Kommentar: Gedanken am Vorabend der Verfassungsreform

Kommentar: Gedanken am Vorabend der Verfassungsreform

[von Anastasia Petrowa] Im Januar wurde der tatsächliche Zweck der in Russland geplanten Verfassungsänderungen weltweit diskutiert: eine Vorbereitung auf den Machttransit, eine Einschränkung und gleichzeitig eine Erweiterung der Befugnisse des Präsidenten, eine Stärkung der Rolle der Regierung, ein Aufstieg des Staatsrates? Während verschiedener Lesungen von Entwürfen in der Staatsduma wurden viele neue Änderungen am ursprünglichen Text der russischen Verfassung vorgenommen, die für eine breite Verwirrung sorgten. Im Frühling äußerte sich die weltweit erste Kosmonautin und Abgeordnete der Staatsduma, Walentina Tereschkowa, hierzu: Am 10. März schlug sie eine „Nichtigkeitserklärung“ oder „Nullstellung“ der Amtszeiten des Präsidenten nach der Annahme der geplanten Verfassungsänderungen vor. Danach gab es kaum mehr offene Fragen zum Wesen der Verfassungsreform. Präsident Putin soll 2024 wieder kandidieren dürfen.

Nach der Ankündigung der „Nullstellung“ teilten sich alle Politikwissenschaftler in zwei Lager auf: in diejenigen, die der Meinung sind, dass dies von Vornherein beabsichtigt war, damit nicht der Präsident, sondern die Vertreter des Volkes – Abgeordnete der Staatsduma – die „Nullstellung“ vorschlugen, und in diejenigen, die glauben, dass Putin und sein Team sich weder für eine von mehreren möglichen Formen des Machttransits noch für einen Nachfolger entscheiden konnten und daher die Wahl auf eine Nullstellung fiel. Persönlich neige ich zur zweiten Version: Nachdem ich den ursprünglichen Text der Verfassungsänderungen genauer untersucht hatte, kam ich zu dem Schluss, dass er das Potenzial für eine Machtreform enthält. Auf der anderen Seite sprechen die Änderungsanträge, deren Bedeutung für viele noch immer unklar ist, sowie der Vorschlag von Walentina Tereschkowa mehr für die erste Theorie.

Änderungsanträge zu den Änderungsanträgen

Worum handelt es sich genau bei den neuen Änderungsanträgen, die von den Abgeordneten vorgeschlagen wurden (über die ursprünglichen Änderungsanträge hatte ich bereits berichtet[1])? Diese machen den Eindruck von Populismus: sie klingen sehr schön und überzeugend, doch haben kaum Bedeutung. Es ist interessant, dass auf der offiziellen Website der elektronischen Abstimmung[2] gerade diese „schönen“ Sätze als „Hauptänderungen“ bezeichnet werden. Hier sind einige Beispiele:

Änderungen zum Schutz der territorialen Integrität und Geschichte:

Die Russische Föderation, die durch eine tausendjährige Geschichte vereint ist und die Erinnerung an die Vorfahren bewahrt, die uns die Ideale und den Glauben an Gott, sowie die Kontinuität in der Entwicklung des russischen Staates übermittelt haben, erkennt die historisch begründete Einheit des Staates an.

Die Russische Föderation ehrt die Erinnerung an die Verteidiger des Vaterlandes und schützt die historische Wahrheit. Die Verringerung der Bedeutung der Volksleistung für die Verteidigung des Vaterlandes ist nicht zulässig.

Änderungen zum Schutz familiärer und traditioneller Werte:

Kinder sind die wichtigste Priorität der staatlichen Politik Russlands. Der Staat schafft Bedingungen, die der umfassenden geistigen, moralischen, intellektuellen und körperlichen Entwicklung der Kinder, der Erziehung von Patriotismus, Staatsbürgerschaft und dem Respekt der Ältesten in ihnen förderlich sind.

…Verteidigung der Institution der Ehe als Vereinigung von Mann und Frau; Schaffung von Bedingungen für eine angemessene Erziehung von Kindern in der Familie, sowie für die Erfüllung der Verpflichtung erwachsener Kinder, sich um ihre Eltern zu kümmern…

Änderungen zu Umweltschutz. Die folgenden Punkte werden zu den Zuständigkeiten der Regierung hinzugefügt:

…ergreift Maßnahmen, um günstige Lebensbedingungen für die Bevölkerung zu schaffen, die negativen Auswirkungen wirtschaftlicher und anderer Aktivitäten auf die Umwelt zu verringern, die einzigartige natürliche und biologische Vielfalt des Landes zu bewahren und eine verantwortungsvolle Haltung gegenüber Tieren in der Gesellschaft zu schaffen…

…schafft die Voraussetzungen für die Entwicklung des Systems der Umwelterziehung der Bürger, die Erziehung der ökologischen Kultur…

Es ist wichtig, dass in Russland bereits Gesetze existieren, die alle oben genannten Punkte rechtlich verankern. Insbesondere sind dies Gesetze zum Tier- und Umweltschutz sowie ein Familiengesetzbuch, das die Ehe ausschließlich als Vereinigung von Mann und Frau definiert. Daher stellt sich die Frage, ob es notwendig ist, solche Änderungen im Grundgesetz des Landes vorzunehmen. Es ist merkwürdig, dass im ersten Kapitel der Verfassung ein Artikel enthalten bleiben soll, der besagt, dass Russland ein säkularer Staat ist, aber ein Artikel mit den Worten Glauben an Gott in ein anderes Kapitel eingefügt wird.

