Mein Moskau [33] – ‚Nur ’n bissken Höensonne könnt‘ er jebrauchen‘ (Fotos)

[Hanns-Martin Wietek] Dies ist das dreiunddreißigste Kapitel der Geschichte eines zweifachen Aufbruchs – eines persönlichen und eines Volkes –, erlebt und geschrieben in den Jahren 1992 und 1993.

Nachdem diese Geschichte jetzt schon Geschichte geworden ist, habe ich mich entschlossen, sie unverändert zu veröffentlichen – auch wenn ich das eine oder andere heute anders schreiben würde.

Vielleicht trägt die Geschichte dazu bei, dass die Menschen des Westens die russischen Menschen besser verstehen.

Die einzelnen Abschnitte erscheinen in loser Folge.
Alle Folgen finden Sie hier.

 

Auf dem Roten Platz vor dem Leninmausoleum stehen einige Menschen, der Kleidung nach zu urteilen, sind sicher die Hälfte davon Ausländer. Sie scheinen auf irgendetwas zu warten. Neugierig stelle ich mich zu ihnen.

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Etwa 150 m vom Mausoleum entfernt steht der höchste Turm der Kremlmauer (71 m), der Erlöser-Turm mit seiner großen Uhr, früher ‚die Hauptuhr der Sowjetunion‘ genannt. Jede Seite des Turmes hat ein Zifferblatt, das fast sechseinhalb Meter im Durchmesser misst. Der Turm ist mir vom Fernsehen gut bekannt, denn durch sein Tor sieht man immer die Regierungslimousinen in den Kreml einfahren.

Durch eben dieses Tor kommen zwei Soldaten und ein Offizier im Stechschritt Richtung Mausoleum.
Pünktlich zur Wachablösung vor dem Mausoleum schlägt die große Glocke der Uhr elfmal.
Nach der Wachablösung marschieren der Offizier und die alten Wachposten im Stechschritt, wieder zum Turm zurück.

Ohne es zu wissen, war ich genau richtig zur großen Wachablösung gekommen.
Ich frage mich, wie halten die beiden das nur aus? In dieser Kälte! Stramm stehen, ohne sich zu rühren! Diese trockene Kälte lässt sich zwar besser aushalten, aber im ‚Stillgestanden‘?

Da ich nun schon einmal hier bin, werde ich dem Herrn Lenin auch einen Besuch abstatten.

Schön in einer Reihe, einer nach dem anderen, werden wir eingelassen. Es darf nicht gesprochen werden, fotografiert natürlich schon lange nicht, die Kopfbedeckung muss abgenommen werden. Still und würdig, feierlicher als in jeder Kathedrale – sei sie katholisch, evangelisch oder russisch-orthodox – schreiten wir die breiten Treppen, immer einer hinter dem anderen, hinab in die marmorne Gruft, immer von Soldaten misstrauisch beäugt, die die geringste Unwürdigkeit sofort rügen.

Unten angekommen, treten wir ein in die kleine Halle des Mausoleums.
Der Raum liegt in einem würdevollen Halbdunkel. Über uns auf einem Podest steht der erleuchtete gläserne Sarkophag, in dem Lenin liegt.

Wir steigen gemessenen Schrittes die Treppen, die zu ihm hinauf führen, empor, werfen im Vorübergehen einen Blick auf ihn (stehenbleiben ist nicht erlaubt) und schreiten ebenso gemessen auf der anderen Seite des Sarkophags die Treppen wieder hinunter, um die Treppen ins Freie wieder hinaufzusteigen.

Ich muss gestehen, es ist schon ein merkwürdiges Gefühl, diesen Mythos als Körper – Mensch kann man ja nicht mehr sagen – zu sehen. Er hat wie nur wenige die Welt verändert.

Der Geist der Geschichte hat mich auch in diesem Raum berührt, was ich, wie an allen historischen Orten, fast körperlich zu empfinden meine.

Als wir der strengen Zucht dieser würdevollen Zeremonie entronnen sind, sagt eine Frau vor mir zu ihrem Mann in reinstem Berlinerisch:
‚Der sieht aus, als ob er jleich uffstehen wollte.‘
‚Nur ’n bissken Höensonne könnt‘ er jebrauchen‘, kommt die spontane Antwort.

Der Geist der Geschichte entflieht.

