Mein Moskau [26] – Abenteuer Fahrkarte

[Hanns-Martin Wietek] Dies ist das sechsundzwanzigste Kapitel der Geschichte eines zweifachen Aufbruchs – eines persönlichen und eines Volkes –, erlebt und geschrieben in den Jahren 1992 und 1993.

Nachdem diese Geschichte jetzt schon Geschichte geworden ist, habe ich mich entschlossen, sie unverändert zu veröffentlichen – auch wenn ich das eine oder andere heute anders schreiben würde.

Vielleicht trägt die Geschichte dazu bei, dass die Menschen des Westens die russischen Menschen besser verstehen.

Die einzelnen Abschnitte erscheinen in loser Folge.
Alle Folgen finden Sie hier.

 

Über eine Woche lebe ich nun schon hier in Moskau.
Langsam ist das Gefühl, in einer unbegreiflichen Fremde zu sein, gewichen; ich beginne mich allein zurechtzufinden, werde immer selbständiger und habe keine Angst mehr, ohne ‚Blindenhund‘ das Haus zu verlassen. Und gerade jetzt muss ich meine Abfahrt vorbereiten.

In vier Tagen findet ein großes Familientreffen in Oberschlesien statt. Von dort stammt meine Mutter, dort haben meine Eltern geheiratet, und dort wollen wir gemeinsam mit allen Verwandten aus Ost und West auch ihre Goldene Hochzeit feiern.

Unwiderruflich heißt es daher morgen, Abschied nehmen!

Tanja und ich sind auf dem Weg zum Kiewer Bahnhof, um meine Fahrkarte nach Breslau, diesmal über Brest und Warschau, zu kaufen. Danach will ich noch einige Geschenke für meine Töchter besorgen, und danach treffe ich mich mit Elen und Natascha, um eine Mineralienausstellung zu besichtigen.

Natascha rief nämlich heute Morgen noch an und bat mich, mit  Elen einen Termin zu vereinbaren, damit wir gemeinsam eine Mineralienausstellung besuchen.
Treffpunkt Metrostation Universität, am Anfang der Züge, die aus der Stadt kommen, 14.00 Uhr. Ein Treffpunkt, an dem man sich nicht verfehlen kann.

Der tägliche Wetterbericht:
Es ist noch wärmer geworden, + 5°C – viel zu warm für diese Jahreszeit in Moskau, wie alle sagen – und es regnet.
Die Straßen Moskaus werden zu kleinen Teichen; die Unmengen Schnee schmelzen, das Wasser sammelt sich in jeder Vertiefung – und davon gibt es viele. Die festgetretenen Schneedecken sind spiegelglatt und von der Straße ergießen sich in schöner Regelmäßigkeit Wasserfontänen auf die Gehwege. Wir werden daher mit dem Taxi fahren.

Taxi fahren ist in Moskau einfach:
Wir stellen uns deutlich sichtbar neben oder auf die Straße, halten den Arm heraus, und schon hält eines der nächsten Autos. Es ist kein Taxi sondern ein Privatfahrzeug.

Tanja nennt unser Ziel, der Fahrer überlegt, nennt seinen Preis, wir sind einverstanden und steigen ein.

Wäre der Umweg für ihn zu groß, oder wären wir mit, seinem Preis nicht einverstanden gewesen, würden wir ganz einfach den Fahrer des nächsten Wagens fragen, denn der steht schon dahinter und wartet für den Fall, dass wir mit dem ersten nicht einig werden.

Es gibt zwar offizielle Taxen mit gelb-braunen schachbrettmusterartigen Streifen an den Seiten, die sind aber selten und teurer. Und auch deren Preis richtet sich nicht nach einem Taxameter, denn das ist noch auf Kopeken eingestellt, und für Kopeken kann man heute nur noch telefonieren, und das auch nur, weil die Münzautomaten nicht umgestellt werden können.

In der Schalterhalle des Kiewer Bahnhofs sind drei Schalter für den internationalen Verkehr reserviert.

Gleich am ersten versuche ich mein Glück auf Englisch; es geht reibungslos; ich erhalte alle notwendigen Auskünfte. Als ich jedoch meine Fahrkarte haben möchte, verweist mich die Dame an einen der beiden anderen Schalter, sie ist nur für Auskünfte zuständig. Der Nachbarschalter ist frei; ich trage mein Anliegen erneut vor. Sie spricht nur russisch, versteht mich nicht, und ich verstehe nur ’nje rabotet‘.

Der nächste Schalter ‚rabotet‘ deutlich sichtbar, denn hier ist ‚otscherit‘.
‚Bitte warten.‘ Das kann aber nicht schlimm werden, denn es sind nur drei Personen vor mir. Trotzdem geht es nicht vorwärts.
‚Die scheint jeden Kilometer mit dem Rechenschieber auszurechnen!‘

Als nach einer Viertelstunde endlich der erste abgefertigt zu sein scheint und die Schlange weiterrückt, kommen nacheinander zwei Männer, die sich dreist vor mir an zweiter und dritter Stelle einordnen; jetzt bin ich plötzlich Nummer fünf!

Mir schwillt der Kamm, ich bin dabei, unfreundlich zu werden; Tanja hält mich jedoch zurück:
„Hans, das ist schon richtig, die beiden waren schon eher da, sie sind nur in der Zwischenzeit weggewesen.“
Nun denn.

Der, den ich für abgefertigt, hielt kommt wieder zurück, drückt sich vorn an den Schalter und jetzt bin ich Nummer sechs!
„Er war nur gegangen, um seine Fahrkarte zu bezahlen; jetzt holt er mit der Quittung die Fahrkarte.“

Nach einer weiteren halben Stunde steht die Dame hinter dem Schalter auf, zieht den Vorhang zu und geht. Ich koche!

„Was ist denn nun wieder los!?“
„Ruhig bleiben Hans, jetzt ist fünfzehn Minuten Teepause.“

Während wir wie geduldige Schafe auf das Ende der Teepause warten (Rauchen ist nicht erlaubt), kommt flotten Schrittes ein älterer Herr herein, murmelt irgendwas Unverständliches und stellt sich als Erster an den Schalter. Das lasse ich mir nicht bieten und bedeute ihm, dass sein Platz am Ende der Schlange sei. Er grantelt zurück, und ich verstehe nur ‚Invalide‘.
Ich resigniere, ich schalte ab, sonst kann ich mich nicht mehr beherrschen.

Nach zweieinhalb Stunden ist es mir gelungen, für 102 $ eine Fahrkarte, Schlafwagen 1. Klasse, nach Breslau zu erstehen!
‚O heilige Bürokratia‘

Und Tanja steht lächelnd daneben und sagt, immer nur:
„Hans, ruhig! Eta normalna.“

Ich beschließe, eine Revolution anzuzetteln:
„Nieder mit, der Bürokratie! Bürger aller Länder vereinigt Euch!!!“

COMMENTS