Mein Moskau [21] – GUM und ein tapsiger Tanzbär (mit Bildergalerie)

[Hanns-Martin Wietek] Dies ist das einundzwanzigste Kapitel der Geschichte eines zweifachen Aufbruchs – eines persönlichen und eines Volkes –, erlebt und geschrieben in den Jahren 1992 und 1993.

Nachdem diese Geschichte jetzt schon Geschichte geworden ist, habe ich mich entschlossen, sie unverändert zu veröffentlichen – auch wenn ich das eine oder andere heute anders schreiben würde.

Vielleicht trägt die Geschichte dazu bei, dass die Menschen des Westens die russischen Menschen besser verstehen.

Die einzelnen Abschnitte erscheinen in loser Folge.
Alle Folgen finden Sie hier.

 

Das GUM feiert sein hundertjähriges Bestehen! Überall hängen Fahnen, alles ist geschmückt.

Keine roten Fahnen oder Spruchbänder mit Losungen fordern zu erhöhter Anstrengung auf, „um dem Sozialismus zum Sieg zu verhelfen“, aber auch keine Reklame, die den Menschen das Geld aus der Tasche locken soll und den Anbruch einer neuen Zeit signalisieren könnte, das GUM hat sich ganz einfach festlich herausgeputzt; es feiert sich selbst. Sympathisch!

Über 25.000 m2 (250 x 100 m) erheben sich drei langgestreckte Hallen; drei riesige seitlich miteinander verbundene Tonnengewölbe; es ist taghell und mein Blick geht wie von selbst nach oben: jede Halle wird von einem Glasdach abgedeckt, künstliches Licht ist nicht notwendig. Die Sonne scheint mir eine Freude machen zu wollen: für kurze Zeit lässt sie die unterschiedlichen Farben der einzelnen Hallen aufleuchten, ein helles Türkisblau, ein helles und ein leicht grünliches Ocker. Die Farben sind offensichtlich noch frisch, man riecht es, und an einigen Stellen stehen noch Gerüste, von denen aus gestrichen wird.

In halber Höhe führt eine breite Galerie an allen Seiten entlang und kleine Brücken führen über den Abgrund von einer langen auf die andere Seite. Ganz oben, in fast schwindelnder Höhe, umläuft den Raum eine weitere, aber schmalere Galerie.

Hier unten liegt ein Geschäft neben dem anderen, kleine und größere Läden. Viele Läden werden noch renoviert und neu eingerichtet, deutlich ist überall ein Neuanfang zu spüren.

Kleider, Wäsche, Mäntel, Tücher, Geschirr, Elektrogeräte, Fotoartikel, eine Bar! und – ich glaube, ich sehe nicht richtig – „Karstadt“ ist vertreten! Und, wie könnte es anders sein, vor Karstadt eine lange Schlange, otscherit. Die Kassiererinnen stehen zwar teilweise arbeitslos herum und schwätzen, es wird aber immer nur ein bestimme Anzahl Menschen eingelassen, der Rest muss warten.

Was soll das? Glauben die Damen und Herren von Karstadt, dass ihre Ware dadurch, dass sie die Kunden vor der Tür warten lassen, wertvoller würde, oder halten sie alle Kunden für nicht nur potentielle Diebe, derer sie sich nur auf diese Weise erwehren können? Ich bin wütend und schwöre mir, nie mehr bei Karstadt einzukaufen.

Aber Karstadt ist nicht die einzige westliche Firma, verschiedene französische Kosmetikfirmen sind ebenfalls vertreten; und die wenigsten von ihnen scheinen zu wissen, in welchem Land sie sind. Die kyrillische Schrift  scheint ihnen unbekannt zu sei; eigentlich eine Frechheit, man stelle sich vor irgendein großer marktbeherrschender japanischer Hersteller würde von uns verlangen, wir sollten gefälligst die japanischen Schriftzeichen beherrschen, wenn wir bei ihm einkaufen wollen. Diskriminierend! Meine Sozialader schwillt, Karstadt dagegen hat sogar seinen Namen in kyrillischen Buchstaben geschrieben (Pluspunkte – vielleicht kaufe ich doch wieder bei Karstadt).

