Putins Verfassungsreform – Eine Vorbereitung auf den Machttransit?

Putins Verfassungsreform – Eine Vorbereitung auf den Machttransit?

[von Anastasia Petrowa] Nachdem sich die Wogen geglättet haben, und die Medien nicht mehr stündlich widersprüchliche Informationen verbreiten, können wir endlich in Ruhe darüber sprechen, was die geplante Verfassungsreform für Russland bedeutet. Welche Verfassungsänderungen sind genau geplant und von wem, wann und wie sollen sie umgesetzt werden? Welche Absicht steht hinter dem Vorhaben – warum hat Wladimir Putin vorgeschlagen, die Verfassung zu ändern? Wir haben versucht, all diese Fragen für euch zu beantworten.

Am 15. Januar 2020 schlug Wladimir Putin in seiner jährlichen Rede vor der Bundesversammlung eine Verfassungsreform vor. Die Reformvorschläge des Präsidenten betrafen unter anderem den Vorrang der russischen Verfassung gegenüber dem Völkerrecht, den Besitz zweiter Staatsbürgerschaften, Aufenthaltsbestimmungen von Staatsbeamten sowie wesentliche Änderungen der Befugnisse der Staatsduma und des Staatsrates. Eine Reaktion erfolgte prompt: Die Regierung von Premierminister Dmitri Medwedew trat geschlossen zurück. Am selben Tag wurde eine Arbeitsgruppe gegründet, die Vorschläge zur Verfassungsreform ausarbeiten sollte. Ihre Zusammensetzung war eher ungewöhnlich: Neben Experten auf dem Gebiet des Verfassungsrechts und des Staatsaufbaus gehörten dazu der Pianist Denis Matsuev, die Athletin Yelena Isinbayeva, der Chef des Hermitage Museums Michail Piotrovsky und andere Künstler und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens[1]. Das erste Treffen der Arbeitsgruppe fand am 17. Januar statt, und bereits am 20. Januar legten die Vorsitzenden Putin einen Gesetzesentwurf mit entsprechenden Änderungsanträgen vor. Zwei Stunden später wurde der Entwurf der Staatsduma zur Abstimmung vorgestellt.

Welche Verfassungsänderungen werden vorgeschlagen? [2]

Beginnen wir der Reihe nach: Zum einen wird vorgeschlagen, einen gesetzlichen Mindestlohn in der Verfassung zu verankern: Dieser soll mindestens dem Existenzminimum der gesamten erwerbsfähigen Bevölkerung in Russland entsprechen. Zusätzlich werden eine Indexbindung von Renten und anderen Sozialleistungen vorgeschrieben. Die Regierung wird dazu verpflichtet, die Umsetzung dieser Maßnahmen zu gewährleisten.

Des Weiteren plant Putin, die russische Verfassung gegenüber dem Völkerrecht stärker zu priorisieren. Die Umsetzung dieses Vorhabens ist jedoch mit einigen Schwierigkeiten verbunden und wird kontrovers diskutiert. Der Vorrang internationaler Verträge Russlands gegenüber den nationalen Gesetzen wird in Artikel 15 des ersten Kapitels der Verfassung Grundlagen der Verfassungsordnung behandelt. Artikel 135[3] der Verfassung verbietet jedoch Änderungen der ersten, zweiten und neunten Kapitel. Um das erste Kapitel zu ändern, wäre es daher notwendig, zuerst eine neue Verfassung zu verabschieden, wogegen sich übrigens der Präsident selbst ausspricht. So wird stattdessen Artikel 79 über die Erfüllung internationaler Verpflichtungen geändert. Hier heißt es:

„Die Russische Föderation kann sich in Übereinstimmung mit völkerrechtlichen Verträgen an zwischenstaatlichen Vereinigungen beteiligen und diesen einen Teil ihrer Befugnisse übertragen, sofern dies nicht eine Beschränkung der Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers zur Folge hat und nicht den Grundlagen der Verfassungsordnung der Russische Föderation widerspricht“ (Artikel 79, Russische Verfassung, aktuelle Version).

Folgendes soll hinzugefügt werden: Wenn Entscheidungen von zwischenstaatlichen Organisationen, an denen Russland beteiligt ist, der Verfassung widersprechen, sind sie in Russland nicht vollstreckbar.

Hier der genaue Wortlaut:

Entscheidungen zwischenstaatlicher Gremien, die aufgrund der Bestimmungen internationaler Verträge der Russischen Föderation erlassen wurden, in ihrer Auslegung, die der Verfassung der Russischen Föderation widerspricht, unterliegen keiner Vollstreckung in der Russischen Föderation“ (Artikel 79, Russische Verfassung, Änderungsvorschlag).

