Kräfteverschleiß auf schnellem Niveau

Die einen sind einfach nur stolz, die anderen lehnen sich aus dem Fenster. Zugetraut hätte es ihnen ohnehin niemand. So unterschiedlich können die Wahrnehmungen eines Fußballspiels sein. Das Halbfinalspiel der Engländer gegen Kroatien hätte irrealer nicht sein können.

„Ich bin enttäuscht, aber ich bin zufrieden mit der Leistung der englischen Mannschaft, sie haben die Erwartungen übertroffen und wir sollten ihnen gratulieren“, sagte die englische Stürmerlegende Alan Shearer nach dem Spiel. Für ihn hat das Team von Gareth Southgate großartige Unterhaltung geboten. „Sie haben alles getan, was sie konnten.“ Dass diese brillante Leistung leider nur für die ersten 45 Minuten vorhalten sollte, tat dem Gesamteindruck der Briten, den sie bei dieser Fußball-WM 2018 hinterlassen haben, nun auch keinen Abbruch mehr.

Der ehemalige Mittelfeldspieler Mladen Bartulovic hingegen gibt sich noch nicht zufrieden mit dem, was die kroatische Nationalmannschaft bisher geleistet hat. Er fordert einen Sieg seiner Landsleute am Sonntag im Luschniki-Stadion. „Glauben Sie mir, ich prahle nicht“, sagte er gegenüber dem russischen Sportexpress. Mit so einem Charakter und mit solcher Bereitschaft müsse man zwangsläufig gewinnen, findet Bartulovic.

Charakter – nun das ist so eine Sache. Der kroatische Verteidiger Domagoi Vida jedenfalls wurde vom russischen Publikum 120 Minuten lang ausgebuht, weil er nach dem Viertelfinalspiel gegen die Sbornaja mit seiner Meinung über die Ukraine nicht hinter dem Berg halten konnte oder wollte. Die Parole „Slawa Ukrainje“, Ehre der Ukraine, die er auf einem Videoclip veröffentlichte, ging den Russen dann doch deutlich zu weit unter die Gürtellinie. Zwar entschuldigte er sich hinterher dafür, man mag ihm jedoch unterstellen, dass er nur die Strafe seitens der FIFA mildern wollte.

Von großen und kleinen Finalisten

Die zutreffendste Wertschätzung muss man allerdings Kroatiens Torhüter Daniel Subasic zu Gute halten: „Es ist unglaublich. Die kroatische Nationalmannschaft hat ein Wunder vollbracht, aber bisher haben wir noch keine Goldmedaillen um unseren Hals hängen. Wir sind froh, dass wir zur WM gekommen sind und bis zum Ende in Moskau geblieben sind. Aber das ernsteste Spiel steht uns erst bevor.“ Kroatien spielte drei Mal in der Verlängerung. Diese Kraft wertet Subasic als die Stärke des Teams. Ob das alleine gegen die Spielstarken Franzosen genügen kann, ist fraglich.

In der gestrigen Begegnung dominierten zunächst die Engländer das Spielgeschehen nach Lust und Laune. Zwar schafften es die Kroaten mutig dagegen zu halten, doch erst als die Briten einen Gang herunterschalteten, kamen die Südeuropäer einigermaßen in einen eigenen Spielfluss. Man muss jedoch einräumen, dass die Partie bis zum Schluss auf einem äußerst hohen Tempolevel gespielt wurde und somit für beide Teams immens kräftezehrend gewesen ist.

Wer von den beiden Kontrahenten nun verdientermaßen im Finale steht, lässt sich so fast nicht beantworten. Letztendlich war es wahrscheinlich ein glücklicherer Ausgang für die Kroaten, auch wenn sie sich ihre Kräfte bis zuletzt aufhoben. Ob das so geplant war, danach fragt nach dem Spiel sowieso keiner mehr. Für die Kroaten ist der Finaleinzug eine historische Angelegenheit. Soweit hat es noch keine kroatische Mannschaft jemals vorher geschafft. Auch wenn sie gegen Frankreich verlieren sollten, eine Schmach wäre das wohl kaum. Sicherlich wird man ihnen auf dem Balkan verzeihen.

Die Engländer haben, auch wenn sie jetzt nur das „kleine Finale“ am Samstag in St. Petersburg spielen dürfen, im Grunde genommen etwas ganz Großes geleistet. Sie haben sich vom anfänglichen Giftmischer zum unverhohlenen Sympathieträger dieser WM in Russland gemausert. Wenn man bedenkt, was sich die britische Regierung nicht alles hat einfallen hat lassen, um der Welt gerade diese Veranstaltung madig zu machen. Es kann nur peinlich wirken, wenn ausgerechnet Premierministerin Theresa May als größte Antagonist und erster Boykotteur des Turniers auf russischem Boden sagt: „Diesmal sollte es nicht sein, aber es war eine großartige Reise, die das Land stolz gemacht hat.“

[mb/russland.NEWS]

 

 

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