann sich der Kreml noch nicht entschließen, weil er befürchtet, dass seine Beliebtheit sinkt. Es sei wichtig zu verstehen, dass die Mehrheit derjenigen, die sich nicht impfen lassen wollen, nicht die so genannten „Impfgegner“ sind, sondern Menschen, die sich nicht entscheiden können, die all den widersprüchlichen Informationen keinen Glauben mehr schenken und sagen, nein, warten wir ab, lassen wir mehr Zeit verstreichen, lassen wir mehr Tests durchführen. Das geht nun schon ein seit einem Jahr so und es hat sich praktisch nichts geändert.

Zu Beginn der Impfkampagne waren die Signale widersprüchlich, aber seither ist viel Zeit vergangen. Putin hat bereits zu Protokoll gegeben, dass er von Sputnik geimpft wurde, und alle aufgefordert, dasselbe zu tun. Viele Beamte haben damit begonnen, unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu impfen, wie es ihre Kollegen im Westen tun, aber es funktioniert immer noch nicht. 

Der Lewada-Chef wurde gefragt, wie viele der 50 Prozent der Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen, prinzipientreue „Impfgegner“ sind, und wie viele zu denjenigen gehören, bei denen die Impfkampagne aus anderen Gründen nicht wirkt? Es ist schwer zu sagen, aber unseren Daten zufolge sind es wohl 15 Prozent derjenigen, die sich nicht impfen lassen wollen. Sie sind wirklich überzeugte Impfgegner, sie lehnen alle anderen Impfstoffe ab und wollen nicht, dass ihre Kinder geimpft werden. Aber in der Mehrheit sind diejenigen, die sich nicht entscheiden können und den heute gemachten Aussagen keinen Glauben schenken, weil sie früher andere Aussagen gehört haben.

Wolkow zufolge sagen etwa 35 Prozent der Menschen, dass sie sich „noch nicht“ impfen lassen wollen, weil sie sich noch nicht entschieden haben. Zuzüglich der bereits 30 Prozent Geimpften könnten weitere 20 Prozent hinzukommen können, so dass der endgültige Durchimpfungsgrad gegen das Coronavirus in Russland bei etwa 50 Prozent liegen würde. Das zu erreichen sei nicht „einfach“, aber zumindest auf absehbare Zeit ist es eine Ressource, die wir haben. Seit dem Sommer hat sich die Einstellung der Russen zur Impfung leicht zu ändern begonnen. Vor einem Jahr hatte die Zahl derjenigen, die sich kategorisch nicht impfen lassen wollten, bei 60 Prozent gelegen. Jetzt sind es 10 Prozent weniger. Man kann die Situation also ändern, man braucht nur viele Mittel und Überzeugungen und eine Informationskampagne, an der sich Beamte, der Präsident und Menschen beteiligen sollten, denen die Russen vertrauen, wie zum Beispiele Künstler, obwohl es unter den Künstlern viele gibt, die sich nicht impfen lassen wollen, weil sie auch nur Menschen sind wie alle anderen.

Die Strategie ’nur unser Impfstoff ist gut‘ sei „nach hinten losgegangen“, so Wolkow. Impfgegner hätten sich die Informationen, mit denen sie sich gegen die Impfung entscheiden,

aus öffentlichen Foren und Gruppen der „Hardcore“-Impfgegner besorgt. Dort finden man Dutzende von Links zu ausländischen Versionen des russischen Fernsehsenders Russia Today, wo die Notwendigkeit von Impfungen ständig in Frage gestellt wird und Fälle von Menschen, die nach der Impfung gestorben sind oder Komplikationen erlitten haben, kolportiert werden. Russland spielt eine Art doppeltes Spiel, indem es einerseits versucht, die Impfungen im Westen zu torpedieren, und andererseits mit Sputnik versucht, seine Bürger zum Impfen zu ermutigen. Auf die Frage, welche Rolle das jetzt bei der Zahl der Geimpften spiele, antwortete der Soziologe.

