„Sehr geehrte Fahrgäste! Denken Sie daran, dass das Tragen von Masken in öffentlichen Verkehrsmitteln immer noch Pflicht ist“. Die Stimme des Sprechers in der Moskauer Metro klingt fast flehentlich. Die meisten Fahrgäste ignorieren sie eindeutig. Vor einem Monat waren nach meinen persönlichen Beobachtungen viel mehr Menschen in Moskau mit Nasenmundschutz unterwegs. Allerdings konnte man auch damals nicht darüber reden, dass diese Regel von der Mehrheit befolgt wurde. Ich steige in einen U-Bahn-Wagen. Hier klingt die Ansage nicht wie eine Aufforderung oder Erinnerung, sondern wie eine Art Anbiederung: „Liebe Fahrgäste, danke, dass Sie immer Masken tragen!“ Von wegen „immer“! Man hat den Eindruck, dass die Moskauer einfach die Nase voll von Covid-19 haben. Und die Pandemie einfach ignorieren. Mehr oder weniger erfolgreich.
Unterdessen ist die Corona-Statistik in Moskau alles andere als beruhigend. Jeden Tag erkranken in der russischen Hauptstadt 3275 Menschen an Covid-19 (Angaben vom 26. September). Die Zahl ist fast dreifach so hoch wie in den letzten Augusttagen (1152 neue Fälle am 31. August). Am ersten September begann in ganz Russland ein neues Schuljahr für Schüler und Studenten. Deshalb lassen sich diese Statistiken durch die Rückkehr der Moskauer aus dem Urlaub erklären. Während der Pandemie wurden in Moskau insgesamt 1.620.990 Fälle von Covid-19-Infektionen registriert, 28.729 davon mit Todesfolge. Täglich sterben bis zu 60 Menschen. Dabei können die Moskauer buchstäblich an fast jeder Ecke geimpft werden – in Einkaufszentren zum Beispiel und sogar vor den Metrostationen – an vielen U-Bahn-Stationen sind mobile Impfstellen eingerichtet. Die Einwohner der Hauptstadt sind jedoch immer noch nicht davon überzeugt, dass die Impfung die einzige Möglichkeit ist, die Epidemie zu besiegen. Meine Cousine ruft mich an, sie und ihre alte Mutter sind beide an Covid-19 erkrankt. Die Mutter befindet sich im kritischen Zustand im Krankenhaus. „Warum habt ihr euch nicht impfen lassen?“, wundere ich mich. „Impfung? Nein, davon war irgendwie keine Rede“, antwortet mir die 47-jährige Redakteurin verblüfft. Ich frage mich, auf welchem Planeten sie lebt, auf dem „keine Rede“ über die Notwendigkeit einer Impfung gab. Bisher sind in Moskau mit seinen über 12 Millionen Einwohnern nur 5 Millionen Menschen mit mindestens einer Komponente des Impfstoffs geimpft worden, das sind 39,5 Prozent der Bevölkerung (47 Prozent der erwachsenen Bevölkerung). 28,5 Prozent sind vollständig geimpft. Diese Zahlen reichen eindeutig nicht aus, um von Massenimmunität zu sprechen.
Als ich mich der unterirdischen U-Bahnstation nähere, verändert sich die Landschaft vor mir wie von Zauberhand – alle Menschen sind „maskiert“. Mich hat es inzwischen von der russischen Hauptstadt in die deutsche Hauptstadt verschlagen. Während der wenigen Tage meiner Dienstreise habe ich nicht eine einzige Person gesehen, die nicht nur ohne Maske war, sondern sich sogar erlaubte, die Maske unter die Nase zu ziehen. Obdachlose, Junge und Alte, Menschen aller Hautfarben, Touristen und offensichtlich „Einheimische“ – alle trugen an so genannten „öffentlichen Orten“ stets Nasenmundschutz. „Eines Tages wurde mir in der U-Bahn schlecht, als ich auf einen Zug wartete. Ich hatte das Gefühl zu ersticken, also habe ich meine Maske heruntergezogen“, erzählte mir eine Freundin aus Berlin. „Prompt standen Sicherheitsleute vor mir und drohten mir mit einer Geldstrafe. Ich fühle mich krank, sagte ich, lasst mich fünf Minuten lang atmen. Daraufhin reichte mir einer von ihnen seine Maske, indem er sie aus seiner Hosentasche zog“. Schauen wir uns die Berliner Covid-19-Statistik an. Seit Beginn der Pandemie wurden hier insgesamt 204.000 Fälle bei einer Bevölkerung von 3.766.082 Einwohnern registriert. Es gab 3.624 Todesfälle. Am 27. September wurden in Berlin 17 neue Corona-Fälle gemeldet. 67,1 Prozent der Berlinerinnen und Berliner sind mindestens einmal geimpft und 63,6 Prozent sind vollständig geimpft.
Wie man so schön sagt: Sie können Ihre Schlüsse selbst ziehen.
Daria Boll-Palievskaya
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