Krempelt Putin den russischen Staat um oder wendet er sich von ihm ab? [Teil-1]

Krempelt Putin den russischen Staat um oder wendet er sich von ihm ab? [Teil-1]

Nicht nur deutsche Kommentatoren überbieten sich in Beurteilungen zu Putins skizzierten Änderungen der russischen Verfassung. Auch in Russland wird ausgeteilt. Der Spiegel nennt es „Putins Operation Machterhalt“.

Die angekündigte Verfassungsreform bedeutet vor allem nur eines – die „Entwürdigung der russischen Bürger“. Der Vorstoß des Präsidenten sei eine „gigantischen Ohrfeige“. Mehr noch: „Die vollständige Erniedrigung“ durch eine „von lästigen Resten der demokratischen Prinzipien befreite Verfassung“. „Alles in allem“, so die FAZ, „handelt es sich um ein Machtsystem nach dem Vorbild Stalins“.

In Russland heißt es von der Wahlbeobachtungsorganisation Golos, das ganze Vorhaben sei eine „PR-Aktion“, um Putin möglichst große Legitimität zu verleihen. Die Juraprofessorin Jelena Lukjanowa vergleicht Putins Reformplan mit einem „Putsch gegen die Verfassung“. Die mit Prominenten bestückte Arbeitsgruppe ähnelt einem „Zirkus“.

Olga Romanowa schreibt  in der ZEIT, Russlands Präsident  koppelt das Land vom internationalen Recht ab“. Putin schaffe sich „seinen von internationalem Recht losgelösten eigenen Rechtsraum“. Die Stärkung der Befugnisse des Staatsrates erfolge „nach dem Vorbild des Staatsrates der DDR“. Dem „Regime in Russland“ gehe es nur um die Gewährleistung des Übergangs der Macht „von Putin zu Putin“, dem damit eine „ununterbrochene Herrschaft sichergestellt wird“. Romanowa fragt sich, ob Putin vorhabe, den „politischen Aufbau der DDR kopieren zu wollen“.

Wie sich besonnenere Geister zu Putins magischer Viertelstunde äußern, ist dem Aufsatz Verfassungsumbau zu entnehmen, den wir hier für unsere Leser in drei Folgen übersetzt haben:

[von Peter Skorobogaty, Evgenia Obukhova] Die Ereignisse vom 15. Januar können zu einer historischen Wende in der Geschichte Russlands werden. Bisher wurden überwiegend über den – lang ersehnten Regierungswechsel inklusive Ministerpräsidenten – debattiert. Die wichtigste Ankündigung aber liegt im verfassungsmäßigen Teil der Botschaft von Wladimir Putin. Die Änderungen des Grundgesetzes des Landes werden voraussichtlich in der ersten Jahreshälfte verabschiedet. Diese Veränderungen beziehen sich nur zum Teil auf aktuelle politische Persönlichkeiten. Diese Änderungen betreffen nur einen engen Bereich der politischen Akteure. Sie legen nicht nur das Format der Präsidentenwechsels bis 2024 und die Rolle der Teilnehmer im Rennen um die Machtübergabe fest, sondern geben auch den Rahmen des politischen und administrativen Systems für viele Jahre vor. Wladimir Putin will als Architekt eines neuen Russlands in die Geschichte eingehen, wenn auch nur mit einer geänderten Fassung und nicht mit einer neuen Verfassung. Und nicht um schöner Worte willen lädt der Präsident alle Russen ein, sich an der Entwicklung und Verabschiedung von Vorschlägen zu beteiligen. Es geht nicht nur um die Abstimmung – ohne die Solidarität und Unterstützung der russischen Bevölkerung werden schlafende Institutionen, die zusätzliche Befugnisse erhalten, nicht aufwachen. Die Verfassung, auch in der geänderten Fassung, könnte zum Kurs von 1993 zurückkehren. Das Parteiensystem wird auch nicht aufwachen. Und die nächsten Wahlen zur Staatsduma werden die wichtigste Etappe auf dem Weg der geplanten Veränderungen.

