Kiewer Tagebuch

Kiewer Tagebuch

Von Mona Bergholz. Sie hat einen Magister-Abschluss in Slavistik und Germanistik und war viele Jahre in verschiedenen Nachfolgestaaten der Sowjetunion beruflich tätig, seit 2014 arbeitet sie in Kiew.

  1. März 2018

Heute war ich nach langer Zeit mal wieder in einer Filiale der Restaurantkette Katjuscha. Auch da hat sich einiges geändert. Die Speisekarte gibt es jetzt nur noch auf Ukrainisch, früher war sie russisch. Die Kellnerinnen hatten früher alle sowjetische Schuluniformen an, braunes Kleidchen und Rüschenkragen mit weißer Schürze. Die Kellner hatten schwarze oder braune Hosen und ein weißes Hemd an. Das war der Gag an dieser Restaurant-Kette, sie war komplett und konsequent im Stil der 70er Jahre eingerichtet, inklusive eben der Bekleidung der Kellner. Das hatte schon einen gewissen Retro-Charme. Und es wirkte eher wie ein ironisches Zitat, nicht wie Sowjet-Nostalgie.

Heute tragen die Kellnerinnen einen Faltenrock aus Jeansstoff, dazu eine weiße Bluse und eine Schürze aus demselben Jeansstoff wie der Rock. Auch die Keller laufen jetzt im hellblauen Jeansstoff, eine legere Hose und ebenfalls eine lange Schürze, die ist neu und erinnert an Kellner in feinen französischen Restaurants, dazu weißes Hemd.

Ich fragte einen Kellner, seit wann sie diese neuen Formen haben.  Er sagte, erst seit kurzem, und fügte dann hinzu, dass sie diese Formen selbst bezahlen mussten, 500 Griwna. Das ist nicht wenig. Hämischer Kommentar des Kellners: auf unsere Kosten hat man uns neu eingekleidet.

 

  1. November 2018 Merkel beim Treffen mit Studierenden der Taras-Schewtschenko-Universität in Kiew (in Form einer knappen Mitschrift)

 

  1. EU-Armee?- Noch weiter Weg, aber Zusammenarbeit, gemeinsame militärische Kultur, zB mit F
  2. Krieg im Osten: wann Ende? – Fortschritt von Minsk langsam, aber es gibt positive Wirkungen. Wir arbeiten mit RF zusammen.
  3. Sanktionen helfen? – nicht allein. -> Normandie Format. RF hat große Verantwortung. Hauptaufgabe: auch UA muss ihre Zusagen erfüllen
  4. Welche Reformen würden Sie in der UA machen? – Korruption, Dezentralisierung inkl. mehr Geld für Regionen, Privatisierungen staatlicher Unternehmen, IWF u. Reform der Energiepreise. -> Subjektförderung wie bei uns als Abfederung für Einkommensschwachen
  5. Reintegration des Ostens – nach Minsker Abkommen, ist schwierig
  6. China-D – China-Strategie ist auf ca. 200 J. angelegt. Rückkehr zu alter ökonomischer Größe. One road one belt. Digitalisierung. Papst sprach von EU als asiatische Halbinsel. -> Europa muss technologisch fit bleiben.
  7. EU in 10-20 Jahren? – große Herausforderungen. Euro stärken, Wiss., Forschungen, kreativ, erfinderisch; Grenzschutz, gegen Schleuser; Problem keine einheitliche Außenpolitik. Multipolare Welt.
  8. ???? – positiv denken. Vgl. DDR und ihr Ende.
  9. Multikulturalismus – Zuwanderung von Fachkräften = wichtig. Asyl ist was anderes. Und Rückführung muss möglich sein. Kontingente für Flüchtlinge u legale Arbeitsmigration. Neue Strukturen, an denen man arbeitet.
  10. Rücktritt als CDU-Vorsitzende. Popularität der CDU in D – Ja, haben jetzt mit CSU wieder eine Meinung zu Flüchtlingen.
  11. WTO müsste reformiert werden. Weitere Zölle im Welthandel nicht gut. China ist nicht wirklich offen. In D Debatte über kritische Infrastrukturen.
  12. Politik als Show? – die Frage ist eigentlich Wahrheit oder Unwahrheit. Wir haben populistische Herausforderungen. Soziale Medien verkürzen zu sehr. —> Verantwortung dieser.
  13. Absturz des Euro ein Tag nach Bekanntgabe, dass sie nicht erneut kandidieren wird. – in EU kein Zusammenhang. Kursschwankungen der Hriwna ist schwierig. -> Reformen wichtig.

