Darum ist die Integration zwischen Russland und Weißrussland noch nicht gelungen

Darum ist die Integration zwischen Russland und Weißrussland noch nicht gelungen

[von Anastasia Petrowa] Im Dezember 2019 sind 20 Jahre seit der Gründung des Unionsstaates Russland und Weißrussland vergangen. Der Prozess zur Herstellung einer wirtschaftlichen oder politischen Einheit zweier Länder, auch als Integration bezeichnet, verläuft jedoch nicht immer reibungslos und bringt eine Reihe von Problemen mit sich. Derzeit befindet sich der russisch-weißrussische Integrationsprozess in seiner bislang größten Krise und der Streitpunkt ist – wie so oft – das Erdöl.

Die Beziehungen zwischen Russland und Weißrussland sind ein Paradebeispiel für echte Integration im postsowjetischen Raum. Während die Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS) zu einer arbeitsunfähigen Organisation wurde, unterzeichneten Russland und Weißrussland 1995 ein Abkommen zur Einrichtung einer Zollunion und beschritten damit den Weg zur Schaffung einer politischen Union. 1999 wurde der Verbund „Unionsstaat Russland und Weißrussland“ gegründet. Die vollständige Umsetzung des Vertrags über den Unionsstaat implizierte die Bildung eines Zusammenschlusses, der der gegenwärtigen Europäischen Union ähneln könnte. Mit dem Unionstaat sollte nicht nur ein einheitlicher Wirtschaftsraum geschaffen werden, sondern auch ein einheitliches Verfassungsgesetz, auf dessen Grundlage supranationale Leitungsgremien gebildet werden: die Unionsregierung, das Parlament und ein einheitliches Justizsystem. Zur Umsetzung der gemeinsamen Politik sollte außerdem ein supranationales Budget und ein gemeinsames Steuersystem inklusive Einheitswährung geschaffen werden. Dabei war geplant, dass ein erheblicher Teil der staatlichen Funktionen von der nationalen auf die supranationale Ebene übertragen wird, ohne, dass Russland oder Weißrussland dabei ihre Souveränität verlieren würden[1].

Der Integrationsprozess war jedoch von Anfang an sehr schwierig, man kann fast sagen, dass er überhaupt nicht vorangegangen und nun in einer Sackgasse gelandet ist. Vor allem im Wirtschaftsbereich gibt es Streitpunkte, die bisher nicht gelöst werden konnten: 1. Die Einführung einer Einheitswährung – Moskau besteht gegen den Wunsch von Minsk auf der Schaffung von zwei Gelddruckereien. 2. Die Annahme eines gemeinsamen Haushaltsplans. 3. Die Preisgestaltung für russisches Öl und Gas.

Auswirkungen des bisherigen Integrationsprozesses

Trotzdem ist die Wirtschaft Russlands und Weißrusslands im Rahmen der Zollunion und ohne die gemeinsamen Preis- und Steuersysteme stark voneinander abhängig geworden. Russland ist der wichtigste Handels- und Wirtschaftspartner von Weißrussland, der Anteil am Handelsumsatz von Weißrussland liegt konstant bei etwa 50 Prozent. Weißrussland wiederum steht unter allen Handelspartnern zwischen Russland und den GUS-Staaten an erster Stelle und unter allen Handelspartnern Russlands an vierter Stelle[2].

Die größten Fortschritte wurden im Bereich der Sicherheit erreicht. Es wurde ein gemeinsames regionales Luftverteidigungssystem geschaffen und auch eine regionale Truppeneinteilung funktioniert – mehr als 30 Abkommen sind zwischen den beiden Staaten in Kraft, die die Zusammenarbeit im Verteidigungsfall regeln. Weiterhin wurde ein einheitlicher Migrationsraum geschaffen, sodass die Bürger beider Länder ohne Zoll- und Grenzkontrolle in das jeweils andere Land reisen können. Beide Bevölkerungen bekommen zudem die gleichen Chancen auf kostenlose Bildung und auf Beschäftigung, sowie die gleichen Eigentumsrechte.