In der nächsten Etage sind nur kleinere Läden, in denen man nur von der Galerie aus einkaufen kann; ein schönes Restaurant finde ich dort später noch. Und ganz oben, auf der letzten Galerie, scheinen nur noch Büroräume zu liegen. An einer Stelle verwehrt mir ein bewaffneter Milizmann das Weitergehen – Milizia, das ist im Unterschied zu GAI die Personenpolizei; wahrscheinlich sitzt hier der Direktor, oder hier liegt das Geld.

 

Ende des letzten Jahrhunderts, unter Zar Alexander III, erbaut, bestimmt der »Russische Stil« Innen- und Außenarchitektur des Gebäudes.

Es ist ein sehr verspielter Stil; viele kleine Säulen, Kapitelle und Rundbögen erinnern einerseits an die klassische Bauweise der Griechen und Römer oder an unsere Bauten der Renaissance, jedoch nicht so monumental, alles im Kleinen; andererseits sehe ich auch Elemente des Jugendstils, wie z.B. die Dachkonstruktion aber auch viele kleine Details, sparsam vermischt mit russischer Ornamentik und altrussischen Symbolen.

Es gefällt mir; verspielt aber nicht zu überladen, ein schöner Anblick auch für einen Liebhaber der bayrisch-barocken Lebensart,

Unter meiner Pelzmütze und in meinen vielen Kleiderschichten – ich komme mir vor wie eine Matrioschka, ein Russenpüppchen – ist mir langsam warm geworden. Wir beschließen, wieder nach draußen zu gehen. Im Ausgang wird (noch) warmes Gebäck verkauft, eingebacken ist eine Kraut-Fleisch-Füllung oder Marmelade.

Draußen ist es dunkel.
Mein Zeitempfinden scheint, irgendwie gestört, zu sein. So spät, kann es doch noch gar nicht sein!

Mein Zeitempfinden ist gerade nicht gestört, es ist immer noch auf den 48. Breitengrad eingestellt. Mein Körper hat zwar den Zeitzonenwechsel, abhängig vom Längengrad, inzwischen aufgearbeitet, der Wechsel des Breitengrades ist mir noch nicht bewusst geworden – Moskau liegt auf dem 56. Breitengrad. ‚Kreuzberger Nächte‘ scheinen zwar manchmal lang zu sein, Moskauer Nächte sind dagegen wirklich lang: hier ist die Nacht um diese Jahreszeit zweieinhalb Stunden länger als z.B. in München (wenn das die Münchner Schikeria wüßte!), – Moskau liegt 900 km weiter nördlich als München. Und in Petersburg, das noch einmal 350 km weiter nördlich liegt, wird es jetzt kaum Tag (dafür wird es Ende Juli dort nicht Nacht, die berühmten ‚Weißen Nächte‘ von St. Petersburg!).

Draußen ist es also dunkel und noch genauso ekelhaft kalt. Da Nikolai und ich heute Abend eine Aufführung verschiedener russischer Volksstücke, von Gesangsstudenten unter Leitung ihres Professors gegeben, besuchen wollen, fahren wir nach Hause.

 

Nach dem kräftigen Abendessen machen wir uns auf den Weg. Galakleidung ist nicht notwendig, wir gehen wie wir sind. Mit der Metro und einem kurzen Stück zu Fuß sind wir in 45 Minuten angekommen.

Das Theater ist fast ganz besetzt, der Professor hält eine kurze Einführungsrede. Nikolai erklärt mir, das sei „sein“ Professor, bei dem auch er studiert habe Da er so viel Wert darauf legt, zu betonen, das sei sein Professor, nehme ich an, dass dieser wohl eine Kapazität sein muss.

Auch bei späteren Gesprächen mit anderen stelle ich immer wieder fest, dass in Russland von „meinem“ Professor XY gesprochen wird, wo wir heute sagen ‚Bei diesem Professor‘ oder ‚bei dem XY habe ich Vorlesungen gehabt‘, bestenfalls sagen wir ‚gehört‘.