 

  1. April 2019 Die junge Generation interessiert sich plötzlich für Politik

Staune heute darüber, wie die Studenten plötzlich politisiert auftreten. Sie fragen mich, was ich von der Situation in der Ukraine halte. Nie habe ich früher ein politisches Interesse bei unseren Studentinnen feststellen können. Jetzt wirken sie wie ausgewechselt. Sie sind gut informiert, geben sehr kritische Kommentare ab, haben eine klare Meinung, argumentieren und sind sehr an meinen Einschätzungen interessiert.

 

  1. April 2019 Rückblick auf das Poroschenko-Regime und Selenskis subtile Wahlwerbung

Eigentlich wurde die Ukraine nach dem Euromaidan mit einem wahren Horrorszenario überzogen: Ein grauenhafter Krieg mit Tausenden Opfern auf beiden Seiten, darunter auch Zivilbevölkerung, ohne jeden Sinn, außer dass einige wenige damit gigantische Summen verdient haben, die in die Taschen regierungsnaher Unternehmen und an führende Staatsbeamte in Kiew flossen. Und das kommt vor den Wahlen an die Öffentlichkeit. Wenn man sich dazu noch vorstellt, dass die Gegenseite ebenso ein gutes Geschäft aus dem Krieg schlägt, dann kann man in etwa erahnen, wie es den einfachen Menschen auf beiden Seiten der Frontlinie damit geht.

Bilanz der fünf Jahre Poroschenko-Regierung, ich nenne sie Poroschenko-Regime: Aufmärsche im Kiewer Zentrum von militanten und bewaffneten Neonazis, die ihre Macht demonstrierten und verdeutlichen, dass ohne sie nichts geht; Morde an kritischen Journalisten, Flucht anderer kritischer Journalisten ins Ausland, weil sie um ihr Leben fürchten müssen; Feden zwischen einzelnen Oligarchen, von denen einer fast seines kompletten Geschäftsvermögens beraubt wurde (Poroschenko hat Kolomojskis Privat Bank sowie die Fluggesellschaft Ukranian Airlines verstaatlicht); anstelle, wie zu Beginn seiner Amtszeit versprochen, seine Geschäfte in Russland zu verkaufen, schafft es Poroschenko in den fünf Jahren, die Gewinne seiner verschiedenen Unternehmen zu vervielfachen. Die Seilschaften im Parlament blieben unangetastet bestehen, die üblichen Verdächtigen konnten sich weiterhin unbehelligt bereichern, und zwar auf Kosten der eigenen Bevölkerung. Die Landeswährung verfiel in dieser Zeit um das Dreifache, die Preise stiegen infolgedessen entsprechend. Die Kosten für Energie wurden ebenfalls verdreifacht mit der Begründung, diese an europäisches Niveau heranführen zu müssen. Die Tranchen der internationalen Kreditgeber wurden für eigene Geschäfte verwendet und landeten so wieder in den Taschen der Oligarchen und ihrer Marionetten im Politikbetrieb beziehungsweise auf Konten ihrer Offshore-Firmen. Ein Mindestlohn wurde zwar eingeführt, doch der lag weit unterhalb des tatsächlichen Existenzminimums, die Renten wurden um wenige Euros erhöht. Die Arbeitsmigration steigt unaufhaltsam an, auch junge Menschen verlassen scharenweise das Land, um woanders zu studieren, sie bleiben danach meist im Ausland. Diese Reihe ließe sich noch lange fortsetzen.

Wie viel konnte man über diese Entwicklungen in den deutschen Leitmedien lesen?