Im Abstand von zwanzig Jahren, fast im selben Alter (67 bis 68 Jahre), sind zwei Präsidenten müde. Boris Jelzin legte die Zukunft des Landes in die Hände seines Nachfolgers, Wladimir Putin zeichnete sein Bild selbst – nicht von einem Nachfolger, sondern von der Zukunft, in der sein Nachfolger arbeiten wird. Bereits im vergangenen Jahr begann der Präsident über die verfassungsmäßigen Grundlagen des politischen Systems mit Blick auf die Zeit nach der Machtübergabe nachzudenken. Man sagt, dass er den größten Teil der Botschaft persönlich geschrieben hat. In fünfzehn Minuten drehte er das Leben des Landes und das Schicksal der Eliten. Innerhalb eines Tages kündigte Putin wesentliche Änderungen der Verfassung an, die Regierung trat zurück und Michail Mischustin wurde zum Premierminister ernannt.

Kein Wort zur Außenpolitik, trotz der medialen Vorbereitungen auf den Dritten Weltkrieg nach den Ereignissen im Iran. Keine „nukleare Asche“ und keine „neuen Raketen“. Dies bedeutet nicht, dass die Geopolitik in den Hintergrund tritt. Putin ist einfach zuversichtlich in das Verteidigungspotential des Landes und in die Position Russlands, auch unter westlichem Druck. Genauso wie er dank seiner konservativen Haushaltspolitik auf finanzielle Stabilität vertraut. Der Präsident betonte erneut, dass er in den letzten fünf Jahren ernsthafte Bedrohungen durch die Wirtschaftskrise gesehen habe, die nun hinter ihm liegen. Dies bedeutet, dass es möglich ist, die interne Richtung zu stärken und ernsthafte politische Reformen in Angriff zu nehmen.

Was für ein Russland will Putin nach 2024 sehen? Ein stabiles, vereintes, ausgewogenes, und souveränes Russland – bereit für den globalen Wettbewerb mit Durchbrüchen in den Bereichen Wissenschaft, Technologie, Digitalisierung und Management. Der Präsident hat klar umrissen, auf welchen Pfeilern ein erneuertes Land stehen wird. Dies sind in erster Linie die Menschen. Eine wachsende, gesunde, gebildete Bevölkerung. In diesem Teil ist ein spürbarer Anstieg der Staatsausgaben zu verzeichnen. Dann die Wirtschaft: Erhöhung der Realeinkommen der Bürger, schnelleres Wachstum des russischen BIP als im Weltdurchschnitt sowie ein neuer Investitionszyklus. Und der dritte Pfeiler besteht aus der politischen Reform, die den Weg für den Wettbewerb der Eliten und eine offene Kommunikation zwischen den Behörden und der Bevölkerung ebnet. Andererseits bewahrt sie das Gleichgewicht der Machtgruppen und ermöglicht es dem Land, seine Entwicklung ohne revolutionäre Umwälzungen fortzusetzen. Alles in allem sorgt dies für die notwendige Flexibilität des russischen Systems.

„Im Zuge des weiteren Staatsaufbaus stehen wir vor scheinbar gegensätzlichen Aufgaben, die auf den ersten Blick unvereinbar erscheinen mögen … Wir müssen ein System schaffen, das stark, zuverlässig, unverwundbar und nach außen hin absolut stabil ist und Russlands Unabhängigkeit und Souveränität bedingungslos garantiert. Gleichzeitig ist das System in sich lebendig, flexibel, einfach und zeitgemäß, und, was am wichtigsten ist, es ändert sich im Zusammenhang mit dem, was in der Welt, um uns herum und vor allem im Zusammenhang mit der Entwicklung der russischen Gesellschaft selbst geschieht. Ein System, das die Nachfolge derer sicherstellt, die an der Macht sind oder in anderen Bereichen eine hohe Position einnehmen. Eine solche Erneuerung ist eine unabdingbare Voraussetzung für die fortschreitende Entwicklung der Gesellschaft. Wenn auch nicht unfehlbar, aber sie wird für eine stabile Entwicklung sorgen, bei der die Hauptsache unerschütterlich bleibt – Russlands Interessen“, so Wladimir Putin.