Hindernisse im Integrationsprozess

Hier enden die Erfolge im Integrationsprozess. Kommen wir zu den Problemen. Erstens, gibt es Widersprüche im politischen Bereich: Weißrussland hat die Unabhängigkeit Abchasiens und Südossetiens nach dem Krieg 2008 nicht anerkannt. Die Ukraine-Krise und die Konfrontation zwischen Russland und der westlichen Welt verschärften die Widersprüche. Lukaschenko will nicht länger der „letzte Diktator Europas“ sein: Er hat den Beitritt der Krim zu Russland nicht anerkannt, unterhält eher freundschaftliche Beziehungen mit der Ukraine. Sein Land wurde Vermittler beim Abschluss der Minsker Abkommen, und auch die Beziehungen mit Europa verbessern sich, was ein visumfreies Regime für Weißrussen zeigt. Zweitens, ist auch der Handelsbereich nicht konfliktfrei. Die Länder erleben seit Mitte der 2000er Jahre regelmäßig Nahrungsmittelkriege, in denen die Regierungen die Produktimporte des Nachbarn einschränken, um diese zu beeinflussen. In diesen Fällen führt beispielsweise der Russische Föderale Dienst für Veterinär- und Phytosanitäraufsicht Beschränkungen für den Import von Milchprodukten aus Weißrussland ein, wenn Konflikte zwischen den Ländern auftreten.

Doch die hauptsächlichen Differenzen gibt es im Energiebereich. Krisen, die mit der Verlängerung von Gas- und Öllieferungsverträgen verbunden sind, treten fast ständig auf, weil die Partner ihre Energiepreise nicht abstimmen können. Weißrussland erhält bereits Gas und Öl zu niedrigeren Preisen als die EU. Im Rahmen der Zollunion möchte das Land jedoch Energieträger zu russischen Inlandspreisen kaufen (zum Vergleich: 2019 lag der durchschnittliche Gaspreis für Europa bei etwa 200 US-Dollar pro 1000 Kubikmeter, für Weißrussland bei 127 Dollar. Der Preis von 73 Dollar für die Region Smolensk wird durch Subventionen erreicht[3]). Moskau ist jedoch der Ansicht, dass eine Lösung dieser Probleme nur dann möglich ist, wenn die Integration im Rahmen des Unionsstaats vertieft wird. Diese Position wurde im Dezember 2018 von Ministerpräsident Dmitri Medwedew formuliert (das sogenannte Medwedew-Ultimatum). Fast 20 Jahre nach der Schaffung des Unionstaates begannen anschließend Verhandlungen über eine tiefere Integration.

Wichtig zu erwähnen ist an dieser Stelle, dass die Integrationsvorstellungen der russischen und weißrussischen Regierungen nicht miteinander übereinstimmen. Für Minsk ist die Grundlage aller Integrationsprozesse die Wirtschaft. Das Land möchte Kosten minimieren, Exportmöglichkeiten erweitern und neue Kredite gewinnen. Die russische Ansicht ist umfassender: Die ukrainische Krise hat gezeigt, dass wirtschaftliche Interdependenz und Präferenzen nicht zwangsläufig auch eine politische Nähe der Länder gewährleisten. Daher besteht Moskau in Verhandlungen über die Entwicklung des Unionsstaats auf einen tieferen systematischen Ansatz, der Integrationsprozesse nicht nur im wirtschaftlichen Bereich vorsieht.

Jüngste Entwicklungen

Nach Medwedews Ultimatum intensivierte sich der Prozess und die Staats- und Regierungschefs von Weißrussland und Russland trafen sich im Jahr 2019 regelmäßig. Außerdem wurden Arbeitsgruppen gebildet, um Vorschläge für die Entwicklung des Integrationsverbandes zu erarbeiten. Im September erfolgte die Erstellung eines Programms zur wirtschaftlichen Integration, welches jedoch nicht öffentlich zugänglich war. Die Wirtschaftszeitschrift „Kommersant“ bekam jedoch Einblick in den Text: Das Programm sehe demnach eine wirtschaftliche Integration nach dem Prinzip „zwei souveräne Länder – eine Wirtschaft“ vor. Die Tiefe der Integration sei dabei nicht geringer als zwischen Ländern der Europäischen Union und in einigen Bereichen ähnlich wie bei Konföderationen oder Bundesländern. Vorgesehen sind dabei die Vereinheitlichung des Steuersystems, die Schaffung eines einheitlichen Steuergesetzbuchs sowie eine einheitliche Zoll- und Energiepolitik. Das Dokument enthält keine Angaben zu einer Einheitswährung, allerdings ist es geplant, eine Übereinstimmung der makroökonomischen Politik und des Finanz- und Bankmanagements zu vereinbaren. Wichtig ist zu erwähnen, dass Verteidigung, Staatssicherheit, Gericht, Strafverfolgung, Bildung, Gesundheitswesen, Wissenschaft und Regierungsbildung (die interne Struktur der Exekutive in Russland und Weißrussland) im Text nicht adressiert werden. Die Korrespondenten von „Kommersant“ schlossen, dass es anhand des Programms zu früh sei, über eine Einigung der beiden Länder zu sprechen[4].