Beispielsweise ist Russland laut dieser Änderung nicht verpflichtet, Entscheidungen vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte umzusetzen, wenn das Verfassungsgericht beschließt, dass diese der russischen Verfassung zuwiderlaufen. Ob dies einen Widerspruch zum ersten Kapitel darstellt, ist schwer zu sagen. Artikel 15 trifft Bestimmungen über den Vorrang des Völkerrechts gegenüber Gesetzen, nicht jedoch gegenüber der Verfassung. Und in Artikel 79 geht es immer noch um Belange der Verfassung. Darüber hinaus ist bereits in der bisherigen Version festgelegt, dass Russland internationalen Verpflichtungen nur dann nachkommen kann, wenn es der Verfassungsordnung nicht widerspricht. Das heißt, der Widerspruch, falls es überhaupt einen gibt, wird bereits durch die ursprüngliche Version hervorgerufen.

Putins Änderungsvorschläge sehen außerdem strengere Regelungen bei der Besetzung wichtiger Posten vor: so soll der Besitz einer ausländischen Staatsbürgerschaft sowie einer Aufenthaltserlaubnis für Richter, Chefs der Föderationssubjekte, Abgeordnete und Senatoren sowie für Regierungsmitglieder verboten werden. Für den Präsidentenposten sind die Regeln noch strenger: Erstens muss der Präsident nicht mehr nur 10 sondern mindestens 25 Jahre in Russland gelebt haben und zweitens darf er nicht nur zum Zeitpunkt der Wahl, sondern auch in seiner Vergangenheit keine Staatsbürgerschaft oder Aufenthaltserlaubnis eines ausländischen Staates besessen haben (eine Ausnahme wurde für jene Gebiete gemacht, die in die Russische Föderation aufgenommen wurden). Und das Wichtigste: Im 81. Artikel, wo es heißt, dass eine Person „das Präsidentenamt nicht länger als zwei Amtsperioden in Folge innehaben“ darf, wurden die Worte „in Folge“ gestrichen. Damit sind generell nur noch zwei Amtsperioden erlaubt, nicht mehr.

Auch die Befugnisse des Präsidenten werden geändert. Laut der aktuellen Verfassung ernennt der Präsident den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma und alle Minister auf Vorschlag des Regierungschefs. Er hat das Recht, einzelne Regierungsmitglieder zu entlassen, und der Rücktritt des Premierministers bedeutet automatisch den Rücktritt des gesamten Kabinetts. Laut den Änderungen muss die Staatsduma einen neuen Premierminister „bestätigen“. Der Regierungschef unterbreitet der Staatsduma Kandidaten für die Ministerämter, und der Präsident ernennt die neuen Minister erst, nachdem sie von den Abgeordneten bestätigt wurden. Hierbei ist wichtig zu betonen, dass der Präsident nicht das Recht hat, die von der Staatsduma gebilligten Kandidaten abzulehnen. Dies gilt jedoch nicht für den Verteidigungsminister, den Außenminister, den Innenminister, den Notfallminister und den Justizminister. Diese Minister werden noch vom Präsidenten selbst nach Absprache mit den Senatoren (den Mitgliedern des Föderationsrates) bestätigt und ernannt.

Bei Annahme der Gesetzesvorschläge ist der Präsident zukünftig befugt, die Regierung und ihre Mitglieder, wie den Premierminister, einzeln zu entlassen. Bislang musste bei Zurücktreten des Premierministers auch die ihm unterstellte Regierung geschlossen zurücktreten. Die Änderung würde bedeuten, dass der neue Regierungschef dem Präsidenten zukünftig kein neues Kabinett zur Genehmigung unterbreiten muss. Dieser Änderungsantrag kann auf zwei Arten interpretiert werden: Entweder muss der neue Premierminister mit dem alten Kabinett zusammenarbeiten, bis der Präsident sie entlässt, oder der Premierminister entscheidet selbst über Personalangelegenheiten, und der Einfluss des Präsidenten auf die Struktur der Exekutive ist begrenzt. Klarheit hierüber wird es erst geben, wenn das Gesetz über die Regierung gemäß der Verfassungsreform geändert wird.

