„Eine andere Trinkkultur“: russischer Psychotherapeut zum Problem des Alkoholismus in RusslandValentin Agadzanov

„Eine andere Trinkkultur“: russischer Psychotherapeut zum Problem des Alkoholismus in Russland

Valentin Agadzanov, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in Düsseldorf, im Gespräch mit russland.NEWS über den ewigen Mythos des russischen Alkoholismus.

Herr Doktor Agadzanov, Russland gilt als ein Land mit dem höchsten Alkoholkonsum der Welt. Man kann sich einen Russen ohne Wodka nicht vorstellen …

Valentin Agadzanov: Das ist ein Stereotyp, das nichts mit der Realität zu tun hat. Laut einer Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zum Alkoholkonsum belegt Russland mit 11,1 Litern pro Person die siebte Stelle. Gefolgt übrigens von Deutschland (achter Platz mit 10,8 Liter pro Kopf). Die Zahlen sprechen also für sich. Gleichzeitig ist anzumerken, dass der Alkoholkonsum in Russland seit 2007 deutlich zurückgegangen ist. Allerdings haben Russen eine andere Trinkkultur. In Russland ist es üblich, hochprozentige alkoholische Getränke zu trinken, einfacher ausgedrückt Wodka. In Deutschland ist es Bier, in Frankreich Wein. Diese Tradition hat vor allem mit dem Klima zu tun, denn Russland ist das kälteste Land der Welt. Hinzu kommt, dass das Leben in Russland immer schwierig war und Wodka hilft zu überleben. So wurde Wodka in vielen Bereichen verwendet, um sich warm zu halten, als Medizin und als Antiseptikum zur Abtötung von Mikroben, wie zum Beispiel in Indien sehr scharfe Gewürze verwendet werden. Darüber hinaus ist hochprozentiger Alkohol ein kalorienreiches Produkt. Auf diese Weise können Sie schnell genug Energie bekommen.

Vor kurzem fuhr im Herzen Moskaus ein berühmter Schauspieler in betrunkenem Zustand auf die Gegenfahrbahn und fuhr ein Auto an, dessen Fahrer starb. Dies war der Grund für hitzige Diskussionen über Alkohol am Steuer in Russland. Die meisten Russen verurteilen das Verhalten des Stars.

Valentin Agadzanov: Man sollte verstehen, dass Alkoholismus eine Krankheit ist, die zur Gruppe der Süchte gehört. Wenn wir eine Grippe bekommen, haben wir eine soziale Verantwortung. Zum Beispiel gehen wir nicht zur Arbeit, um unsere Kollegen nicht anzustecken. Alkoholismus hat einen noch viel höheren sozialen Einfluss auf Leben bzw. enorme soziale Folgen. Tatsache ist, dass sich die Verhaltensstandards eines Alkoholikers ändern. Seine Persönlichkeit wird durch Alkohol ersetzt. Für einen Alkoholabhängigen beziehen sich alle Witze auf das Trinken, Essen wird als Aperitif bezeichnet, praktisch ist sein ganzes Leben dem Alkohol untergeordnet …

Der Anwalt des Schauspielers berichtete kürzlich, dass der Beschuldigte am Tag des Unfalls getrunken habe, weil er angeblich vom Tod eines geliebten Menschen erfahren habe. Kann das eine Entschuldigung sein?

Valentin Agadzanov: Natürlich nicht. Aber hier müssen wir die Grundursache verstehen. Schließlich entwickelt nicht jeder Mensch eine Alkoholsucht. Wenn eine Person psychische Schmerzen und Ängste hat und Alkohol als Hilfe benutzt, wird sie garantiert zum Alkoholiker. Das heißt, zu trinken, um seine Depressionen, Unzufriedenheit zu bewältigen und seinen Rückzug aus der Realität zu bewirken, bedeutet, Alkoholabhängigkeit zu entwickeln. Alkohol hemmt die geistige Aktivität, verursacht gefährliche Euphorie, baut Ängste und Barrieren ab. Aber wenn die Wirkung von Alkohol aufhört, entwickelt eine Person eine Depression, die durch den Konsum von Alkohol verursacht wird. Es stellt sich ein Teufelskreis heraus: Ein Mensch fühlt sich schlecht, er trinkt, nach seiner Ernüchterung geht es ihm wieder schlecht und er trinkt wieder. Die Frage ist also nicht, wie viel Sie trinken, sondern warum. Denken Sie daran, was der Säufer in „Der kleine Prinz“ sagte: „Ich trinke, um zu vergessen, dass ich mich schäme, weil ich saufe.“

Gibt es einen Unterschied in der Behandlung von Alkoholismus in Deutschland und in Russland?

Valentin Agadzanov: In Deutschland wird Alkoholismus mit der sogenannten Substitutionstherapie behandelt. Das heißt, Alkohol wird durch eine andere Substanz ersetzt, und dann wird die Dosis allmählich verringert. In Russland ist der Ansatz grundlegend anders. Dort gilt eine Trunkenheit als Intoxikation, so dass Entgiftungsmaßnahmen ergriffen werden, zum Beispiel bekommt der Patient eine Infusion oder es wird eine Plasmapherese durchgeführt. Übrigens hat das auch eine lange Tradition in Russland. Um den Kater loszuwerden, trinken die Menschen in Russland Milch oder Gurkenlake. Und das ist nichts anderes als die Entgiftung mit Hausmitteln, das heißt die Reinigung des Blutes von Alkoholmolekülen. In Deutschland tätige Ärzte russischer Herkunft verfolgen einen kombinierten Ansatz. Das heißt, eine Kombination der modernsten Entwicklungen bei der Behandlung von Alkoholismus im Komplex. Und die Ergebnisse sind am effektivsten.

In der Sowjetunion wurden die Alkoholiker „zugenäht“. Was bedeutet diese Methode genau?

Valentin Agadzanov: Das waren Medikamente, die Opioid-Blocker in den Körper absondern. Außerdem gab es die sogenannte aversive Therapie, die die moderne Medizin heute ablehnt. Sie hat man in den 30er-Jahren in der Sowjetunion und im nationalsozialistischen Deutschland verwendet. Wenn eine Person dabei trank, bekam sie eine negative Reaktion. Zum Beispiel starkes und langes Erbrechen, Herzklopfen oder unerträgliche Schmerzen. Es handelte sich um eine auf dem Bestrafungsprinzip basierende Therapie. Aber mit Strafe allein lässt sich das Verlangen eines Menschen nicht aufhalten. In einigen Ländern wird für Diebstahl die Hand abgehackt, und trotzdem wird immer noch gestohlen. Heutzutage gibt es Techniken, mit denen Menschen bewusst auf Alkohol verzichten. Zum Beispiel die Methode des kontrollierten Alkoholkonsums. Das ist der neueste Weg. Anonyme Alkoholiker oder das 12-Schritte-Prinzip gehören allmählich der Vergangenheit an.

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

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