Mein Moskau [18] – Nikolai, der russische Bass

[Hanns-Martin Wietek] Dies ist das achtzehnte Kapitel der Geschichte eines zweifachen Aufbruchs – eines persönlichen und eines Volkes –, erlebt und geschrieben in den Jahren 1992 und 1993.

Nachdem diese Geschichte jetzt schon Geschichte geworden ist, habe ich mich entschlossen, sie unverändert zu veröffentlichen – auch wenn ich das eine oder andere heute anders schreiben würde.

Vielleicht trägt die Geschichte dazu bei, dass die Menschen des Westens die russischen Menschen besser verstehen.

Die einzelnen Abschnitte erscheinen in loser Folge.
Alle Folgen finden Sie hier.

 

Nach dem Frühstück sitzen Tatjana, Nikolai und ich zusammen; die Verständigung ist zwar manchmal schwierig, aber wir verstehen uns ganz gut; Hände und Füße und Wörterbuch leisten gute Dienste.

Und Nikolai hat seit unserem ersten Zusammentreffen viel Deutsch gelernt. Wie üblich werden alte Erinnerungen aufgefrischt. Das Weißt-du-noch steht auch bei unseren Gedanken am Anfang, zumal unser erstes Zusammentreffen nicht gerade alltäglich war.

Und das war so:

Vorausschicken muss ich, dass eine meiner vielen Nebentätigkeiten das Singen -zweiter Bass – und Chorleitung ist – sofern man bei vier Chören noch von Nebentätigkeit reden kann. Und immer wenn ich in der Fußgängerzone einer Stadt die manchmal sogar sehr guten Straßenmusikanten höre, nehme ich mir vor, auch einmal Straßenmusik zu machen; aber ich würde singen, Volkslieder, klassische Stücke, allein oder mit anderen, vielleicht im Quartett; solche Straßenmusikanten habe ich leider noch nie getroffen.

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Eines Tages war ich in der Nürnberger Fußgängerzone, um einzukaufen. Auf dem sehr belebten Platz vor der Lorenzkirche hörte ich plötzlich Gesang. Ich war wie aufgeschreckt und hörte genauer hin: ein tiefer, voluminöser Bass drang durch die Geräuschkulisse; diese Stimme musste ich natürlich sofort suchen.

Auf der anderen Seite des Platzes, ungefähr 60 bis 70 Meter entfernt, stand ein großer Mann in einem Frack. Sein Frack stammte eindeutig aus einem Theaterfundus und hatte ganz bestimmt schon wesentlich bessere Zeiten gesehen. Der Mann, groß, schlank, leicht angegrautes fülliges Haar, leicht pockennarbiges Gesicht, auf der Nase eine Brille, deren linkes Glas einen Sprung hatte, sang mit einem beneidenswerten tiefen Bass russische Volkslieder.

Ich warf voller Freude gleich einen Geldschein in seinen aufgestellten Zylinder und hörte ihm zu bis er eine Pause machte. Dann fragte ich ihn, ob er mit mir essen ginge, ich wolle ihn einladen; obwohl er fast kein Deutsch sprach und ich kein Wort Russisch klappte unsere Verständigung unter Zuhilfenahme der internationalen Zeichensprache letztlich gut. Der Freude nach zu urteilen, mit der er meinen Vorschlag annahm, schien er länger nichts mehr Vernünftiges gegessen zu haben, was, wenn ich mir den spärlichen Inhalt seines Zylinders ansah, verständlich war.

Wir gingen in ein italienisches Schnellrestaurant um die Ecke. Dort stand er ziemlich hilflos vor den angebotenen Speisen, bis ich ihm sagte, er solle einfach nehmen, was ihm gefällt. Zwei Stück Lasagne verschwanden in Windeseile in ihm. Nun versuchte ich, ihm klar zu machen, dass er noch mehr essen könne. Diesmal gelang die Verständigung nicht ganz so gut, bis mir einfiel, dass nicht nur die Musik sondern auch die Sprache der Musik international ist.

Und was jetzt kommt, ist heute zu einem Standartsatz bei uns geworden, und wir lachen immer wieder darüber:

Ich deutete auf seinen leeren Teller und fragte „da capo?“, er strahlte ‚über alle vier Backen‘ und sagte „da capo, al fine!“.