Laut des neuen Entwurfes bekommt der Präsident eine zusätzliche Chance, im Falle eines Konflikts mit der Legislative zu gewinnen. Der aktuell gültigen Version der Verfassung zufolge, kann das Parlament bei Verabschiedung eines föderalen Gesetzes das Veto des Präsidenten mit 2/3 der Stimmen der Abgeordneten und Senatoren überwinden. Die Verfassungsreform sieht vor, dass der Präsident beim Verfassungsgericht beantragen kann, die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes zu überprüfen. Falls das Verfassungsgericht Widersprüche zwischen dem Gesetz und der Verfassung feststellen sollte, leitet der Präsident das Gesetz an die Staatsduma zurück. Gleiches gilt für föderale Verfassungsgesetze (die sich auf die in der Verfassung besprochenen Fragen beziehen). Der Präsident kann ein solches Gesetz nicht ablehnen, weil für dessen Annahme 3/4 der Stimmen der Senatoren und 2/3 der Abgeordneten erforderlich sind. Diese Stimmenmehrheit ist offensichtlich genug, um ein Veto des Präsidenten auszuhebeln.

Darüber hinaus erhält der Präsident eine zusätzliche Möglichkeit, Einfluss auf die Richter zu nehmen: Dem Gesetzentwurf zufolge, darf der Präsident beim Föderationsrat den Rücktritt von Richtern beantragen, die sich fehl- und nicht ehrwürdig verhalten haben. Zurzeit ist dies nur dem Verfassungsgericht erlaubt. Außerdem wird die Anzahl der Richter des Verfassungsgerichts von 19 auf 11 reduziert. Ebenfalls neu ist, dass der Föderationsrat auf Vorschlag des Präsidenten nicht nur die Richter ernennt, sondern auch die Führung der Verfassungsgerichte und jene der obersten Gerichte – und zwar die Vorsitzenden plus ihre Stellvertreter.

An dieser Stelle sollte unbedingt auch ein genauer Blick auf den Staatsrat geworfen werden, dem jeder eine sehr wichtige Rolle im bevorstehenden Machttransit prophezeit. In der gültigen Verfassung wird der Staatsrat nicht erwähnt. Er ist ein Beratungsgremium unter dem Präsidenten, das sich mit der koordinierten Zusammenarbeit von Behörden befasst. Der Vorsitzende des Staatsrates ist der Präsident, ansonsten setzt er sich aus dem Vorsitzenden des Föderationsrates, dem Vorsitzenden der Staatsduma und anderen höchsten Beamten zusammen[4].
Wladimir Putin schlug vor, den Staatsrat von einem Beratungsgremium in ein Verfassungsgremium umzuwandeln. Im Rahmen des Gesetzentwurfs würde der Präsident den Staatsrat bilden, um das koordinierte Funktionieren und Zusammenarbeiten der staatlichen Behörden zu gewährleisten, und, um die Ausrichtung der Innen- und Außenpolitik und vorrangige Bereiche der sozioökonomischen Entwicklung des Staates festzulegen. Tatsächlich wird der Staatsrat einen Teil der Präsidentenfunktionen übernehmen. Sein Status und seine spezifischeren Befugnisse werden durch das Bundesgesetz bestimmt.

Ein anderer Aspekt der Verfassungsreform betrifft die örtliche Selbstverwaltung. Sie wird künftig in die Machtvertikale einbezogen: Die Änderungsanträge betonen, dass die örtliche Selbstverwaltung Teil eines einheitlichen Systems der öffentlichen Gewalt sei und mit den staatlichen Machtorganen kooperieren solle. Aktuell gibt es keine solche Bestimmung in der Verfassung.

Wie werden die Verfassungsänderungen verabschiedet?

In seiner Rede an die Bundesversammlung teilte der Präsident mit, dass die Verfassungsreform nur dann angenommen werde, wenn die Bürger sie bei einer Volksabstimmung unterstützten würden. Diese sogenannte „gesamtrussische Abstimmung“ wird auch im Gesetzentwurf erwähnt (dies ist kein Referendum, da nur die Verfassungsversammlung das Abhalten eines Referendums beschließen kann). Was dies genau bedeutet, ist noch unklar, weil das föderale Gesetz über die Annahme von Verfassungsänderungen keine Aussagen über eine derartige Abstimmung macht. Darüber hinaus sollte ein Gesetz über die Verfassungsreform „zusammenhängende Änderungen des Verfassungstextes abdecken“[5]. Hier werden Änderungsanträge zur Indexierung der Renten und zu den Befugnissen des Präsidenten zusammen eingebracht. Allerdings stört dies praktisch niemanden, außer vielleicht Politikwissenschaftler und Juristen.

Bisher wurden die verschiedensten „Insider“-Informationen in den Medien veröffentlicht. Im Allgemeinen besteht der Konsens, dass die sogenannte „gesamtrussische Abstimmung“ Mitte April stattfinden wird, nachdem der Gesetzentwurf das Standardverfahren für die Verabschiedung eines Gesetzes durchlaufen haben wird, jedoch vor seinem Inkrafttreten. Für die Verabschiedung eines Gesetzes ist die Genehmigung durch drei Lesungen in der Staatsduma, die Genehmigung des Föderationsrats und die Unterzeichnung des Präsidenten erforderlich. Am 23. Januar genehmigte die Staatsduma das Gesetz in erster Lesung. 432 Abgeordnete stimmten dafür – es gab keine Gegenstimmen. Die zweite Lesung könnte im Februar stattfinden.