Ganz zu Ende ist das Ritual jedoch nicht: Wir dürfen jetzt nicht unseres Weges ziehen; wir müssen noch an der Kremlmauer hinter dem Mausoleum entlanggehen, wo alle noch bis zuletzt in Gnade stehenden ‚Heiligen‘ des Kommunismus ihre Gedenktafel, ihre Büste, vielleicht auch ihre Ruhestätte (ich weiß es nicht) haben. Hier ist allerdings kein würdevoller Schritt mehr Vorschrift. Ich erledige diesen Teil zwar nicht im Laufschritt, jedoch absolut pietätlos.

 

Ich muss mich beeilen; Elen wartet schon (hoffentlich), um mit mir auf dem Rinok, zu Deutsch: Markt, einkaufen zu gehen. Wir werden gemeinsam kochen und heute Abend bei mir essen.

Dieser Rinok, Moskau hat mehrere, ist ein großes Zirkuszelt aus Stahl und Glas. Hier verkaufen Bauern und Händler alles, was man sich denken kann. Es ist, ein privater Markt, für viele Einheimische sind die Preise unerschwinglich; für Devisenbesitzer (Dollar oder DM) bei dem jetzigen Umrechnungskurs oder für Leute mit Geld ist es jedoch ein Schlemmer­paradies.

Nachdem ich für ein Kilo Rindslende 3 Mark, für Eier 2 Pfennige, für einiges anderes ebenfalls Pfennigbeträge ausgerechnet habe, höre ich auf, umzurechnen.

Wir kaufen ein! Ich lerne Obst, Gemüse und Gewürze aus Georgien, Kasachstan, Usbekistan und, und, und kennen, deren Namen ich noch nicht einmal gehört habe. Ich befinde mich fast, in einem Kaufrausch!

Zuhause kochen wir gemeinsam und essen gemeinsam.
Was feiern wir?

 

Die letzten Tage in Moskau sind – es klingt banal, aber es ist so – wie im Flug vergangen.

Wieder sitze ich, zum vierten Mal innerhalb von drei Wochen, auf meinem Bett im 1. Klasse Abteil, Schlafwagen, diesmal Praga-Express, 1910 Uhr ab Moskau über Warschau und Prag nach Nürnberg. Aber heute bin ich nicht allein! Elen ist bei mir.

Sie wird in München, Nürnberg und vielleicht auch noch anderen Orts in Bibliotheken Literatur nachlesen, die in der Lenin Bibliothek in Moskau nicht vorhanden ist.

Und diesmal ist es auch eine Reise mit Hindernissen, denn wir müssen in Etappen reisen.

Bis Prag war an diesem und den nächsten Tagen in den russischen Wagen kein 1. Klasse Abteil mehr frei. In den polnischen Wagen des Zuges ist noch viel Platz; sie werden aber nur bis Warschau oder Breslau mit geführt. In Warschau müssen wir uns dann einen polnischen Zug bis Prag suchen und von dort nach Nürnberg gibt es sicher keine Probleme.

Nachdem ich die Massen an Gepäck gesehen habe, die in den Zug eingeladen worden sind, wundert es mich jetzt nicht mehr, dass wir kein Abteil bis Prag mehr bekommen haben.

Eine ganze Anzahl von Leuten, wahrscheinlich Händler, haben alle Karten eines Abteils gekauft, und das Abteil von oben bis unten mit Gepäck zugepackt – das ist dann wohl das ‚persönliche Handgepäck‘! – und sie selbst haben eine Karte für das Nebenabteil.

Da russische Staatsbürger für diese Reise in der 1. Klasse nur etwa 100 DM bezahlen, ist der Transport der Ware auf diese Weise immer noch billiger, aber vor allen Dingen sicherer, als auf irgendeine andere Art und Weise. ‚Gewusst wie!‘
Vielleicht haben sie ja auch am Schalter und beim Schaffner „Special“-Fahrkarten gekauft oder den Preis mit guten Sachen „aufgewertet“.
‚Manus lavat manus‘ (eine Hand wäscht die andere) haben die Römer gesagt.

Nun, mir soll es recht sein; wir werden auf diese Weise in Warschau und Prag die Reise unterbrechen und die Städte besichtigen, eine Gelegenheit, die Elen bisher noch nicht, hatte.

Wir haben unser Gepäck auf den uns zur Verfügung stehenden drei Quadrat­metern glücklich so verstaut, dass wir nicht, andauernd mit einem Fuß in irgendeinem Koffer stehen – wie schön großzügig war dagegen doch mein Abteil im Dukla-Express, fast doppelt so groß!

Elen hat sich auf der ‚Pritsche‘ unter mir schlafen gelegt, und ich habe Zeit, die Ereignisse der vergangenen Tage noch einmal an mir vorbeiziehen zu lassen.

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