Die Rhetorik gegenüber Russland nahm an Schärfe und Aggression kontinuierlich zu, die Verhandlungen um einen Friedensprozess im Osten der Ukrainer wurden von der Regierung Poroschenko torpediert, die Schuld daran einzig und allein Russland in die Schuhe geschoben. Das passt zwar einerseits gut zum Feindbild Russland, welches der Westen auch pflegt und verschärft. Allerdings reichten diese Unterwerfungsgesten gegenüber dem Westen dennoch nicht aus, um Poroschenko auch weiterhin vorbehaltlos zu unterstützen.

Zu wenig haben sich seine Netzwerke dem Diktat der großen Geldgeber unterworfen. Letztere hätten es gerne gesehen, wenn diese Netzwerke zerschlagen worden wären, damit Investoren aus dem (westlichen) Ausland sich die Ressourcen des Landes zu eigen machen und sie für den eigenen Profit ausbeuten. Bisher stand dem die Kontrolle durch die heimischen Oligarchen im Weg.

Wie es der Zivilbevölkerung geht bei diesem ganzen Horrorszenario, ist den externen Investoren vollkommen egal, genauso wie den heimischen Oligarchen. Das wissen wir aus vielen Beispielen der letzten Jahrzehnte sowohl von den Ländern Lateinamerikas und des Nahen Ostens als auch jüngst von Griechenland oder neuerdings von Venezuela.

Doch jetzt scheint plötzlich etwas in Bewegung zu kommen in diesem Land. Das zeigt der aktuelle Wahlkampf um den Posten des Präsidenten. Völlig unerwartet für die korrupten Eliten in Ost und West betritt ein äußerst beliebter Satiriker und Schauspieler die Bühne der Politik und lässt sämtliche Beobachter und Profijournalisten sich erstaunt fragen, wo sie diese Figur denn nun einordnen sollen. Hilflos schickt man ihn zunächst mal in die Clown-Ecke, bezeichnet seinen Wahlkampf als äußerst populistisch, stellt ostentativ die im Grunde völlig verfehlte Frage, wie ein unerfahrener Showman Politik machen kann.

Dabei wurde seine Kandidatur von langer Hand vorbereitet durch eine Politdrama-Serie, in der er vorführt, wie er als Präsident des Land regieren würde. Dass die Mainstream-Journalisten und politischen Beobachter dieses Genre der Populärkultur weitgehend ignorieren, zeugt davon, dass sie nicht in der Lage sind, über ihren eigenen Tellerrand zu blicken. So entgeht ihnen auch der Blick darauf, welche Techniken des Meinungs- und Empörungsmanagements hier eingesetzt werden. Sie verpassen so die Zeichen der Zeit.

Man muss diese Serie und Selenskis Kabarett-Shows gesehen haben, man muss sich die Texte jeder einzelnen Musiknummer am Ende dieser Shows bewusst anhören, um beurteilen zu können, wie sehr das alles die Menschen unmittelbar anspricht, weil es ihnen aus dem Herzen spricht. Hier wird schonungslos offengelegt, was eigentlich Sache ist im Politikbetrieb und in den Oligarchen-Clans. Insbesondere die Songs thematisieren aber nicht nur die Machenschaften der Eliten, sie bieten auch Selbstkritik aus der Perspektive eines Normalbürgers, der das alles auch ermöglicht und duldet. Der Blick in den Spiegel, der auf der Suche nach der eigenen Identität unerlässlich ist, dieser Blick in den Spiegel lässt sich zur Zeit an den Programmen Selenskis beobachten.

Ich kann mich nicht erinnern, in den letzten 25 Jahren etwas Ähnliches in anderen Ländern der ehemaligen Sowjetunion beobachtet zu haben. Das ist ein absolutes Novum und als solches unbedingt wert, näher untersucht zu werden.

Wer oder was steckt hinter diesem neuen Phänomen? Ein neues Selbstbewusstsein, gespeist aus den negativen Erfahrungen vieler anderer Länder, die unter die Räder des hybriden Kriegs der beiden Großmächte geraten sind?