Was bedeutet das alles?

Einige Experten glauben, dass der Gesetzesentwurf die Grundlagen der Verfassungsordnung nicht wesentlich verändert, und die meisten Änderungen, einschließlich der Herrschaft der Verfassung gegenüber dem Völkerrecht und der Indexierung der Renten, sind bereits in den Gesetzen festgelegt. Die Erweiterung der Befugnisse der Parlamentarier ändert nichts in der Machtstruktur – Russland bleibt eine starke Präsidentenrepublik.

Andere argumentieren, dass die Änderungen immerhin die Grundlagen der Verfassung betreffen, und wenn die russische Bevölkerung bei der geplanten Abstimmung für die neue Verfassung stimmt, werden diese Grundlagenänderungen einfach angenommen. Dies gilt auch für die umstrittene Priorisierung des Völkerrechts, die Rolle des Staatsrates und die Einbeziehung der lokalen Selbstverwaltung in die Machtvertikale. Die Rechtswissenschaftlerin Yelena Lukyanova erklärte der Onlinezeitung Medusa, dass die Pläne bezüglich des Staatsrats nicht mit dem ersten Kapitel der Verfassung über die russische Gewaltenteilung vereinbar sei[6].

Hierzu gibt es ziemlich radikale Meinungen: Auf der Website der Zeitung Novaya Gaseta wurde eine Petition „gegen den Verfassungsputsch und die Machtusurpation“ veröffentlicht. Diese kann von jedem Bürger und jeder Bürgerin der Russischen Föderation unterschrieben werden – 22.000 Unterschriften wurden bereits gesammelt. Die Autoren schreiben: „…im Land findet ein Verfassungsputsch statt. Wir sind sicher, dass der Zweck dieses Putsches darin besteht, Wladimir Putin und sein korruptes Regime lebenslang an der Macht zu halten“[7]. Sie betonen, dass die Änderungsanträge von Dilettanten ausgearbeitet würden, der Verfassungsordnung widersprächen und außerdem zu hastig verabschiedet würden.

Wie wird der Machttransit nach dem Ende von Putins Präsidentschaft im Jahr 2024 aussehen? Die Vermutungen nach Putins Rede, dass die Rolle des Präsidenten erheblich schwächer ausfallen wird und er von einer anderen Institution (entweder dem Staatsrat oder dem Parlament mit erweiterten Befugnissen) kontrolliert wird, haben sich noch nicht bestätigt. Ja, die Staatsduma wird das Recht haben, einige Minister zu bestätigen und dementsprechend die Regierung zu kontrollieren, doch dies bedeutet keine wesentliche Machtumverteilung vom Präsidenten zum Parlament. Der Präsident wird immer noch befugt sein, all diese Minister zu entlassen. Darüber hinaus hat der Präsident die Möglichkeit, das Gericht zu beeinflussen, indem er den Rücktritt von Richtern beim Föderationsrat beantragt. Und im Falle eines Konflikts zwischen dem Präsidenten und dem Parlament fungiert das Gericht als Vermittler. Dies bedeutet eine Zunahme der Befugnisse des Präsidenten im legislativen Bereich mit einer leichten Abschwächung der Positionen in der Exekutive. Ob der Staatsrat das Organ sein wird, dessen Vorsitzender das Land regieren wird, oder ob der Premierminister ein autonomer Politiker wird, das wird erst nach der Verabschiedung der einschlägigen Gesetze bekannt sein. Nach der Veröffentlichung des Gesetzentwurfs ist die Zukunft des Landes nicht unbedingt klarer geworden.

 

[1] http://kremlin.ru/events/president/news/62589

[2] https://sozd.duma.gov.ru/bill/885214-7

[3] http://www.constitution.ru/10003000/10003000-11.htm

[4] http://kremlin.ru/structure/state-council

[5] http://www.consultant.ru/document/cons_doc_LAW_18043/

[6] https://meduza.io/feature/2020/01/16/putin-hochet-radikalno-i-ochen-bystro-perepisat-konstitutsiyu-eto-mozhno-nazvat-konstitutsionnym-perevorotom

[7] https://novayagazeta.ru/articles/2020/01/23/83598-pokushenie-na-osnovnye-printsipy-ustroystva-gosudarstva

 

[Anastasia Petrowa/russland.news]

 

Foto: kremlin.ru, Creative Commons 4.0

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