Ist Fëdor Dostoevskijs Traum zur Utopie geworden?

von Hanns-Martin Wietek (Literaturessays finden Sie hier)

Am 8. Juni 1880 wurde in Moskau das Puschkindenkmal enthüllt. Unter anderen hielt auch Dostoevskij eine Festrede. Niemand ahnte, dass dies sein letzter öffentlicher Auftritt werden würde – er starb 6 Monate später. Seine leidenschaftliche Rede wurde zu seinem Testament, das man gerade heute wieder und wieder lesen sollte. Hier der wichtigste Absatz, in dem er seine im Leben schwer erkämpfte Überzeugung ausdrückte:

Ja, die Bestimmung des russischen Menschen ist zweifellos alleuropäisch und allweltlich. Ein wirklicher Russe, ganz Russe sein, heißt vielleicht nur (letzten Endes, ich bitte das zu unterstreichen) ein Bruder aller Menschen sein, ein Allmensch, wenn man so will. Unser ganzes Slawophilentum und Westlertum (1) ist nur ein großes, wenn auch historisch notwendiges Missverständnis. Dem echten Russen ist Europa und das Los des großen arischen Stammes ebenso teuer wie Russland selbst, wie das Los seiner heimatlichen Erde, denn unser Los ist die Allweltlichkeit, und zwar keine mit dem Schwerte erkämpfte, sondern eine durch die Kraft der Brüderlichkeit und des brüderlichen Strebens nach einer Vereinigung der Menschen erworbene.

Wenn man in unsere Geschichte nach der Reform Peters eindringen will, so findet man schon Spuren und Andeutungen dieser Idee, dieses meines Gedankens, wenn man will im Charakter unserer Beziehungen zu den Völkern Europas, sogar in unserer Staatspolitik. Denn was tat Russland diese zwei Jahrhunderte lang in seiner äußeren Politik anderes, als dass es Europa diente, vielleicht sogar in viel höherem Maße als sich selbst?

Ich glaube nicht, dass dies nur auf der Unfähigkeit unserer Politiker beruhte. Die Völker Europas wissen gar nicht, wie teuer sie uns sind! In der Zukunft, ich glaube daran, werden wir, d. h. natürlich nicht wir, sondern die zukünftigen russischen Menschen alle ohne Ausnahme begreifen, dass echter Russe sein nichts anderes bedeutet als: Danach streben, die europäischen Widersprüche endgültig zu versöhnen, der europäischen Sehnsucht den Ausweg in der russischen allmenschlichen und allvereinenden Seele zu zeigen, in sie mit brüderlicher Liebe alle unsere Brüder aufzunehmen und schließlich und endlich vielleicht auch das endgültige Wort der großen allgemeinen Harmonie auszusprechen, der brüderlichen endgültigen Einigung aller Völker nach dem Gesetze Christi und des Evangeliums!

Ich weiß, ich weiß allzu gut, dass meine Worte ekstatisch, übertrieben und fantastisch erscheinen können. Sollen sie es nur, ich bereue nicht, dass ich sie ausgesprochen habe. Das musste ausgesprochen werden, besonders aber jetzt, bei der Ehrung unseres großen Genies, das gerade diese Idee mit seiner künstlerischen Kraft verkörpert hat.

Dieser Gedanke ist ja schon mehr als einmal ausgesprochen worden, und ich sage durchaus nichts Neues. Vor allen Dingen wird es als Selbstüberhebung erscheinen: „Wir und unser armes, rohes Land sollen eine solche Bestimmung haben? Uns ist es vorbehalten, der Menschheit ein neues Wort zu verkünden“ Nun, spreche ich denn von wirtschaftlichem Ruhm, vom Ruhm des Schwertes oder der Wissenschaft? Ich spreche ja nur von der Verbrüderung der Völker und davon, dass das russische Herz zu so einer allmenschlich-brüderlichen Vereinigung vielleicht mehr als die Herzen aller anderen Völker vorbestimmt ist, und ich sehe Hinweise darauf in unserer Geschichte, in unseren begabten Menschen, im künstlerischen Genie Puschkins.

Fjodor Michailowitsch Dostojewski (auch Dostojewskij) * 11. November 1821 – † 9. Februar 1881
übersetzt von Alexander Eliasberg

Nach dieser Rede bekam Dostoevskji frenetischen Beifall. Andere Geistesgrößen, die eigentlich auch zu Puschkin sprechen sollten, verzichteten, denn sie meinten, nichts Größeres könne noch gesagt werden.

(1) Der seit Jahrhunderten bis heute herrschende Streit zwischen denen, die sich der Kultur des Westens anlehnen wollen, und denen, die auf ihrer eigenständigen russischen Kultur beharren.

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