„Der 8. Mai. Die Geschichte eines Tages“ – Interview mit Alexander Rahr über sein neues Buch

„Der 8. Mai. Die Geschichte eines Tages“ – Interview mit Alexander Rahr über sein neues Buch

Pünktlich zum 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges haben Sie in der Eulenspiegel Verlagsgruppe ein Buch mit dem Titel „Der 8. Mai. Die Geschichte eines Tages“ herausgebracht. Was bezwecken Sie damit? Ist über den 8. Mai 1945 nicht schon alles gesagt worden? Wollen Sie irgendwelche Geheimnisse lüften? 

Alexander Rahr: Die Erinnerungskultur muss immer wieder verstärkt werden. Kriegserinnerungen verblassen, Geschichte wird leider manipuliert. Ich lese oft Unsinn, so zum Beispiel, dass die Ukrainer Auschwitz befreit haben sollen. Gemeint ist die 1. Ukrainische Front. So hieß in diesem Kriegsabschnitt die Sowjetarmee. Die Kampfdivisionen bestanden aber mitnichten ausschließlich aus Soldaten aus der Ukrainischen Sowjetrepublik. Die Truppen dieser Ukrainischen Front besiegten die Nazis in Polen und stießen danach nach Berlin vor. Wird es demnächst heißen, die Ukrainer hätten am 8. Mai 1945 Deutschland befreit?

Verstehe ich Sie richtig, dass Sie das Buch schrieben, um sich mit falschen Mythen auseinanderzusetzen? Glauben Sie, viele der durch den Kalten Krieg erzeugten und festgefahrenen Narrative zu entkräften?

Alexander Rahr: Nein, mein Buch ist kein Diskurs. Streitgespräche darüber, ob Deutschland am 8. Mai „besiegt“, oder, wie Richard von Weizsäcker mal gesagt hat, „befreit“ worden ist – führen wir hier nicht. Im Buch sprechen auch die „Befreier“ – USA und UdSSR – eine gemeinsame Sprache. Heute heißt es in Deutschland des Öfteren, Amerikaner seien die guten Befreier, die Russen die bösen Besetzer gewesen. Es wird mehr über Vertreibungen und Racheakte der Russen an den Deutschen geschrieben, als über die Gräuel des Vernichtungskrieges, den Hitler gegen die slawischen Völker führte. In Deutschland sind die Schrecken des Holocaust jedermann bekannt, nicht aber, wie es zu den 27 Millionen Toten in der Sowjetunion kam. Aber das Buch ist, ich wiederhole es, keineswegs polemisch. Es ist eine Sammlung von wahrhaftigen Zeugenberichten über einen besonderen Tag, der für immer seinen Platz in der Menschheitsgeschichte einnehmen wird.

Wie haben Sie die ganzen Zeitzeugen denn ausgesucht? Die meisten von Ihnen sind doch inzwischen tot. 

Alexander Rahr: Die Zeitzeugen leben nicht mehr, aber ihre damals niedergeschriebenen Erinnerungen haben Verlag und Herausgeber in akribischer Arbeit über die Sichtung unzähliger Archive wiederaufgefrischt. Schicksale im zerstörten Berlin, Volksfest auf dem Roten Platz! Ein freudiger Marschall Schukow und der niedergeschlagene Feldmarschall Keitel in Karlshorst! Täter, Opfer, Sieger und Verlierer, Männer und Frauen unterschiedlichen Ranges, Staatschefs wie US-Präsident Truman, der am 8. Mai seinen Geburtstag feierte, Menschen verschiedener Nationalitäten aus ganz unterschiedlichen sozialen Schichten: Sie alle erzählen, völlig unvoreingenommen. Der Leser erfährt, wie alles gewesen ist – vor der nachfolgenden Herausbildung von politisch korrekten Narrativen. Das Buch vermittelt menschliche Emotionen. Alles wirkt authentisch: Geschichte pur.

Sie selbst sind 14 Jahre nach dem Krieg zur Welt gekommen. Darf ich fragen, was Sie persönlich mit dem 8. Mai 1945 verbindet?

