Mein Moskau [24] – Der Aufbruch

[Hanns-Martin Wietek] Dies ist das vierundzwanzigste Kapitel der Geschichte eines zweifachen Aufbruchs – eines persönlichen und eines Volkes –, erlebt und geschrieben in den Jahren 1992 und 1993.

Nachdem diese Geschichte jetzt schon Geschichte geworden ist, habe ich mich entschlossen, sie unverändert zu veröffentlichen – auch wenn ich das eine oder andere heute anders schreiben würde.

Vielleicht trägt die Geschichte dazu bei, dass die Menschen des Westens die russischen Menschen besser verstehen.

Die einzelnen Abschnitte erscheinen in loser Folge.
Alle Folgen finden Sie hier.

 

Bei Igor Fedorowitsch lasse ich mich in einen Sessel plumpsen, strecke die Beine von mir und döse vor mich hin, während die anderen das Essen auftragen. Ich scheine Narrenfreiheit zu haben, denn mein unmögliches Benehmen – oder findet, man es vielleicht, sogar gut, dass ich mich wie zu Hause fühle? – wird nur mit dem Satz „Hans ist  müde“ beiläufig erwähnt.

Es wird aufgetischt! Und diesmal gibt es keinen Grund, mit Wodka sparsam umzugehen, diesmal wartet, keine Kirche! Langsam kehren meine Geister wieder.

Es wird lustig. Und wenn es lustig wird, muss zumindest, in einem so musikalischen Kreis gesungen werden.

Tanja holt ihr Akkordeon und wir singen russische Weisen; zwischendurch muss ich deutsche Volkslieder singen, gemeinsam singen Nikolai und ich – zwei dröhnende, mittlerweile alkoholisierte Bässe – was uns in den Sinn kommt. Dass die Nachbarn nicht mit heftigen Klopfzeichen antworten, wundert mich, denn es geht jetzt doch schon gegen ein Uhr.

„Nein, Hans, die hören doch gern zu; vielleicht kommt noch jemand von ihnen, der mitfeiern will.“
Naja, ich weiß nicht recht.

Um ein Uhr machen wir uns auf den Weg, nur ein Viertelstündchen zu Fuß; laut singend, um nicht zu sagen grölend, ziehen wir, Nikolai am Anfang der Gruppe, ich am Ende, durch die stillen, nächtlichen Straßenschluchten Richtung Heimat. Als wir in unsere Straße einbiegen, erschrecken wir einen Schwärm Krähen (oder sind es Raben, ich weiß es immer noch nicht), die laut kreischend – könnten wir ‚krähisch‘, würden wir sie schimpfen hören – aus ihren Schlafbäumen auffliegen.

Gute Nacht!

 

Die Führung

Der tägliche Blick auf das Wetter:

Über Nacht ist es wärmer geworden – jetzt, wo ich meinen dicken Wintermantel endlich habe; es ist nur noch knapp unter null Grad, dafür schneit es heftig, so heftig, dass man die gegenüberliegende Straßenseite kaum erkennen kann. Riesen-Schneeflocken, so groß wie kleine Wattebällchen, haben aus uns binnen fünf Minuten wandelnde Schneemänner gemacht.

Jane und ich sind auf dem Weg zum Oktjabrskaja Platz. Dort am Lenindenkmal werden wir Nataschas Freundin, die Kunsthistorikerin, treffen; sie wird uns einige Sehenswürdigkeiten zeigen.

Zu Füßen Lenins (wie sinnig!) stehen wir im Schneegestöber und warten.
Lenin ist etwa zehn Meter groß und hat seinen festen Blick in die ferne glückliche Zukunft gerichtet; was sich zu seinen Füßen abspielt, kann er nicht sehen, so starr ist sein Blick in eine ferne „bessere“ Zukunft gerichtet – vielleicht will er es ja auch gar nicht sehen.

Da wird er jetzt ganz schön lange starren müssen, bis er „seine“ Zukunft, erblickt, denke ich.
Aber eigentlich ist Hochmut hier fehl am Platz, denn geboren wurde der Traum von einer gerechteren Welt aus der Angst und Not der Menschen des letzten Jahrhunderts und Visionen einer besseren Zukunft gibt es seit Menschengedenken, Gottseidank auch heute noch; ob die marxistische Idee jemals in der Praxis bestanden hätte, ist müßig, zu diskutieren, sie hat nicht; sicher ist jedoch, dass menschliche Fehler die ursprünglichen Ideen pervertiert und zum Zusammenbruch geführt haben; ich finde, das sollte man vorrangig bedenken, denn daraus könnten wir lernen. Genugtuung zu empfinden, heiß kleinkariert bzw. gar nicht, denken.

Nicht Ideen ändern die Welt, sondern das, was wir daraus machen.

Genug der tiefsinnigen Gedanken!

Pünktlich, ohne russische Minute, kommt, eine junge Frau – im ersten Moment halte ich sie für ein junges Mädchen – auf uns zu, und stellt sich vor als Elena Wladimirowna.

Wenn ich nicht wüsste, dass sie fertig studierte Kunsthistorikerin ist und Vorlesungen an der Universität hält, würde ich diese süße Maus für eine Studentin halten. Ich schätze sie auf etwas mehr als 25 Jahre; die über­gestülpte, schneebedeckte Kapuze unterstreicht ihre Jugendlichkeit. Aus dieser Kapuze blickt ein süßes Gesicht; sie blickt etwas streng, so als ob sie durch diesen Blick ihr jugendliches Aussehen wettmachen und ihre Stellung betonen wollte.

Ich werde auch nicht gefragt, was ich besichtigen mochte, sondern mir wird bestimmt mitgeteilt, dass wir jetzt die Tretjakow Galerie besichtigen werden. – Ein Museum! Und das bei meiner „Vorliebe“ für Museen! Meine ganze Fotoausrüstung habe ich mitgeschleppt, um Aufnahmen auf dem Kreml zu machen! Ich wage jedoch nicht, zu widersprechen. – ‚Feigling!‘ –

In der Tretjakow Galerie ändert sich meine Einstellung jedoch sehr schnell Sie erklärt mir die Entwicklung und Bedeutung der Ikonen und ihrer Details so interessant und umfassend, dass ich Freude an dieser Führung bekomme und froh bin, keinen Einspruch gegen den Museumsbesuch eingelegt zu haben. Wo auch immer die Möglichkeil  besteht, weist sie auf Beziehungen in der- Kunst zwischen Deutschland und Russland hin. Es ist eine Freude, ihr zuzuhören. Das ‚Mädchen‘ hat wirklich ein enormes Wissen, das sie zudem fesselnd zu vermitteln weiß.

In der Abteilung der russischen Porträts des 17. und 18. Jahrhunderts versuche ich ihr zu erklären, woran ich zu erkennen glaube, dass es sich bei dem Porträt einer Dame um eine Russin handelt. Ich erzähle von dem für mein Empfinden typisch russischen Blick, die typische Art des Schminkens der Augen und die bis heute typische Art des Rouge Auflegens auf die Wangen. Sie stimmt mir heftig zu, und, ich weiß nicht warum, hier schmilzt das letzte Eis zwischen uns, ich bin jetzt „ihr“ Student.

– Wäre mir auch lieber, aber ich könnte leider eher ihr Vater sein. Schade! –

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