«Dreistes Anlegen von Daumenschrauben»: russische Expertin über das Schicksal von Nord Stream 2Dr. Ekaterina Timoschenkowa

«Dreistes Anlegen von Daumenschrauben»: russische Expertin über das Schicksal von Nord Stream 2

Dr. Ekaterina Timoschenkowa ist stellvertretende Leiterin des Zentrums für Deutschlandforschungen am Europa-Institut der Russischen Wissenschaftsakademie

Seitdem Donald Trump an die Macht gekommen ist, hat der amerikanische Druck auf Deutschland bei Nord Stream 2 seinen Höhepunkt erreicht. Bereits im Dezember 2019 drohten die Amerikaner privaten Unternehmen, die am Bau von Nord Stream 2 beteiligt sind, mit Sanktionen. Im August 2020 wurde ein Drohbrief an den deutschen Hafen Mukran (Rügen) bekannt, bei dem diese Pipeline enden soll. Dieser Hafen ist ein staatlicher Hafen. Wenn also die Sanktionen gegen die Hafenbehörde verhängt werden, richten sie sich nicht nur gegen Geschäftsleute, sondern auch gegen Personen des öffentlichen Dienstes. Das heißt, es ist bereits ein offener Übergang zu Drohungen und in der Folge zu Sanktionen gegen den deutschen Staat selbst.

Deutschland hat eine schwierige Entscheidung zu treffen. Auf der einen Seite gibt es Stimmen von Experten, die es für notwendig halten, die Vereinigten Staaten in die Schranken zu weisen und eine angemessene Antwort zu geben, um die deutschen Interessen zu schützen. Auf der anderen Seite gibt es in der EU und in Deutschland selbst viele Kritiker und sogar Gegner von Nord Stream 2. Die ersten Reaktionen der deutschen Wirtschaft und Politik haben soeben gezeigt, dass die Gesellschaft empört ist über die dreiste Einmischung der Amerikaner in die inneren Angelegenheiten Deutschlands und die schlichte Frechheit, mit der sie dies tun. Es gab Forderungen nach einer Antwort. Um den Drohungen der USA mit ernsthaften Vergeltungsmaßnahmen zu begegnen, braucht Deutschland in dieser Frage jedoch die Unterstützung der EU. Um bestimmte Schmerzpunkte in den USA zu identifizieren, z.B. um Listen von Branchen oder Personen zu erstellen, die im Falle eines Übergangs der Amerikaner von Bedrohungen zu aktiven Aktionen unter Reaktionssanktionen fallen, sollten diese in der EU vereinbart werden. Es ist notwendig, die Rolle der amerikanischen Sanktionen zusammen mit den europäischen Partnern zu stoppen. Dann wird es effektiv und effizient sein.

Nach meinem Verständnis kann sich Deutschland einen solchen Schritt im Moment nicht leisten. Zunächst einmal übersteigen die wirtschaftlichen Interessen, die Deutschland und die Vereinigten Staaten verbinden, die Bedeutung der russisch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen. Die Kosten für den Verzicht auf das Nord Stream 2-Projekt werden niedriger sein als die Folgen des Sanktionskrieges mit Amerika. Die EU hatte und hat keine einheitliche Unterstützung für das Projekt. Eine Erhöhung der Bedeutung Deutschlands liegt nicht im Interesse der neuen EU-Mitglieder, die sich stärker an den USA orientieren.

So möchte Deutschland zwar seine Interessen und seine Ehre in dieser Angelegenheit verteidigen, hat aber nicht wirklich die Mittel, dies zu tun. So stellte sich die Frage: Wie kann die deutsche Politik in einer so schwierigen dramatischen Situation ihr Gesicht wahren? Schließlich kann die Kanzlerin nicht zu den Wählern hinausgehen und sagen: „Ja, da die USA uns bedrohen, haben wir beschlossen, unsere Positionen aufzugeben und uns zurückzuziehen“.

Aber die Situation mit Nawalny ist genau das, was zur Lösung dieses Problems beiträgt. Bis zum 7. September sprach Bundeskanzlerin Merkel über die Loyalität zum Projekt Nord Stream 2, über die Tatsache, dass es ein rein wirtschaftliches Projekt ist, das nichts mit Politik zu tun habe. Nun hat sie eine Erklärung abgegeben, dass sie einen Rückzug Deutschlands aus dem Projekt nicht ausschließt. Mit solchen Äußerungen gibt Angela Merkel denjenigen Kräften ein Zeichen, die sich Nord Stream 2 widersetzen und eine pro-amerikanische Position einnehmen. Ich meine damit die Grünen und teilweise auch Establishment der CDU. Indem die Kanzlerin Russland den Einsatz chemischer Waffen vorwirft, festigt sie die Position des Westens insgesamt, da Deutschland nun den EU-Vorsitz innehat.

Es sei an dieser Stelle anzumerken, dass die USA, die Druck auf Deutschland ausüben, sehr wohl wissen, dass Merkel, die an der Fertigstellung der Pipeline interessiert ist, ihren Posten im Jahr 2021 aufgeben wird. Wenn es ihr gelingt, Nord Stream 2 fertig zu stellen, dann werden die Gegner des Projekts – die Grünen – selbst dann, wenn sie an die Macht kommen, kaum in der Lage sein, die Politik Deutschlands in dieser Angelegenheit radikal zu ändern, d.h. das bestehende Projekt zu verlassen. Deshalb haben die Amerikaner alles getan, um dieses Projekt zu torpedieren, und sind sogar zum regelrechten Daumenschraubenanlegen übergegangen. Wenn die deutsche Diplomatie dem Ansturm der USA standhalten könnte, würde sich der Fall Nawalny in einem ganz anderen Szenario entwickeln, auch wenn es starke Beweise für das Vorhandensein einer giftigen Substanz gäben. Es hätte einen längeren Weg zur Klärung aller Umstände gegeben, es hätte eine Interaktion zwischen deutschen und russischen Staatsanwälten, Ärzten usw. gegeben. Doch nach der Erklärung von Bundeskanzlerin Merkel über die Vergiftung des russischen Oppositionsführers wurde deutlich, dass die deutsche Regierung bereit ist, vom Bau der Nord Stream 2 Abstand zu nehmen. Die Wahl, vor der Deutschland steht, ist also viel weitgehender in ihrer Bedeutung für seine eigene Zukunft und die künftigen internationalen Beziehungen.

Dr. Ekaterina Timoschenkowa

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