– Für Nichtmusiker: „da, capo“ heißt in der Musiksprache „wiederholen“ und „da capo al fine“ „wiederholen bis zum Ende“. –

Eine weitere Portion verschwand in ihm genauso schnell wie die erste. Wir hatten in der Zwischenzeit an unseren Nachbartischen offensichtlich Aufmerksamkeit erregt, denn ein älterer Herr kam und fragte, was das alles bedeute. Ich erklärte ihm, dass Nikolai ein Sänger aus Moskau sei – so viel hatte ich in der Zwischenzeit schon erfahren -, dass er draußen auf der Straße gesungen, und dass ich ihn zum Essen eingeladen habe. Der Mann zückte wortlos seinen Geldbeutel, nahm fünfzig Mark, drückte sie Nikolai in die Hand, grüßte freundlich und verschwand. Nikolai saß da, sperrte Mund und Augen auf und blickte zwischen dem verschwindenden Herrn, mir und dem Geld in seiner Hand hin und her und verstand offensichtlich gar nichts mehr.

Nun, im Laufe unserer „Unterhaltung“ erfuhr ich dann, dass er Sänger an einer Moskauer Oper ist, dass er aber, obwohl Solist, zur Zeit so wenig verdient, dass er seine Familie nicht ernähren kann. Die fünfzig Mark, die der Herr ihm geschenkt hat, seien z. Zt. in Moskau für ihn mehr als zwei Monatsgehälter. Daher ist er in den letzten drei Wochen durch Deutschland gefahren und hat in verschiedenen Städten gesungen.

Anfangs sei er per Anhalter gefahren und habe auf Parkbänken geschlafen. Gelebt habe er in der Zeit von Brot und Milch, denn „Deutschland teuer, 1 Pfund Butter fünf Tage Arbeit in Moskau“. Von dem eingesungenen Geld habe er sich in Köln für 1000 DM einen alten Mercedes Diesel gekauft, und jetzt schlafe er in dem Auto. Das Auto war zwar schon zum Verschrotten abgemeldet, aber: „in Russland, dieses Auto nix Schrott“ und weiter: „ich in Moskau Mercedes, ich Kapitalist, ich Taxi fahren“. Über diese Worte lachen wir auch heute noch herzlich.

Ein paar hundert Mark habe er noch, und jetzt singe er nur noch für das Benzingeld bis Moskau, und ob ich wisse, wie weit es von hier bis Moskau sei. Dieser Unternehmungsgeist, aber auch diese Unbekümmertheit und der Mut, ohne die Sprache dieses Landes zu kennen, aus – für mich – einer anderer» Welt hierher zu kommen, machte mich sprachlos und begeisterte mich zugleich. Wir tauschten unsere Adressen aus, und ich musste ihm schwören, dass ich, wenn ich je nach Moskau komme, unbedingt in seiner Wohnung wohnen müsse.

 

Da sitzen wir nun beisammen, und niemand von uns hätte damals im Traum daran gedacht, dass wir uns schon fünf Monate nach diesem ersten Treffen hier in Moskau wiedersehen würden.

Ich bin natürlich neugierig; mich interessiert, wie er damals nach Moskau gekommen ist, denn diese Reise über 2.500 km traute ich dem Schrottauto wirklich nicht zu.

Und ich hatte Recht; er kam nur noch bis Prag, dort hat der Motor den Geist aufgegeben. Aber, nje problema, für billiges Geld wurde ein Ersatzmotor eingebaut, und damit kam er dann bis Moskau.
Dieses Auto und seine alte Wohnung hat er vor kurzem gegen diese Wohnung eingetauscht, weil diese viel besser sei.

So nach und nach erfahre ich im Gespräch Nikolais ganze Geschichte. Für mich ist sie bedrückend, aber hier scheint sie zumindest nicht ungewöhnlich zu sein:

Tatjana ist seine zweite Frau. Seine erste Frau war Opernsängerin an der­gleichen Bühne in Moskau wie er. Die Ehe ging schon nach wenigen Jahren in die Brüche. Sie ließen sich scheiden.

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Wenige Tage nach der Scheidung kamen zwei Männer vom KGB zu seiner Probe und forderten ihn auf, mitzukommen. Sie gingen mit ihm in seine Wohnung, die auch noch die Wohnung seiner geschiedenen Frau war, er musste seine Sachen packen und wurde nach Sibirien in eine kleine Provinzstadt verschickt.
Der Vater seiner geschiedenen Frau war beim KGB!

Er durfte die Region, in der das Städtchen lag, nicht verlassen und war acht Jahre an dem dortigen Theater zwangsverpflichtet, bis unter Gorbatschow die Zügel gelockert wurden, und er wieder ein freier Mann wurde. Dort hatte er dann auch Tatjana geheiratet. Überleben konnten sie diese Zeit aber nur, weil Tatjanas Eltern ihnen mit Naturalien geholfen haben.

Seit, ungefähr zwei Jahren ist er jetzt wieder als Solist an einer Moskauer Bühne. Mit monatlich 8.000 Rubel kann man jedoch eine vierköpfige Familie nicht, ernähren. Also musste er sich andere Wege ausdenken. Und so haben wir uns dann in Deutschland kennengelernt.

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