Dieses „mein“ und der Tonfall, in dem von dem Professor gesprochen wird, drückt sowohl Achtung vor dem Professor aus, aber vor allen Dingen auch Stolz. Es ist der Stolz, Verbindung zur russischen Intelligenz zu haben oder vielleicht sogar dazu zu gehören.

Der jahrhundertealte Begriff „russische Intelligenz“ entspricht nicht dem was in Amerika mit „eggheads“, in Bayern „die Großkopferten“ oder allgemein die „Studierten“ oder die „Gebildeten“ bezeichnet, wird; es ist keine Gruppe, die mittels Wissen Reichtum oder gar finanzielle oder, noch abwegiger, politische Macht erworben hat.
Wissen gepaart mit hohem ethischem Bewusstsein ist  der Maßstab.
Und zu einer Familie zu gehören, die traditionsgemäß zur „alten russischen Intelligenz“ gehört, ist Verpflichtung.

Aber zurück zur Bühne.
Verschiedene Gruppen führen Singspiele in alter russischer Tracht auf; bei einem spielt der Professor selbst mit.
Mich erstaunt das Volumen der Stimmen. Ich wünsche mir, nur einige Sänger mit diesen Stimmen in einem meiner Chöre zu haben.
Es ist der typisch russische Klang, der mich immer wieder fesselt.
Damit meine ich nicht die Sprache; ich meine die Art zu singen, den typischen Klang der Stimme: die Bässe haben eine Kraft, eine Fülle, dass man im ersten Augenblick meint, sie sängen eine ganze Oktav tiefer als sie tatsächlich singen; die Tenöre sind fast glockenhell und klar; bei den Frauen scheinen die Altstimmen tiefer zu liegen als die Tenöre der Männer; und die Soprane haben einen durchdringenden, fast schneidenden, deswegen aber nicht unangenehmen Klang.
Es ist wahrlich ein Genuss.

Nach eineinhalb Stunden kommen die Schauspieler singend von der Bühne, ziehen an uns vorbei – wir sitzen in der ersten Reihe, eine der Sängerinnen sagt etwas zu mir – was ich natürlich nicht verstehe – und ergreift meine Hand, Nikolai gibt mir noch einen Schubs, ich muss in dem Reigen tanzend mitkommen; andere schließen sich am Ende an. So ziehen wir singend unter Akkordeon-, Gitarren- und Balalaikaklang in die Eingangshalle des Theaters. Ich komme mir in meinem dicken Pullover, den dicken Jeans und vor allem in meinen dicken Pelzstiefeln wie ein tapsiger, alter Tanzbär vor. Mein dichter Bart, zurzeit einem wilden Unkrautgestrüpp ähnlich, passt ganz bestimmt in dieses Bild.
Also ich finde mich ganz einfach lächerlich!

In der Halle angekommen will ich mich so schnell wie möglich aus dem Geschehen zurückziehen; aber weit gefehlt, jetzt geht es erst  richtig los: ein russischer Tanz wird aufgespielt, bei dem die Beine nur so durcheinander fliegen; ich halte mit; die Schrittfolge ist ganz sicher nicht richtig, im Takt bin ich aber. Der Tanz will und will kein Ende nehmen, meine Beine wollen mir fast nicht mehr gehorchen. Gottseidank, geschafft! Applaus von allen Seiten! Ich will mich an die Seite retten, das „Orchester“ spielt einen Englischen Walzer auf – wahrscheinlich als Erholung gedacht, und schon hat mich die nächste süße Maid gepackt; sie ist so süß, spricht mich auf Deutsch und Englisch an, als ich mit meinem ’nje panemaju pa russki‘ (ich spreche kein Russisch) komme, aber selbst zu einem Englischen Walzer sind meine Beine nicht mehr in der Lage. Ich bitte um Verständnis, sie gewährt mir Pardon. ‚Spassiba balschoi!!‘ Vielen Dank!!

Ab nach Hause! Ins Bett!

COMMENTS