 

  1. April 2019 Wahlwerbung

Selenski macht den zweiten Teil seines Wahlkampfes (vor der Stichwahl) zur Show: zuerst die Aufforderung zur Blutanalyse mit dem geradezu grotesken Folgestreit, dann der Zirkus um die Debatten, im Olympiastadion oder im Studio, das Gezanke um den Termin, dann Poroshenkos Agitprop-Auftritt allein im Stadion am 14.04., während Selenski noch in Paris weilt. In der Stadt aber tauchen neue Wahlplakate seines Teams auf, nicht ohne dass das gegnerische Lager entsprechende Anti-Werbung lanciert; dazu Poroschenkos peinliche und komplett misslungene Wahlplakate zur Diskreditierung von Selenski (mit Konterfei von Putin), bei denen er sich dann gezwungen sieht, zurückzurudern. Wir können gespannt sein, was da noch alles kommt in den nächsten Tagen.

Es scheint nicht übertrieben, das Zwischenergebnis wie folgt zusammenzufassen:

Selensky macht sich einen Spaß daraus, Poroschenko immer wieder auf seine Art und Weise herauszufordern, ihn aufs Glatteis zu führen, stolpern und dann ziemlich lächerlich aussehen zu lassen. Alles in allem zwingt er seinen Gegner in sein Genre des politischen Kabaretts bzw. in eine Realsatire. Die Realität als Bestätigung seiner Kabarett-Nummern. Nicht schlecht. Beachtlich. So etwas hat die Welt in einem Wahlkampf bisher kaum gesehen.

 

  1. April 2019 Beobachtungen zum Wahlkampf

Poroschenko übernimmt die Techniken von Selenski. Dabei gibt Selenksi die Themen von, Poroschenko greift sie auf und folgt ihnen, während Ze! den gelegten Pfad gleich wieder verlässt. Beispiele: Das Theater mit den Blutproben, der Zirkus um die Debatten im Stadion oder im Studio, Technik und Stil der Werbeplakate. So nutzt Poroschenkos Stab für seine Schmutzkampagne in den letzten zwei Wochen vor der Stichwahl u.a. ähnliche Stilmittel wie Selenski sie während seiner ganzen Werbekampagne eingesetzt hat. Auch das wirkt eher hilflos.

So drängt Selenski seinen Gegner gewissermaßen in sein eigenes Genre: politischer Witz, Wortspiele, Doppelbödigkeit in der semantischen Deutung. Aber den Ton gibt eben Selenski an, während der andere dann versucht, mit gleichen Waffen zurückzuschlagen. Nur dass er sie nicht so gut beherrscht wie der Gegner.

Ich frage mich: Ist das alles Show? Veräppelt Selenski so ganz bewusst seinen Gegner? Oder auch der Wähler? Steckt hinter Selenski ein kluger Hofnarr mit ehrlichen Absichten oder ein Mephisto?

 

Mo, 22.04.2019           Nach der Stichwahl zum Präsidentenamt

Die Besserwessis in unseren Instituten und Medien sollten ihre Arroganz mal ablegen, die sich auch in ihren Bewertungen der Wahlen in der Ukraine 2019 zeigt, und anerkennen, dass die Demokratie in der Ukraine lebendiger ist als in Deutschland, und das trotz ungebremster Korruption, eines Bürgerkriegs und wirtschaftlicher Ausbeutung durch die eigenen Oligarchen, seit 2014 im Verein mit der globalen Finanzmafia.

Was hatten die Protestwähler in Deutschland bei den letzten Wahlen unserem kaum weniger korrupten politischen Establishment (bei uns heißt Korruption nur euphemistisch Lobbyismus) entgegenzusetzen? Die AfD, die den Protest aufgreift und ihn kanalisiert in einen hilflosen Patriotismus, der sich die noch Schwächeren und noch übler Ausgebeuteten zum Feindbild macht. Dabei vertritt die AfD in ihrem Parteiprogramm beinharten Neoliberalismus, den sie genauso gegen die meisten ihrer Wähler wenden wird wie gegen die vermeintlich Schuldigen, nämlich gegen all die „Überflüssigen“, das neue Lumpenproletariat, aus anderer Herren Länder. Wie armselig.

