„Die Kluft zwischen Recht und Rechtsbewusstsein“: Kommentar zur Verfassungsänderung in RusslandProfessor Mark Urnov

„Die Kluft zwischen Recht und Rechtsbewusstsein“: Kommentar zur Verfassungsänderung in Russland

Gestern ist in Russland die Volksabstimmung über Verfassungsänderungen zu Ende gegangen. Die Ergebnisse kommentierte für russland.NEWS Mark Urnov, einer der bekanntesten russischen Politikwissenschaftler und Professor an der Higher School of Economic.

Nach Angaben vom 1. Juli wurden die Änderungen der Verfassung der Russischen Föderation von mehr als 73 Prozent der Wähler unterstützt. Etwa 26 Prozent stimmten dagegen. Die Wahlbeteiligung war ebenfalls sehr hoch – mehr als 64 Prozent der Russen beschlossen, an der Abstimmung teilzunehmen. Man kann über die genauen Zahlen streiten, aber ich persönlich habe von Anfang an keine Zweifel daran gehabt, dass die Mehrheit Änderungsanträge befürworten wird. Und hier geht es nicht um die Machenschaften der Macht, sondern um jene Werte, die für die Bürger unseres Landes wichtig sind. Vor einiger Zeit habe ich eine Studie durchgeführt, um das Verhältnis von liberalen und autoritären Werten in der Bevölkerung herauszufinden. So sind etwa 10 Prozent konsequente Liberale und 40 Prozent haben rechtsautoritäre Ansichten (20 Prozent sind „eher liberal“ und 60 Prozent „eher autoritär“).

Ein weiteres anschauliches Beispiel: Wir haben eine Umfrage unter den Studenten der besten Universitäten Russlands durchgeführt, um die Wertorientierungen der jungen Elite herauszufinden. Und es stellte sich heraus, dass sie viel stärker als beispielsweise amerikanische Studenten dazu neigen, sich von den Interessen des Landes und nicht von allgemeinen moralischen Erwägungen leiten zu lassen. Also eine stabile personifizierte Macht, Gesetze, die nicht dem Druck internationaler Organisationen unterworfen werden können, die Sorge des Staates um Rentner und Kultur – all diese Änderungen stimmen in der Tat mit den Präferenzen des durchschnittlichen Russen überein. Dies ist eine Art Staatspathos mit der Vorstellung, dass Macht stark und persönlich sein sollte. Die Gewaltenteilung, die Tatsache, dass das Parlament weniger Befugnisse haben wird, das ist für die Menschen von geringer Bedeutung.

Freiheit im europäischen Sinne ist nur für eine dünne Schicht von sehr gebildeten Menschen wichtig. Und das ist nicht überraschend. 75 Jahre totalitäres kommunistisches Regime sind nicht spurlos an uns vorübergegangen. Wir leiden immer noch an der Krankheit des Aus-dem Totalitarismus-herauskommens. Einigen Quellen zufolge stammen 45 Prozent des russischen BIP aus der Schattenwirtschaft. Aber gleichzeitig halten 50 Prozent der Russen es für akzeptabel, Bestechungsgelder zu geben. Das heißt, die Menschen leben immer noch nicht nach dem Gesetz, sondern, wie wir sagen, nach moralischen Vorstellungen. Aber es gibt Veränderungen. Das derzeitige autoritäre Regime ist viel freier als das Sowjetregime. Hier ist ein Beispiel. Vor ein paar Tagen, zur Hauptsendezeit, hörte ich ein Interview mit Michail Chodorkowski im Radio Echo Moskwy, der eine Stunde lang den Stand der Dinge in Russland kritisierte. Die Rede eines politischen Emigranten bei einem der beliebtesten Radiosender wäre zu Sowjetzeiten undenkbar.

Unsere Wirtschaft ist schwach, die Geburtenrate ist niedrig, die Medizin ist auf einem schrecklichen Niveau, Bedrohungen aus dem Süden und Osten … In einem solchen Umfeld streben sowohl die Macht als auch die Bevölkerung nach Stabilität. Die meisten haben die freien 90er-Jahre als Albtraum in Erinnerung behalten.

Ich stimme zu, dass die Bedeutung und Hauptaufgabe einer Verfassungsänderung darin besteht, die nächste Amtszeit der Präsidentschaft von Wladimir Putin zu legitimieren. Nach der Annahme der Änderungsanträge wird sich die politische Elite sozusagen beruhigen. Viele Kollegen sagen, dass die Verfassungsänderungen tiefgreifende politische Konsequenzen für das Land haben werden. Aber ich habe eine Gegenfrage: Wann lebten die Menschen in unserem Land gemäß der Verfassung? Die 1993 angenommene Verfassung war sehr weit vom Rechtsbewusstsein eines durchschnittlichen russischen Bürgers entfernt. Wenn die Kluft zwischen Recht und Rechtsbewusstsein groß ist, schreibt das Rechtsbewusstsein das Gesetz nach seinen Vorstellungen. Genau dies ist jetzt mit Änderungen der Verfassung geschehen. Diese Änderungsanträge sind eine Fixierung auf Papier von Ideen über das Recht des heutigen Russen. Zu diesen Ideen kann man unterschiedlich stehen. Dies ist jedoch die gegenwärtige Realität einer Übergangsgesellschaft, die sich sehr langsam verändert.

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