Die „Nullstellung“ der Amtszeiten des Präsidenten ist die Hauptänderung, über die eigentlich abgestimmt werden soll. Interessanterweise gab es nichts über diesen Änderungsantrag auf der Website für elektronische Abstimmung zu lesen, bis die Medien darauf aufmerksam machten.[3] Die Änderung zur Beschränkung der Amtszeit des Präsidenten wurde mit dem folgenden Hinweis ergänzt:

Dieser Artikel gilt für eine Person, die das Amt des Präsidenten der Russischen Föderation innehatte und (oder) innehat, ohne die Anzahl der Amtszeiten zu berücksichtigen (…) und schließt für ihn keine Möglichkeit aus, das Amt des Präsidenten der Russischen Föderation für die nach dieser Bestimmung zulässigen Zeiträume zu übernehmen“.[4]

Darüber hinaus gewährleistet die neue Version der Verfassungsreform dem Präsidenten Schutz und Unverletzlichkeit nach dem Ablauf der Amtszeit, was in der ursprünglichen Version nicht enthalten war. Dank der „Änderungsanträge zu den Änderungsanträgen“ erhielt der Präsident auch die Möglichkeit, Senator im Föderationsrat auf Lebenszeit zu sein.

Umstrittene Werbung

Seit dem Frühling schauen Russen soziale Werbung über die Verfassungsreform im Fernsehen und im Internet, an der Stars, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und Bürger teilnehmen. Sie werben und „erklären“ die Notwendigkeit populistischer Änderungsanträge, nicht jedoch der Änderung der Machtstruktur. Die „Nullstellung“ der Amtszeiten des Präsidenten wird ebenfalls nicht angesprochen. So hörten Russen, die während der Quarantäne zu Hause blieben, tausende Male über die Notwendigkeit, Geschichte, Sprache, traditionelle Familienwerte, sowie Umwelt und Tiere zu schützen. Als das Datum der Abstimmung festgelegt wurde, erschienen Aufrufe in den Instagram-Posts russischer Sänger, Sportler, Schauspieler und Blogger, an der Abstimmung teilzunehmen. Laut verschiedenen Medienberichten wurde ihnen 1 Million Rubel (ungefähr 13 000 Euro) dafür gezahlt.

Wir beobachten dies fast vor jedem bedeutenden politischen Ereignis im Land. Anfang Juni haben jedoch jene Personen, die die Werbung für die Verfassungsreform gestalten, die Grenze überschritten. Im Netzwerk erschien ein Video mit folgendem Inhalt: 2035 wird ein Junge aus einem Waisenhaus von einer homosexuellen Familie adoptiert. „Mom“ fährt mit einem Mini Cooper vor und bietet dem Jungen an, ein Kleid anzuziehen. Am Ende werden die Zuschauer gefragt: Wollen Sie in so einem Russland leben? Wenn nicht, dann stimmen Sie für die Verfassungsänderungen, weil sie so „den Schutz der Institution der Ehe als Vereinigung von Mann und Frau garantieren“. Das Video wurde übrigens von YouTube entfernt, weil es seinen Regeln widerspricht und Intoleranz fördert. Abgesehen von Homophobie gibt es außerdem noch ein anderes Problem: Der Einsatz von Kindern in politischer Agitation ist in Russland verboten.

Ein Boykott der Abstimmung?

Natürlich lösten die kontroversen Änderungen in der Machtstruktur und die „Nullstellung“ der Amtszeiten des Präsidenten unter dem Deckmantel der Sorge um die Umwelt und die traditionellen Werte eine negative Reaktion aus. Der umstrittenste Oppositionspolitiker auf der russischen politischen Bühne, Alexej Nawalny, sprach sich gegen die Änderungsanträge aus und forderte seinen Anhängern auf, die Abstimmung zu boykottieren.[5] Ich persönlich betrachte dies als Fehler, erstens, da Bürger das Recht haben sollten, ihre Meinung während der Abstimmung zu äußern, und zweitens, weil dies eine nicht durchdachte politische Strategie ist: Er erhöht damit nur den Prozentsatz derjenigen, die dafür stimmen, doch die Wahlergebnisse werden – unabhängig von der Wahlbeteiligung – in jedem Fall anerkannt.