Die Ukrainer zeigen mit ihrer Protestwahl für den – nein, nicht Komiker, sondern Schauspieler, Bühnenkünstler und politischen Kabarettisten – Selenski neben einem guten Sinn für Humor auch ein vitales Gefühl für Demokratie und den Mut, mit der etablierten politischen Kaste radikal zu brechen. Denn aus allem, was Selenski und sein Team bisher zu ihrem politischen Programm verlautbaren ließen, spricht genau nicht die weitere Spaltung der Gesellschaft in die verschiedenen Lager, spricht nicht die Fortsetzung eines Feindbildes – sei es jetzt Russland, die Separatisten oder selbst die Ultra-Nationalisten in der Ukraine. Nein, aus seinen Botschaften, die es durchaus gibt und die die deutschsprachigen Medien erstaunlich konstant ignorieren, spricht der Wunsch nach Versöhnung, nach Kompromissen, nach machbaren Lösungen, die beiden Seiten zugutekämen. Er ist ein Kandidat des Sowohl-als-Auch, nicht ein Kandidat der Spaltung, die sein Kontrahent Poroschenko bis zuletzt so verbissen betrieben hat. Das hat dann übrigens noch mehr Wähler in der Ukraine auf Selenskis Seite gebracht.

Die Ukrainer wollen keine Spaltung mehr, denn sie haben nach dem sog. Euro-Maidan, der von den Machthabern und ihren Helfershelfern moralisch und symbolisch zur „Revolution der Würde“ aufgeladen wurde, sehr wohl verstanden und bitter erfahren müssen, dass alles, was auf diese ursprünglich wirklich aus der Mitte der Gesellschaft kommende Protestbewegung folgte, die Gesellschaft nur spaltete. Alle Verdienste, die sich Poroschenko zugutehält – „Reformen“ beim Militär, bei der Nationenbildung und in der Kirche – münden in einer Spaltung der Gesellschaft in die Linientreuen und die Anderen, nach dem Motto: Wir sind die Guten, alle anderen sind die Schlechten und deshalb unsere Feinde, die zu bekämpfen sind. Wer mit der zwangsweisen Ukrainisierung nicht einverstanden ist, ist ein Sympathisant von Putin. Wer gegen den Krieg im Osten ist, unterstützt die Terroristen. Der Krieg ist kein Bürgerkrieg, sondern eine Antiterroristische Operation. Russisch ist nicht die Sprache, die von mind. 40% der Ukrainer im Alltag gesprochen wird, sondern die Sprache des Feindes. Die Orthodoxe Kirche ist nicht die jahrhundertealte Glaubensgemeinschaft für den Großteil der Ukrainer, sondern ein Hort russischen Einflusses auf die unterjochten Ukrainer.

Dieser giftigen und lebensfeindlichen Propaganda sind sehr viele Ukrainer nicht gefolgt. Diese Propaganda hat ihre beabsichtigte Wirkung verfehlt. Das ist es, was mir erst jetzt, in diesem wirklich verrückten Wahlkampf, klar geworden ist. Viele Menschen in der Ukraine haben diese Propaganda als solche erkannt und ihr ein ganz klares NEIN entgegengestellt.

Sie konnten das aber erst, nachdem Selenski in der Neujahrsnacht seine Kandidatur fürs Präsidentenamt verkündetet hat. Und das wenige Minuten vor der Neujahrsansprache des amtierenden Präsidenten Poroschenko auf einem anderen Kanal. Welch ein Drehbuch! Selenski hat ihm also damals schon die Show gestohlen. Um die Dramaturgie dieser Inszenierung besser zu verstehen, gehen wir ein paar Schritte zurück und lassen die einzelnen Ereignisse nochmal Revue passieren.

2015 startet der ukrainische TV-Kanal 1+1, der dem Oligarchen Kolomoiski gehört, eine Politdrama-Serie, die von der TV-Produktionsgesellschaft „Kvartal 95“ produziert wurde. Titel der Serie: „Diener des Volkes“. „Kvartal 95“ ist eine Medienfirma, die Selenski mit seinem Team gegründet hat. Sie produziert die gleichnamige Kabarett-Show, die ebenfalls auf dem Kanal 1+1 ausgestrahlt wird, und die dem Genre nach nicht der Komik, sondern dem Kabarett zuzurechnen ist. Denn wenn auch die Anfänge von „Kvartal 95“ in den Komiker-Wettbewerben KVN (russische Abkürzung für: Club der Fröhlichen und Findigen, der eine lange Tradition aus Sowjetzeiten hat) liegen, so haben seine Shows in den letzten Jahren an Schärfe gerade in Richtung politischen Kabaretts deutlich gewonnen. Die Politik von Poroschenko & Co. ebenso wie die groteske Oligarchie in der Ukraine boten auch weiß Gott genug Stoff dafür. Tatsache bleibt aber: der Oligarch Kolomoiski und Selenski sind seit Jahren gute Geschäftspartner.

