Mein Moskau [29] – Stunde der Wahrheit (Fotos)

[Hanns-Martin Wietek] Dies ist das neunundzwanzigste Kapitel der Geschichte eines zweifachen Aufbruchs – eines persönlichen und eines Volkes –, erlebt und geschrieben in den Jahren 1992 und 1993.

Nachdem diese Geschichte jetzt schon Geschichte geworden ist, habe ich mich entschlossen, sie unverändert zu veröffentlichen – auch wenn ich das eine oder andere heute anders schreiben würde.

Vielleicht trägt die Geschichte dazu bei, dass die Menschen des Westens die russischen Menschen besser verstehen.

Die einzelnen Abschnitte erscheinen in loser Folge.
Alle Folgen finden Sie hier.

 

Vor Aufregung ist mir richtig warm geworden. Und das ist gut so, denn diesmal scheint die Heizung wirklich nicht zu ‚arbeiten‘. Oder ist es nur der Schlafwagenschaffner, der nicht arbeitet? Vielleicht denkt, er, dass es sich nicht lohnt, nur für einen Passagier zu heizen.

Er erklärt mir wortreich, weshalb es nicht warm wird; ich verstehe kein Polnisch, ich verstehe nur ‚kaputt‘.

Mit einigen Schlucken der russischen Wundermedizin und in drei Decken eingehüllt, werfe ich mich in Orpheus‘ Arme.

 

Am nächsten Vormittag nähern wir uns der Grenze. Die Stunde der Wahrheit bricht an. Hoffentlich bricht sie nicht über mich herein!

Ein russischer (weißrussischer?) Grenzbeamter begrüßt mich freundlich und bittet um meinen Pass, alles natürlich auf Russisch, soviel verstehe ich in der Zwischenzeit.

Er fragt nach meinem Visum. Ich antworte, dass ich kein weißrussisches Transitvisum habe und eines kaufen möchte.

Er brummt etwas, wird um einen Grad unfreundlicher, sieht sich meinen Pass mit dem ukrainischen Transitvisum an und bedeutet mir, dass das ja schon lange abgelaufen sei.

Verdammt, das habe ich bei meinen Überlegungen vergessen, es war nur für drei Tage gültig und irgendwo muss ich ja in der Zwischenzeit gewesen sein. Geistesgegenwärtig zücke ich meine Einladung für Russland, mit der ich mein Visum erhalten habe.

Er liest sie sich genau durch, scheint jetzt vollends verwirrt, brummt etwas, nimmt alles mit und verschwindet.
Wenn das mal gut geht!

Der Zug setzt sich wieder in Bewegung, wir werden jetzt  zum Räderwechsel geschoben.

Spurwechsel

Spurwechsel

In einer Halle, auf drei nebeneinander liegende Gleise verteilt stehen Wagen unseres Zuges, jeder Wagen in einem bestimmten Abstand zum nächsten. Arbeiter ziehen in jedem ersten und letzten Abteil eines Waggons ein Rohr von etwa 20 bis 30 cm Durchmesser aus dem Fußboden und außen werden einige Schläuche gelöst. Das scheint die ganze Verbindung zwischen den Doppelachsen am Anfang und am Ende eines jeden Wagens und dem Wagenaufbau zu sein.
Ich erschrecke.
Wenn ich an das Geschüttle, Gerüttle und Gehüpfe auf der Hinfahrt im Dukla-Express denke!
Aber es ist ja eigentlich logisch! Die Räderachsen müssen sich in den Kurven unter den Waggons bewegen können, sonst, würde der Wagen in einer Kurve stecken bleiben!
Mich überkommt, aber trotzdem ein ungutes Gefühl, wenn ich an das bisschen Verbindung denke.

Unter die vier Wagenecken greifen Arme einer hydraulischen Hebevorrichtung, sie sehen wie überdimensionierte Wagenheber aus, und langsam werden wir ungefähr zwei Meter in die Höhe gehoben.

Spurwechsel

Spurwechsel

Nachdem alle Wagen eines Gleises in der Höhe schweben, werden alle Achsen darunter weggezogen, die neuen folgen sofort anschließend. Die Wagen werden wieder heruntergelassen, die Verbindungen festgemacht und wir verlassen auf denselben Schienen, auf denen wir gekommen sind, die Halle.

Die russische Spur ist 10 cm breiter, als die im übrigen Europa. Wie können wir dann mit den schmaleren Achsen auf den Schienen der breiteren Spur fahren?

Ganz einfach: die Auflagefläche beider Räder auf den Schienen beträgt mehr als diese 10 cm, sodass die breiteren Achsen vollständig, die schmaleren Achsen jedoch nur mit der äußeren Hälfte der Räder aufliegen. Damit sich die Räder aber nicht vollständig auf eine Seite verschieben, d.h. ein Rad ganz aufliegt und das andere von der Schiene rutscht, sind an der Innenseite zusätzliche Schienen verlegt, die die Räder immer in der Mitte halten. Nach Westen zu verjüngen sich dann die Gleise, sodass auch die schmaleren Achsen wieder ganz aufliegen. Das ist das ganze Geheimnis!

Wir rollen wieder in den Bahnhof ein.
Ich habe mich schon mal besser gefühlt. Essen könnte ich jetzt nichts!

Mein Grenzer wartet schon. Er kommt in mein Abteil – unsicherer, wie mir scheint – und sagt fast entschuldigend, dass ich ein Visum haben muss.
Aus der Traum, denke ich, und will schon nach meinem Visum greifen, da fordert er mich auf mitzukommen; ein Schrecken fährt, mir in die Glieder, und dann sagt er ‚Transitvisum‘! Ich wäre ihm am liebsten vor Freude um den Hals gefallen. Er gibt mir meinen Pass – den Zehndollarschein, den ich vorsorglich in meinen Pass gelegt hatte, muss er wohl unterwegs irgendwo „verloren“ haben – und geht mit  mir an einen Schalter, an dem ich für 30 $ ein Transitvisum in meinen Pass gestempelt bekomme.
Heureka!

Erst als der Zug sich danach endlich Richtung Westen in Bewegung setzt, kann ich glauben, dass ich es tatsächlich geschafft habe.
Ich führe einen Freudentanz auf.
Der Schaffner muss mich für verrückt halten.

 

Die ’sozialistischen Bruderstaaten‘ scheinen aber kein sehr großes Vertrauen zueinander gehabt zu haben: Auch hier ist die Grenze befestigt, als ob auf der anderen Seite der Todfeind stünde.

In Terespol, der polnischen Grenzstation, stempelt der Grenzer meinen Pass fast ohne ihn anzuschauen.
Der Zollbeamte fragt nur ‚Deutscher?‘ und geht weiter.

Ich stehe noch einige Zeit am Fenster, versuche herauszubekommen, warum mir hier alles viel westlicher erscheint und erfreue mich an den vielen vorbeiziehenden Birkenwäldern.

Merkwürdig. Kaum sind wir über der Grenze, wird meine Heizung warm.
Egal, was soll’s.

 

Erinnerungen werden wach … hier war ich doch schon einmal.

 

 

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