 Neues Modell von Russland

Konzentrieren wir uns auf diese Viertelstunde der Botschaft des Präsidenten vom 15. Januar, die voller Ereignisse war. Wladimir Putin hat ein neues Regierungsmodell angekündigt. Aus einer „superpräsidialen“ Republik wird eine „präsidiale“ Republik, wodurch die Version der Verfassung von 1993 korrigiert wird. Nach Streitigkeiten mit dem Obersten Rat und dem Beschuss des Weißen Hauses in Moskau bestand Boris Jelzin darauf, die Befugnisse des Präsidenten zu stärken und die des Parlaments zu beschneiden. Anschließend ging das Land den Weg, das Staatsoberhaupt vor dem Hintergrund anderer Akteure zu stärken, ohne jedoch die Verfassung zu ändern. Das Land befand sich im Krieg, brach auseinander und wurde geplündert – und das Modell mit einem außergewöhnlich starken präsidialen Schiedsrichter, der für die Verfassung und die Stabilität der politischen Eliten bürgte, hatte viele Anhänger. Andere glauben, dass damals, 1993, die Grundlagen für einen nicht wettbewerbsfähigen Autoritarismus gelegt wurden.

Es ist jedoch falsch, von einer Rückkehr zu einem parlamentarischen oder präsidentiell-parlamentarischen Modell der frühen neunziger Jahre zu sprechen. Wladimir Putin bietet ein „präsidiales“ Modell an, das originale Merkmale aufweist. Dies ist zum einen die starke Rolle „strategischer“ Räte. Auf der anderen Seite gibt es eine gleichmäßige Verteilung der Befugnisse und Abhängigkeiten der Machtbereiche. Hier einige der Vorschläge des Präsidenten:

– Beschränkung der Präsidialherrschaft auf zwei Amtszeiten.

– Der Staatsrat, an dem die Chefs aller Regionen teilnehmen, sollte in der Verfassung    festgelegt werden.

– die Staatsduma genehmigt die vom Präsidenten vorgelegte Kandidatur des Ministerpräsidenten und auf seinen Vorschlag hin die stellvertretenden Ministerpräsidenten und die föderalen Minister.

– Der Präsident behält das Recht, die Aufgaben und Prioritäten der Regierung zu bestimmen, sowie das Recht, sie ihres Amtes zu entheben. Der Präsident behält auch die direkte Führung der Streitkräfte und des gesamten Strafverfolgungssystems.

– Der Präsident ernennt die Leiter der Strafverfolgungsbehörden und der regionalen Staatsanwälte nach Konsultationen mit dem Staatsrat.

– Der Staatsrat kann auf Vorschlag des Präsidenten die Richter des Verfassungsgerichts und des Obersten Gerichts entlassen.

– Das Verfassungsgericht kann auf Antrag des Präsidenten die Verfassungsmäßigkeit der von der Föderationsversammlung verabschiedeten Gesetzentwürfe sowie der Gesetze und Verordnungen der föderalen und regionalen Regierungsebene überprüfen.

Was liefert das für Ergebnisse? In dem neuen Modell wird die Exekutivgewalt – die Macht des Präsidenten und des Premierministers – vom Parlament ausbalanciert. Das Parlament und die Regierung unterliegen der Kontrolle des Verfassungsgerichts, das jede Entscheidung rückgängig machen kann. Die Justiz selbst hängt nun teilweise von der Position des Staatsrates ab, von der auch die Sicherheitskräfte und die regionalen Staatsanwälte betroffen sind. Auch ohne eine klar definierte Rolle werden der Staatsrat und die regionalen Behörden zu subjektiven, aber gewählten Gouverneuren – nicht zu lokalen Eliten. Niemand hat eine dominante Machtfülle. Alle Elemente des politischen Systems werden gleichzeitig im Rahmen eines komplexen Systems gegenseitiger Kontrollen gestärkt und geschwächt.