Nun zur Serie, die inzwischen auch westliche Journalisten zur Kenntnis genommen haben, leider erst im Kontext des Wahlkampfes, also eigentlich viel zu spät, um die Entwicklung als Ganzes besser einordnen zu können. Ich bezweifle außerdem, dass sie sie wirklich gesehen haben, denn sie umfasst immerhin zwei Staffeln mit jeweils 21-24 Folgen. Die ersten drei Folgen der offiziell dritten Staffel wurden bemerkenswerterweise kurz vor dem Wahltag ausgestrahlt. Während Poroschenko also von einer Wahlkampfveranstaltungen zur anderen geeilt ist, war Selenski noch mit den Dreharbeiten zu den neuen Serienfolgen beschäftigt. Man kann das als eine neue Art des Wahlkampfes interpretieren.

In der Serie wird, so erfahren es jetzt auch die deutschen Medienkonsumenten, ein einfacher Geschichtslehrer namens Holoborodko (sprechender Name mit der Bedeutung in etwa: Nackt- oder Hungerbart) völlig überraschend für ihn selbst zum Präsidenten gewählt. Der junge und beliebte Lehrer kommt aus einer ganz normalen, typischen Familie der gebildeten Mittelschicht, lebt nach der Scheidung von seiner Frau wieder bei seinen Eltern und hat einen etwa achtjährigen Sohn, dem er ein guter Vater ist. Den Coup der Wahl zum Präsidenten verdankt er seinen Schülern, die ihn cool finden, weil er authentisch und fair ist. Alles Folgende schildert dann dramaturgisch gekonnt und filmisch lobenswert die Abenteuer dieses Gutmenschen im Haifischbecken der ukrainischen Kleptokratie ebenso wie der globalen Finanzoligarchie. Die Serie ist super spannend gemacht und wirkt sehr realitätsnah, auch hinsichtlich einzelner politischer Figuren und der wichtigsten Oligarchen als Lenker im Hintergrund. Es ist, leicht verfremdet, ein Who is Who des ukrainischen Politikbetriebs und seiner Hintermänner.

Zeitlich parallel zur Ausstrahlung der Serie werden die Inhalte in den Shows von „Kvartal 95“ immer bissiger in ihrer Kritik. Besonders haben es die Lieder in sich, die die Truppe immer am Ende jeder Show auf die Bühne bringt. Deren Texte entlarven teils mit bitterem und schwarzem Humor schonungslos die Machenschaften der heimischen Eliten, aber auch den Status quo des Landes auf dem Schachbrett der großen globalen Politik, sie geben auf hohem künstlerischen Niveau allen Sorgen und Nöten der Bevölkerung Ausdruck. In einem der Lieder wird die Vision einer künftigen freien und prosperierenden Ukraine entworfen, die zum Magneten für Investoren und Gäste aus Europa und der westlichen Welt geworden ist. Das alles spricht die Menschen unmittelbar an, man kann sich der Wirkung dieser Songs kaum entziehen. Sie mobilisieren eine neue Form des Patriotismus, der sich nicht abgedroschener und verlogener Slogans bedient, sondern Hoffnung und Vertrauen wiedererweckt. Die Zusammenschnitte dieser Songs auf youtube weisen millionenfache Klicks auf, ebenso wie alle Shows von „Kvartal 95“. Wer besser verstehen will, wie die Ukraine zur Zeit tickt, kommt nicht umhin, auch diese Erscheinungen der Pop-Kultur in seine Analyse miteinzubeziehen.

