Marina Owsjannikowas Aktion: „Fünf Sekunden Wahrheit“

Marina Owsjannikowas Aktion: „Fünf Sekunden Wahrheit“

Binnen weniger Sekunden katapultierte sich am Abend des 14 März Montag eine bisher namenslose Mitarbeiterin des halbstaatlichen TV-Senders Kanal Eins in den Malstrom der globalen Medien. Den Namen Marina Owsjannikowa kennen jetzt alle, die Nachrichten verfolgen.

Für ihre Protestaktion live in der Hauptnachrichtensendung „Wremja“ von Kanal Eins mit dem Schild „Stoppt den ….. (von der Red. gepunktet). Glaubt der Propaganda nicht. Hier werdet ihr belogen“ wurde sie noch nicht belangt, Vorermittlungen sind aber eingeleitet. Für ihr zuvor aufgenommenes Video, in dem sie ihre Landsleute dazu aufrief, gegen den ….. zu protestieren, bekam sie eine Geldstrafe im unteren dreistelligen Eurobereich.

Für den russischen Präsidenten Wladimir Putin dürfte sie einer „zufällig in den Mund geflogenen Mücke gleichen, die man auf den Asphalt ausspuckt“.  Sprecher Dmitri Peskow nannte sie einen Hooligan, Unterhaussprecher Wjatscheslaw Wolodin fordert von den Strafverfolgungsbehörden, die Tat mit aller Strenge zu behandeln.

Wie verspannt das politische Klima in Russland ist, zeigt die Reaktion des Politologen und Generaldirektors des Instituts für politische Studien, Sergej Markow. Dass in der Live-Sendung von Kanal Eins eine Frau mit einem Protest Plakat erscheinen könne sei eine „Manifestation der Meinungsfreiheit in Russland“, die in der Ukraine unmöglich ist. „In der Ukraine wäre ein solches Mädchen von den Behörden unter Folter getötet worden“, schrieb er. „Das Mädchen wird einfach gefeuert. Dieser Vorfall besagt, dass Russland ein freies Land ist.

Die bekannte russische Politologin Ekaterina Schulmann kommentierte die Aktion von Marina Owsjannikowa in ihrer Sendung „Status“, die früher bei dem Radiosender „Echo Moskwy“ lief und jetzt auf ihrem YouTube Kanal fortgesetzt wird, ganz anders:

„Diese Art von Aktion macht einen großen Eindruck und hat eine enorme Symbolkraft. Die Nachrichtensendung „Wremja“ ist das Allerheiligste, buchstäblich das Herzstück der Propaganda. Und es hat sich herausgestellt, dass es sogar dort Menschen gibt, die nicht nur anderer Meinung sind, sondern auch bereit sind, diese Meinungsverschiedenheit unter großem Risiko zu zeigen.

Im Gegensatz zu dem, was Bürger mit hohen moralischen Ansprüchen oft denken, ist ein solches Verhalten gerade deshalb besonders beeindruckend, weil sich eben Loyalisten und nicht Dissidenten so verhalten. In den Augen der breiten Öffentlichkeit gibt es eine Art zivile Schicht, die Dissidenten, die immer und bei jeder Gelegenheit protestieren. Sie tun das sozusagen beruflich. Das ist ihre Rolle, und man ist an dieses Phänomen gewöhnt und ihr Handeln wird als selbstverständlich angesehen.

Aber wenn die Menschen, die von der bestehenden Ordnung profitieren, die von ihr leben und gedeihen, plötzlich anfangen, sich dagegen zu wehren, indem sie ihre Vorteile aufgeben und sich selbst einem offensichtlichen Risiko aussetzen, dann scheint das ein Zeichen für etwas zu sein.

Andererseits hängt viel davon ab, was folgt. Welche Art von Verfolgung droht? Wer wird sich diesen Protesten anschließen? In den letzten Tagen sind mehrere prominente Journalisten der staatlichen Sender zurückgetreten. Vielleicht gab es eine Grenze für ihre moralische Geduld. Vielleicht haben sie ein Defekt im System gesehen. Schließlich arbeiteten viele von ihnen in Russland, um sich „am anderen, warmen Ufer“ niederzulassen. So haben sie gelebt, es hat wunderbar funktioniert und ihnen das Ergebnis gebracht, das sie erwartet haben.

Jetzt bricht dieses System zusammen. Unter dem Gesichtspunkt der hohen Tugend kann man natürlich sagen, dass es diesen Menschen recht geschieht. Ihre jahrelange fehlerhafte Praxis ist ihnen auf den Kopf gefallen. Aber ich möchte die Aufmerksamkeit nicht darauf lenken, sondern darauf, dass diese Menschen die Nutznießer der Ordnung der Dinge waren. Es ist natürlich möglich, sie mit armen und hungrigen Menschen ersetzen, die kein Haus in der Toskana brauchen, sondern sich mit einer Wohnung in einem Moskauer Vorort zufrieden stellen.

Aber wenn die Menschen, an denen alles hing, ins Wanken geraten, macht das Eindruck. Erinnern wir uns aber auch an das Beispiel von Belarus, wo es massive und lange anhaltende Fälle von Nichtkooperation mit dem Staat gab, an denen sowohl Beamte als auch Journalisten beteiligt waren. Dies hat jedoch nicht zu einem Zusammenbruch des Regimes geführt. Wir sollten also die Bedeutung symbolischer Handlungen weder übertreiben noch unterschätzen.“

In russischen sozialen Netzwerken meinen viele, man werde ihre „Familie bedrohen, unter Druck setzen, versuchen, sie psychisch zu brechen, um sie zu zwingen, ihre Reue vor der Kamera zu filmen“. Sie werden sie „der Kollaboration beschuldigen“ und einen „demonstrativen grausamen Prozess gegen eine mutige Frau arrangieren, um die Journalisten der föderalen Kanäle zu erschrecken“. Ein Nutzer schrieb: Marina Owsjannikowa hat den Kanal Eins wieder zur Nummer eins gemacht. Fünf Sekunden lang. Fünf Sekunden Wahrheit können den Schmutz von wochenlanger Propaganda wegspülen. Diese fünf Sekunden werden eine moralische Begnadigung für all diejenigen sein, die das Wort der Wahrheit hätten sprechen können, sich aber nicht trauten und ihre Feigheit rechtfertigten. Diejenigen, die Angst hatten, werden von der Geschichte mit Vergessenheit belohnt werden. Aber die fünf Sekunden von Marina Owsjannikowa werden bleiben. Und werden Russlands Ehre vor der Ukraine retten“.

Die UN-Menschenrechtsbeauftragte Ravina Shamdasani lobte Owsjannikowas Tat und beschrieb sie als „sehr mutige Journalistin“. „Wir fordern die Behörden auf sicherzustellen, dass sie keinen Repressalien ausgesetzt ist, weil sie ihr Recht auf freie Meinungsäußerung ausgeübt hat“, sagte Shamdasani bei einem Briefing in Genf.

Der französische Präsident Emmanuel Macron bot der Redakteurin Hilfe in Form von diplomatischen „Schutz“ und Asyl in Frankreich an, und der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski bedankte sich bei ihr.

Auch das Lager des russischen Oppositionsführers Alexej Nawalny will die Frau unterstützen. Man wolle die Strafen übernehmen, die gegen sie verhängt werden könnten.

Nach der Aktion von Marina Owsjannikowa wurden die Nachrichten auf Kanal Eins nicht mehr live, sondern mit einer Verzögerung von 30 bis 60 Sekunden ausgestrahlt, sagte die Journalistin Farida Rustamowa.

[hrsg/russland.NEWS]

COMMENTS