„Keine Kultbücher mehr“: Professorin für Literaturübersetzung Maria ZorkajaMaria Zorkaja

„Keine Kultbücher mehr“: Professorin für Literaturübersetzung Maria Zorkaja

Am 30. September ist der Internationale Tag des Übersetzers, im deutschsprachigen Raum auch als Hieronymustag bekannt. russland.NEWS sprach mit  der Professorin für literarische Übersetzung am Moskauer Gorki-Literaturinstitut und bekannte Übersetzerin deutscher Literatur Maria Zorkaja über die Besonderheiten des Berufes.

Frau Zorkaja, Sie lehren am Gorki-Literaturinstitut in Moskau. Russland ist wahrscheinlich das einzige Land auf der Welt, in dem man einen Hochschulabschluss im literarischen Schaffen und künstlerischen Übersetzen machen kann.

Nein, unsere Hochschule ist nicht die einzige, wenn auch wahrscheinlich die älteste traditionelle literarische Bildungseinrichtung. Das Gorki-Literaturinstitut wurde 1933 (Sie werden es nicht glauben) von Maxim Gorki gegründet, was bedeutet, dass wir bald unser 90-jähriges Jubiläum feiern werden. Das Institut ist in einer der schönsten Villen Moskaus untergebracht, ein Architekturdenkmal, das von vielen Dichtern besungen wurde. Zu Zeiten der Sowjetunion gab es in der DDR ein Johannes-Becher-Literaturinstitut in Leipzig, das jedoch keineswegs nach dem Vorbild unserer Hochschule eingerichtet wurde. Dort studierten keine Schulabsolventen, sondern Erwachsene, die bereits einen Beruf ausübten, kreativ tätig waren und schon Veröffentlichungen vorzuweisen hatten. Unsere Studenten hingegen sind sehr jung, die meisten von ihnen kommen direkt nach dem Abitur zu uns. Heute ist es übrigens eine Fakultät an der Universität Leipzig. Einmal war ich dort zu einem Forum über das literarische Schaffen als Fach eingeladen, und da waren mindestens zwei Dutzend verschiedene Schulen vertreten, die das Handwerk des Schreibens unterrichten.

Aber kann man den Beruf des Schriftstellers oder Literaturübersetzer erlernen?

Die Antwort ist einfach: Man kann das nicht beibringen, aber man kann es lernen. Ich kann Sie genau so fragen: Kann man den Beruf des Komponisten erlernen? Aber viele Menschen studieren Komposition am Konservatorium. Das sind wahrscheinlich talentierte Menschen, die allerdings weder die Technik noch die Musiktheorie oder die Geschichte der Musik beherrschen. Das Gleiche gilt für Prosa, Lyrik und Theater. Wenn man an einem Literaturinstitut studiert, findet man sich unter Fachleuten wieder, die einem bei der Technik helfen können – zum Beispiel bei der Arbeit an der Auflösung einer Erzählung. Schließlich diskutiert man seine Arbeit in Seminaren. Das regt die Kreativität an. Niemand wird als Dichter oder literarischer Übersetzer geboren. Früher sagte man: Puschkin hat aber nie an einem Literaturinstitut studiert. Ja, das hat er tatsächlich nicht, aber was für hervorragende Professoren und Lehrer hatte er am Lyzeum von Zarskoje Selo! Wenn jemand also lernen will und Begabung dazu hat, kann so ein Studium einen sehr weit bringen.

Wie erklären Sie sich das große Interesse der jungen Leute für das Gorki-Literaturinstitut? Schließlich geht es hier um brotlose Kunst.

Für einen Sowjetmenschen sind nur die Dinge von Wert, bei denen man in einer Schlange stehen muss. Übrigens möchte ich Ihnen ein Beispiel mit dem Coronavirus geben. Alle fragen, warum sich die Russen nicht impfen lassen? Weil man die Impfung buchstäblich an jeder Ecke bekommen kann. Nur das, was knapp ist, ruft einen Ansturm in unserem Land hervor. Heutzutage stehen die Abiturienten allerdings nicht mehr Schlange. Früher war es prestigeträchtig, ein Schriftsteller zu sein. Deswegen wollte man unbedingt an so einer Hochschule studiert haben. Allerdings können wir auch heute über einen Mangel an Studenten nicht klagen.

Sie übersetzen schon seit langem deutschsprachige Literatur ins Russische. Wie interessant ist sie für den russischen Leser? Gibt es deutsche Gegenwartsautoren, die in Russland wirklich bekannt sind?