Etwa ein Jahr nach den letzten Folgen von „Diener des Volkes“ beginnt der Wahlkampf um die Präsidentschaftswahl, wobei im Herbst dieses Jahres auch noch Parlamentswahlen anstehen. Wir sind im Superwahljahr 2019. Nach der Sommerpause 2018 ist das Zentrum von Kiew voll mit politischer Werbung. Themen sind vor allem: der Krieg, pardon, die Antiterroristische Operation im Osten, die Krim, die reformierten militärischen Strukturen der Ukraine, die für die Sicherheit des Landes unerlässlich seien, Opfer der russischen Aggression, Religion und Kirche, die als Schutzmacht beschworen werden, Heldentum, Vaterlandsverteidigung. Der Gesamteindruck: Militarismus, gepaart mit Nationalismus, moralisch und religiös aufgeladen. Eine sehr ungesunde Mischung, die einen anwidern muss, wenn man den Sinn für gesunde menschliche Werte noch nicht ganz verloren hat.

Die Politserie sitzt noch in den Köpfen der Ukrainer, als sich gegen Ende 2018 die Gerüchte verdichten, dass Selenski vielleicht tatsächlich für das Amt des Präsidenten kandidieren wird. Denn zwischen all der Politwerbung tauchen jetzt großflächige Werbeplakate auf mit der Aufschrift „Diener des Volkes – demnächst“. Sie beziehen sich klar auf die Serie, das Publikum wird darüber informiert, dass die Serie demnächst weiter geht. Doch sie provozieren auch Mutmaßungen, ob Selenski nicht doch in die reale Politik gehen wird. Sie bleiben weiterhin nur Gerüchte.

Dann passiert der Zwischenfall in der Meeresenge bei Kertsch, als ukrainische Militärschiffe durch die russische Marine an der Durchfahrt ins Asowsche Meer gehindert werden. Der Zwischenfall wird von Poroschenko hochgespielt, er erklärt in Teilen des Landes das Kriegsrecht. Manche Kommentatoren meinen, er wolle diese Krise dafür nutzen, die Präsidentschaftswahl hinauszuzögern, um Zeit zu gewinnen und weil er ahnt, dass seine Chancen auf eine Wiederwahl nicht rosig sind. Doch anstatt sein Volk angesichts der neuen „Aggression durch Russland“ hinter sich scharen zu können, sinkt seine Popularität im Volk zunehmend.

Mit seiner Ankündigung zu Neujahr, dass er nun tatsächlich kandidiert, lässt Selenski dann eine Bombe platzen. Die Sendezeit, sein authentischer Auftritt, der sprachlich bravourös formulierte Text – die gesamte Inszenierung wirkt wie ein Befreiungsschlag. Obwohl diese Ankündigung nicht wirklich unerwartet kam, fragten sich doch viele ungläubig, ob das wirklich wahr sein kann. Die Grenze zwischen Realität und Fiktion verschwimmt, man ist sich des Risikos bewusst und doch lockt irgendwo der Kitzel nach dem Motto: wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Und vor allem: es gibt keine überzeugende Alternative zu diesem Experiment. Denn die anderen Kandidaten haben sich komplett diskreditiert oder sind zu marginal.

So verkörpert Selenski zweifellos die Sehnsucht vieler Ukrainer nach dem „neuen Leben“, das Poroschenko & Co ihnen 2014 versprochen haben, das jedoch in den letzten fünf Jahren in weitere Ferne gerückt ist, als es davor schon schien. Vor diesem Hintergrund konnte nur der Kandidat Selenski den Enttäuschten und Verführten eine Alternative und die Aussicht anbieten, dass dieses „neue Leben“ vielleicht doch möglich ist.