Neben solchen umstrittenen Personen waren auch Vertreter des Volkes dagegen. 293 Abgeordnete verschiedener Ebenen (von regional bis kommunal) aus verschiedenen Regionen Russlands unterzeichneten im Rahmen der „Nein“-Kampagne einen Aufruf an die Bürger. Sie betonen darin, dass das Hauptziel der Änderungen des Grundgesetzes des Landes darin bestehe, die „Nullstellung“ der Amtszeiten von Präsident Wladimir Putin durchzusetzen. Die Änderungsanträge „zerstören den russischen Staat und stellen in naher Zukunft eine Bedrohung für seine Existenz dar“.[6] In einem Interview mit Meduza stellt eine der Autoren des Aufrufs, Yulia Galyamina, fest, dass eines der Ziele der „Nein“-Bewegung darin bestehe, „Menschen, die dagegen sind, jedoch Angst haben, eine moralische Unterstützung zu bieten“. Vertreter der „Nein“-Bewegung rufen nicht einfach dazu auf, nicht zu wählen, sondern sein Nichteinverständnis auch auf andere Weise zu demonstrieren, damit es kein stiller Boykott sei: „Schreiben Sie einen Post in sozialen Netzwerken, nehmen Sie ein Video auf, stellen Sie einen einzelnen Streikpost mit sozialer Distanz.

Die Abstimmung findet am 1. Juli statt, die Behörden haben diesen Tag für arbeitsfrei erklärt. Nach der Ankündigung des Wahltages wurden die Quarantänebeschränkungen in Russland schrittweise aufgehoben. Neu bei dieser Abstimmung ist die Möglichkeit der elektronischen Abstimmung, die bisher allerdings nur in zwei Regionen ermöglicht wird: Moskau und Nischni Nowgorod. Man kann einen Antrag auf einem speziellen Portal stellen, auf dem öffentliche Dienstleistungen erbracht werden, und vom 25. bis 30. Juni an der elektronischen Abstimmung teilnehmen. Für Risikogruppen ist die Abstimmung vom 25. Juni bis 1. Juli zu Hause vorgesehen. Am Wahltag kommen Mitglieder der Wahlkommission mit einem Stimmzettel und einer tragbaren Wahlurne zu ihnen nach Hause. Die Abstimmung erfolgt kontaktlos. Diejenigen, die bereit sind, im Wahllokal abzustimmen, erhalten Maske, Handschuhe und Wegwerf-Stifte sowie die Möglichkeit, vorzeitig, ab dem 25. Juni, abzustimmen. Die Menschen werden durch Lotterien, Verlosungen von Autos und Wohnungen zu den Wahllokalen gelockt. Unterdessen beläuft sich der tägliche Anstieg der neuen Covid-Fälle im Land immer noch nicht auf ein paar Dutzend oder Hundert, sondern auf tausende Kranke. Angesichts der ansonsten strengen Haltung der Behörden in Bezug auf die Quarantänemaßnahmen erscheint dies alles äußerst fraglich.

Jüngste Umfragen zeigen, dass die meisten Russen (67%) bereit sind, an der Abstimmung teilzunehmen, 61% von ihnen erklären ihren Wunsch, dafür zu stimmen.[7] Höchstwahrscheinlich hat sich die Kampagne im Fernsehen und im Internet gelohnt, und die Hauptänderung wird angenommen. Wladimir Putin wird 2024 für das Präsidentenamt kandidieren können. Vielleicht irren sich Skeptiker und oppositionelle Bürger und in unserem Land wird man anfangen, die Natur, die Kinder, die Tiere und die Geschichte zu schützen. Es bleiben jedoch offene Fragen: Weshalb kann dies momentan nicht getan werden, obwohl es bereits entsprechende Gesetze gibt? Und warum hat unser Präsident dies in den 20 Jahren seiner Amtszeit nicht getan?

Quellen:

[1] http://www.russland.news/putins-verfassungsreform-eine-vorbereitung-auf-den-machttransit/

[2] https://2020og.ru

[3] https://www.kommersant.ru/doc/4372825?tg

[4] https://rg.ru/2020/03/16/popravka-v-konstituciyu-dok.html

[5] https://www.znak.com/2020-06-08/aleksey_navalnyy_prizval_ne_uchastvovat_v_golosovanii_po_popravkam_v_konstituciyu

[6] https://meduza.io/feature/2020/06/04/u-putina-nachalsya-nastoyaschiy-obval-reytingov?utm_source=telegram&utm_medium=live&utm_campaign=live

[7] https://www.rbc.ru/politics/04/06/2020/5ed8c1249a79477ca3c406bd

[Anastasia Petrowa/russland.NEWS]

Foto: kremlin.ru, CC 4.0,  https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de, keine Änderungen

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