Ich muss sagen, dass das leider nicht der Fall ist. Umgekehrt kennen die Deutschen auch die zeitgenössische russische Literatur kaum. Der letzte Name, den die Deutschen kennen, ist wahrscheinlich Anton Tschechow. Und auch nur, weil seine Stücke in Deutschland in vielen Theatern aufgeführt werden. Aber fragen Sie einen Durchschnittsdeutschen, welche zeitgenössischen deutschen Schriftsteller er kennt. Gibt es Autoren, die jeder liest und über die alle sprechen? Früher gab es Bücher, die einen Kultstatus hatten, mit denen jeder aufgewachsen ist und die jeder zitiert hat. Im Russland der 1970er und 80er-Jahre war es Bulgakows Roman „Der Meister und Margarita“. Die Moskauer Intelligenz liebte es, aus dem Roman zu zitieren und jeder, der Zitate nicht verstand, gehörte einfach nicht dazu. Heute gibt es jedoch keine solchen Bücher mehr. Die einzige Ausnahme ist vielleicht „Harry Potter“.

Haben Sie persönlich einen deutschen Lieblingsschriftsteller?

Ich fürchte, ich muss Sie enttäuschen, wenn ich sage, dass es immer noch Erich Maria Remarque ist. Der übrigens in Deutschland gar nicht so bekannt ist. Unter den Autoren, die ich selbst übersetzte, würde ich gern den Schweizer Franz Hohler hervorheben. Ich habe seinen Roman „Gleis 4“ und gerade die Novelle „Die Rückeroberung“ übersetzt. Er ist Kabarettist und Liedermacher, und schreibt sehr anschaulich, mit einem sehr subtilen und tiefgründigen Sinn für Humor. Er kann mit einem Satz vielleicht mehr erreichen als mit einem ganzen Roman. Das, was man ein Bild der Gesellschaft in zwei Sätzen nennt. Ich kenne allerdings keinen Schriftsteller dieses Kalibers in Deutschland.

Glauben Sie, dass sich die politische Konjunktur in irgendeiner Weise in der Auswahl der Autoren durch die Verlage widerspiegelt? So weigern sich beispielsweise viele europäische Verleger, mit dem bekannten russischen Schrifsteller Sachar Prilepin weiter zusammenzuarbeiten, als dieser zum Rechtsradikalen wurde und sogar im Donbass-Krieg kämpfte.

In unserem Land spielt Politik bei der Wahl ausländischer Schriftsteller keine Rolle. Wir haben allerdings sehr strenge Gesetze, es muss auf jedem Buch stehen, ab welchem Alter es gelesen werden darf. Dies sind jedoch keine politischen Einschränkungen. Ich habe den Eindruck, dass nur der Marktwert des Buches für die Auswahl von Bedeutung ist. Wenn ich als Übersetzerin einem Verlag ein Buch vorschlagen möchte, übersetze ich einen Teil des Buches und füge eine Zusammenfassung bei. Die Entscheidung, ob es sich gut verkaufen lässt oder nicht, liegt bei den Marketingverantwortlichen des Verlags. Und sie haben das Sagen.

Was ist, wenn das Buch zum Beispiel von homosexueller Liebe handelt?

Das bedeutet, dass es mit „18plus“ Kennzeichnung auf den russischen Büchermarkt kommt. Nicht mehr und nicht weniger.

Ich komme nicht umhin zu fragen: Wie hat sich die Pandemie auf Sie ausgewirkt?

Als Dozentin musste ich online unterrichten. Und das ist furchtbar. Schließlich arbeite ich mit einer kleinen Gruppe von Übersetzern aus dem Deutschen, die ich seit fünf Jahren unterrichte. Es entsteht eine Gemeinschaft, in der ein sehr intensiver kreativer Austausch stattfindet. Das ist etwas ganz Anderes als Vorlesungen, die auch in einem Online-Format gehalten werden können. Aber als Übersetzerin bin ich davon in keiner Weise betroffen. Im Gegenteil, der Übersetzer sitzt zu Hause und übersetzt. Das Goethe-Institut hat übrigens ein YouTube-Projekt namens „Übersetzer in Quarantäne“ durchgeführt. Und alle, die daran teilnahmen, sagten wie aus einem Mund: „Das ist großartig, ich stehe morgens auf und gehe direkt zum Arbeitstisch“.

Haben Sie keine Angst, dass eines Tages ein Literaturübersetzer durch eine Maschine ersetzt wird?

Niemals! Genauso wenig wie ein Roboter einen echten Autor übertreffen kann, wird er auch keinen Übersetzer ersetzen. Es gibt einen Teil von „Game of Thrones“, der komplett von einer künstlichen Intelligenz geschrieben wurde. Aber nur, weil alle Teile davor meiner Ansicht nach tote Geschöpfe sind. Doch niemals wird ein Computer in der Lage sein, die Szene des ersten Balls von Natascha Rostowa aus dem Roman „Krieg und Frieden“ von Leo Tolstoi zu wiedergeben. Und folglich kann auch keine Übersetzungssoftware ihre Persönlichkeit, ihre Gefühle in eine andere Sprache übertragen.

Daria Boll-Palievskaya

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