Alexander Rahr: Der Großvater meiner Ehefrau war als sowjetischer Soldat an der Erstürmung Berlins beteiligt. Ihre Oma überlebte die Leningrader Blockade. Für uns ist der 8. Mai also ein familiärer Gedenktag. Mein Vater Gleb Rahr wurde vor genau 75 Jahren von amerikanischen Soldaten aus dem Konzentrationslager Dachau befreit. Als 22-Jähriger saß er dort ein als politischer Häftling. Auf dem Häftlingstransport nach Dachau wurde er vom SS-Obersturmführer Hans Merbach fast erschossen. Am 9. Mai – in Russland war es schon nach Mitternacht, als Deutschland am 8. Mai kapitulierte – werden meine Frau, unsere Kinder und ich hoffentlich Blumen am sowjetischen Kriegerdenkmal am Brandenburger Tor niederlegen können. Der Kalte Krieg ist vorbei, als die USA und UdSSR Feinde waren. Heute gedenken Russland und Amerika wieder den gemeinsamen Sieg über Nazi-Deutschland.

Sie galten jahrzehntelang als renommiertester Russlandexperte in Deutschland. Während der Ukraine-Krise wurden Sie von den Medien „abgeschossen“, weil Ihnen eine pro-russische Gesinnung vorgeworfen wurde. Wollen Sie sich mit Ihrem neuen Buch rehabilitieren? 

Alexander Rahr: Ich widme mich der Geschichtswissenschaft. Dort finde ich die Lehren für die Gegenwart. Das ist zielführender, als sich ewig zu streiten. Die Zeit der Brückenbauer und der Völkerverständigung steht gerade still. Große Teile der westlichen Eliten sind anti-russisch verblendet, während in Russland eine irrationale Ablehnung allen Westlichen vorherrscht. Vielleicht ist die Corona-Krise, deren Zerstörungen mit denen des Zweiten Weltkrieges natürlich nicht vergleichbar sind, ein Weckruf. Wir werden alle riesige Entbehrungen spüren, aber auch einen Tag der Freude – vielleicht erleben wir einen neuen 8. Mai 1945, wenn endlich jemand den Impfstoff entdeckt, mit dem der Virus besiegt werden kann. Ich hoffe sehr, dass unsere Menschheit dann die Welt gerechter und friedlicher gestalten wird.

Der 8. Mai: Geschichte eines Tages

Mit Vorworten von Sergej J. Netschajew (Außerordentlicher und Bevollmächtigter ­Botschafter der Russischen Föderation in Deutschland) und Matthias Platzeck, Ministerpräsident des Landes Brandenburg a. D., Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forum e. V.
Umfang: 221 Seiten
ISBN-13: 9783360013583

Klappentext
Der 8. Mai 1945 – seine Vorgeschichte, der Ablauf des Tages, die Unterzeichnung der Kapitulationserklärung der Wehrmacht – ist hundertfach dokumentiert. Was also bringt dieses Buch? Es ist eine vielstimmige Erzählung, die in das gleichzeitige Geschehen an verschiedenen Orten führt, eine Erzählung, die authentische Aussagen unterschiedlichster Akteure verarbeitet und somit teilhaben lässt am Erleben Betroffener und Beteiligter. Auf »höchster« Ebene – was machen Stalin, Churchill, Truman? Was Keitel, Schukow, Eisenhower? Die Erzählung führt aber auch zu vielen anderen, etwa zu der jungen Berlinerin, der ein sowjetischer Offizier einen Stoffballen auf den Tisch wirft und verlangt, dass sie über Nacht eine amerikanische Flagge zur Siegesfeier näht. Oder zu dem Friseur in Hagenow, der an seinem Laden ein Plakat anschlägt: »Wer Deutschland liebt, muss den Faschismus hassen.« Und zu dem Deutschen, der als Leutnant der Roten Armee in seine zerstörte Heimatstadt Berlin einzieht. Auch zu der Rotarmistin, der ein Vorgesetzter am Morgen des 8. Mai ein Kästchen mit dem Gebiss Hitlers übergibt, das sie zur medizinischen Begutachtung bringen soll, um den Tod des Führers zu beweisen … Alexander Rahr hat eine immense Anzahl historischer Dokumente und kostbarer, wenig bekannter Zeitzeugenberichte gesichtet und zu einer einzigartigen Erzählung verarbeitet. Seine Schilderung vergegenwärtigt diesen historischen Tag, der uns Nachgeborenen mehr als ein symbolisches Datum sein muss, und macht Geschichte lebendig.

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