Wir haben Diagramm des neuen Modells der Staatsmacht dargestellt (das jedoch im Laufe der Arbeit der Arbeitsgruppe zur Änderung der Verfassung und unter Berücksichtigung der Vorschläge von Politikern und Experten angepasst werden kann – Putin selbst sprach darüber). Das erste, was ins Auge fällt, ist die Aufteilung der Machtsubjekte in zwei Gruppen: Verteidigung und strategische Planung (Präsident und Räte und Gerichte) und das soziale und wirtschaftliche oder „System der öffentlichen Macht“, wie Putin es formulierte.

Das System der öffentlichen Machtausübung wird sich mit den angewandten Aufgaben der Entwicklung des Landes befassen und Exekutive und Legislative in einem direkten politischen Zusammenhang verbinden. Hier sollen in Zukunft die Rolle der Volksvertretung (durch Parteien) und das Feedback der Bevölkerung gestärkt werden. Es scheint, dass die kommunalen Regierungen ihrer nominellen Unabhängigkeit beraubt werden, wenn sie endlich in die Managementvertikale eingebaut werden. Auf der anderen Seite erhalten sie mehr Befugnisse (hoffentlich zusammen mit den Finanzen).

Die „Sowjetisierung“ des Staatswesens ist in der Verfassung verankert. Der Sicherheitsrat hat seit langem einen Superstatus in Sachen Verteidigung und Sicherheit. Der Föderationsrat erhält erweiterte Befugnisse. Es ist interessant, ob die Herangehensweise an die Personalausstattung geändert wird. Die Funktionsweise des Staatsrates ist nicht vollständig definiert, es besteht Verbesserungsbedarf. Alle drei Räte werden sich unbürokratisch mit strategischen Aufgaben befassen und Krisenfälle schnell lösen können. Zukünftig können diese Behörden flexibel an die Situation angepasst werden: Sie verlieren beispielsweise ihren Status „unter dem Präsidenten“, erhalten unterschiedliche Vorsitzende und Sekretäre oder schließen sich im Gegenteil zu einem „Großen Rat“ zusammen. Hierzu ist eine erneute Änderung der Verfassung nicht erforderlich.

Schließlich ist der verstärkte „regionale Block“ zu beachten, der sich in einen wirtschaftlichen und strategischen aufteilt. Es ist zu früh, um etwas Konkretes zu sagen, solange die Rolle des Staatsrates nicht geklärt ist. Es scheint jedoch, dass eine komplexe Neuformatierung des Gleichgewichts von Regional- und Bundesbehörden stattfindet. Zum einen wird die administrative und finanzielle Vertikale von der Regierung zu den Kommunen gestärkt – kombiniert mit der Verantwortlichkeit der Beamten. Regionale Bürokraten (der Präsident hat sie in seiner Botschaft mehrmals heftig kritisiert, anders als die Regierung), werden in Zukunft verstärkt entlassen. Zum anderen stärken die Regionen ihre Kompetenzen auf der Föderalebene und entziehen sich im Rahmen des Staatsrates praktisch der direkten Abhängigkeit der Regierung. Die Gouverneure bleiben natürlich angestellte Manager mit einem Mandat der Bevölkerung, erhalten aber die Möglichkeit, eine strategische Vision für die Entwicklung ihres Landes zu präsentieren.

Theoretisch könnte eine solche „Blockbildung“ den Schaden durch die offensichtliche Komplikation des gesamten Systems der föderalen und regionalen Machtorgane verringern. Das System ist stark von verflochtenen Abhängigkeiten, Verfahren, Befugnissen, Vorschriften und der Bürokratie als Ganzes geprägt. Vielleicht wird es im Rahmen einzelner Blöcke, regionale oder wirtschaftliche, möglich sein, Probleme schneller zu lösen.

[Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von www.expert.ru]

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