Rasch baut Selenskis Team eine Werbekampagne auf, die sich in den meisten seiner Elemente deutlich von dem abhebt, was man als typische Wahlwerbung kennt. Zwar gibt es auch Wahlplakate in der Stadt, die mit flotten Sprüchen, Kalauern und verdeckten Zitaten schon sehr alternativ wirken. Doch die eigentlichen Werbeflächen von Selenski sind die sozialen Netzwerke und sein Kanal auf youtube. Selenski tritt als Kandidat der Partei „Diener des Volkes“ an, zu seinem Markenzeichen wird die Abkürzung seines Nachnamens „ZE!“ und der Spruch „ZE-Präsident“. Sein Team und er treten in einen direkten Dialog mit dem Wahlvolk ein, sie befragen die Bürger zu verschiedenen Themen, es wird ein Wettbewerb für Slogans ausgelobt und die Gewinner-Texte kommen mit namentlicher Nennung der Autoren auf seine Wahlplakate. Sein Team stellt ein Parteiprogramm zusammen, das u.a. Elemente der direkten Demokratie, den ständigen Dialog mit der gesamten Öffentlichkeit und Überlegungen zu einem allgemeinen Grundeinkommen enthält. Und den Willen zum Frieden und zur Überwindung der Konfrontation mit Russland.

Klar, dass das Poroschenko-Lager alles Mögliche und Unmögliche aus dieser ungewöhnlichen Wahlkampagne aufgreift, um es gegen Selenski zu wenden. Die Angriffe überbieten einander an Niedertracht. Damit schießt sich das Poroschenko-Lager ein Eigentor nach dem anderen.

Manche Beobachter und Journalisten, v.a. in westlichen Medien, ordnen Selenskis Wahlkampagne sofort unter Populismus ein, betiteln Selenski als Clown oder Komiker, bemängeln ostentativ den Mangel an politischer Erfahrung und das Fehlen eines politischen Programms. Sie verkennen und unterschätzen dabei leider die eigentlich innovativen und überraschenden Elemente dieser Kampagne sowie die Tatsache, dass sie sehr wahrscheinlich Teil einer größeren Inszenierung sind, welche in Zukunft das politische Geschehen nicht nur in der Ukraine immer stärker bestimmen wird, nämlich das Aufweichen der Grenzen zwischen „ernster“ Politik und Show, Unterhaltung, Dialog mit dem Publikum in sozialen Netzwerken. Wer dies nur als Populismus im Sinne eines Niedergans einer politischen „Hoch“-Kultur interpretiert, klassifiziert ihn als Abweichung von einer Norm, die es doch in der vorgeblich „ernsten“ Politik sowieso kaum noch gibt, weil Politiker überall immer mehr zu Spielern bestimmter Interessensgruppen werden anstatt die Interessen ihrer Wähler durchzusetzen. Ich meine: das ist kein Populismus, sondern ein neuer Trend, „ernste“ Politik zu inszenieren. Die Ukraine fungiert dabei möglicherweise als Experimentierfeld, auf dem diese Mittel erprobt werden, wobei ich das künstlerische Niveau in diesem Fall als relativ hoch bezeichnen würde.

Wir halten fest: es gibt in der Ukraine schon seit 2015 eine immer schärfere politische Satire von Selenskis Künstlertruppe „Kvartal 95“, er integriert in sein Programm konsequent sowohl ein kritisches und realistisches Selbstbild zum Entwicklungsstand des Landes als auch eine Vision für seine Zukunft, und das alles unter Einbeziehung von Humor, Satire und Selbstkritik. Das ist beachtlich!

Und doch bleiben wichtige Fragen unbeantwortet: wieso lässt sich Selenski auf dieses Spiel ein? Als erfolgreicher Medienunternehmen braucht er weder Ruhm noch Geld, weil er beides zu Genüge hat. Was ist seine Motivation, die Bürde eines Präsidentenamts auf sich zu nehmen, um die man ihn angesichts der Zustände im Land sicher nicht beneiden muss? Soll man ihm dafür dankbar sein, dass er den Bürgern der Ukraine bei dieser Wahl eine Alternative geboten hat, die es ohne ihn nicht gegeben hätte? Opfert er sein bisher gutes Leben tatsächlich für die Zukunft des Landes und für seine Mitbürger?

Oder dient diese ganze Inszenierung noch einem anderen Spiel, das ihm und seinen Förderern, die ihn für ihre Interessen einspannen, zu einem anderen Geschäft verhelfen soll? Und wer sind diese Förderer und Strippenzieher in dem neuen Kapitel des Great Game?

Es ist noch zu früh für plausible Antworten, wir sind noch zu nah dran. Wir werden das Geschehen weiter aufmerksam beobachten müssen.

[Mona Bergholz/russland.NEWS]

 

 

 

 

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