Ja, das spiele eine Rolle. Sie müssen nicht einmal zu Russia Today gehen. Die Strategie, zu sagen, dass nur unser russischer Impfstoff gut ist und alle anderen schlecht sind, also „lasst euch mit russischem Impfstoff impfen“, hat das Gegenteil bewirkt. Die Menschen in Russland und wahrscheinlich auch in gewissem Maße im Westen reagieren auf diesen ziemlich schmutzigen Wettbewerb mit Sarkasmus. „Ja, natürlich, die sind alle dumm, und nur wir sind so schlau.“ Die Schmutzkampagne gegen ausländische Impfstoffe hat ihre Wirkung gezeigt. Die Leute sagen nun, dass alle Impfstoffe schlecht sind, alles noch nicht ausgereift ist, dass alles weiter getestet und geprüft werden muss und dass wir erst dann vielleicht unserem eigenen Impfstoff vertrauen können. Deshalb muss die Wirksamkeit eines Impfstoffs sowohl auf europäischer als auch auf internationaler Ebene bestätigt werden. Natürlich wird dies nicht jeden sofort überzeugen, aber es wäre eines der Argumente: Seht her, die Weltgemeinschaft hat den russischen Impfstoff anerkannt, und wir haben andere Impfstoffe anerkannt. Dies würde den Menschen, die sagen, dass nichts fertig ist, nichts funktioniert und wir warten müssen, ein wenig die Angst nehmen. Es ist wichtig, die Botschaft zu vermitteln, dass man nicht länger warten kann, sondern sich jetzt impfen lassen muss.

Die Menschen, für die es eine Rolle spielt, ob sie sich mit Sputnik oder mit westlichen Impfstoffen impfen lassen, die in Russland noch nicht offiziell oder nur in sehr begrenzten Mengen erhältlich sind, bilden eine kleine Gruppe. Aber auch hier gilt: Wenn es ein Misstrauen gegenüber dem Impfstoff gibt, dann besteht ein Misstrauen gegenüber allen Impfstoffen. Aber es gibt ein paar Prozent, die bereit wären, sich mit einem ausländischen Impfstoff impfen zu lassen, und wahrscheinlich würden diese paar Prozent auch eine gewisse Wirkung haben.

Wolkow glaubt,  dass es eine Reihe von Maßnahmen gibt, die Russland auf einen Durchimpfungsgrad bringen könnten, der mit dem anderer europäischer Länder vergleichbar ist, das heißt knapp über 50 Prozent – Lockdown, eine Ausweitung der Kategorien der Bevölkerung, die der Impfpflicht unterliege sowie eine weitere Kampagne, um alle davon zu überzeugen, sich impfen zu lassen. „Das ist möglich, es dauert nur viel länger als in anderen Ländern, vor allem wenn man die Größe eines Landes wie Russland bedenkt. Man braucht also mehr und bessere Überzeugungsarbeit, man muss mehr Geld für die Kampagne ausgeben, vielleicht muss man irgendwo Zwang ausüben, und irgendwo muss man zusätzliche Optionen anbieten, wie zum Beispiel ausländische Impfstoffe. Wenn das Ziel darin besteht, einen Durchimpfungsgrad von 50 bis 60 Prozent zu erreichen, müssen all diese Maßnahmen kombiniert werden, aber das wird nicht einfach sein“, so der Direktor des Lewada-Zentrums.

Abschließend ein Blick in andere Länder: In Belarus wurde die medizinische Grundversorgung stark eingeschränkt. Lettland schließt Geschäfte, Restaurants und Schulen, man prüft nun auch die Zulassung des Corona-Impfstoffes der Hersteller BioNTech und Pfizer für Kinder.

Die Ukraine verzeichnete am Dienstag eine neue Rekordzahl mit 538 Todesfälle durch Coronavirus. In Rumänien bricht die Zahl der Infizierten und Todesfälle alle Rekorde. In Polen und in Tschechien wird zunehmend von einer neuen Welle gesprochen. Israel konnte den nächsten Ausbruch unter anderem durch Nachimpfung mit einer dritten Impfdosis von Vertretern von Risikogruppen unterdrücken.

In Portugal hingegen, wo mehr als 85 Prozent der Bevölkerung geimpft sind, wurden alle bisher eingeführten Beschränkungen zur Bekämpfung des Virus aufgehoben. Dänemark, Norwegen und Schweden, wo 70 bis 75 Prozent der Einwohner geimpft sind, streichen seit Montag sogar die Maskenpflicht auf Inlandsflügen und Flügen zwischen diesen Ländern – eine nach heutigen Maßstäben beispiellose Erleichterung, von der andere Länder nur träumen können.

[hrsg/russland.NEWS]

COMMENTS