Laut dem Dokument sollten beide Länder bis zum 1. November 2019 Fahrpläne für die Umsetzung dieser Bestimmungen entwickeln – bis heute steht eine Veröffentlichung dieser Fahrpläne aus. Für den 7. Dezember wurde in Sotschi auf dem Gipfel anlässlich des 20. Jahrestages der Gründung des Unionsstaats erwartet, dass ein vollständiges Paket von Dokumenten über die Entwicklung der Vereinigung unterzeichnet wird. Dass dies nicht geschah, weist darauf hin, dass sich die Vorstellungen Russlands und Weißrusslands zur Entwicklung des Unionsstaates stark voneinander unterscheiden dürften.

Auch während des EAEU-Gipfels (Eurasische Wirtschaftsunion) am 20. Dezember in St. Petersburg hat es keine neuen Fortschritte gegeben. Nach dem Treffen der Präsidenten Putin und Lukaschenko erläuterte der ehemalige russische Wirtschaftsminister, Maxim Oreshkin, die Gründe: „Es gibt drei offene Fragen, die endgültige Vereinbarungen blockieren. Dies sind Vereinbarungen im Ölsektor, im Gassektor und im Steuerbereich“[5].

Der Zankapfel ist also wie so oft der gleiche – Öl. Trotz der Verhandlungen zur Vertiefung der Integration konnte eine neue Energiekrise zwischen Russland und Weißrussland nicht verhindert werden. In Russland ist für 2019 bis 2024 die Umsetzung des sogenannten „Steuermanövers“ vorgesehen, wodurch der Ausfuhrzoll auf Erdöl schrittweise abgeschafft und der Steuersatz für seine Produktion erhöht wird. Dies bedeutet, dass Unternehmen nicht mehr für Ölexporte, sondern für die Ölproduktion Steuern zahlen müssen. Vor dieser Änderung wurden Öllieferungen nach Weißrussland nicht mit dem russischen Ausfuhrzoll besteuert. Die Ölunternehmen zahlten Zollgebühren lediglich für das Erdöl, das über Weißrussland nach Europa transportiert wurde. Im Rahmen eines bilateralen Abkommens importierte Weißrussland für seinen Bedarf zollfrei 24 Millionen Tonnen russisches Erdöl pro Jahr. In der Praxis behielt das Land jedoch nur 18 Millionen Tonnen zur Weiterverarbeitung und exportierte die restlichen 6 unter Erhebung von Zollgebühren, von denen Weißrussland finanziell profitierte[6]. Nach der Einführung des Steuermanövers stieg der Ölpreis für Weißrussland an und die Auswirkungen der Wiederausfuhr von russischem Erdöl nahmen ab. Hierdurch fallen für Weißrussland zusätzliche Kosten an, die Minsk über einen Zeitraum von sechs Jahren auf rund 11 Milliarden US-Dollar schätzt[7]. Lukaschenko erklärte sogar bei einem seiner Treffen mit Putin, dass Russland, falls es die Verluste nicht kompensiere, seinen einzigen Verbündeten in westlicher Richtung verlieren werde[8].

Moskau entschädigte Minsk für seine Verluste, allerdings nur für 2019. Das Problem konnte also nicht gelöst werden. Obwohl es gelungen ist, innerhalb der Fristen Vereinbarungen über Gaslieferungen und den Gas- und Öltransit nach Europa zu treffen, wurde der Vertrag über die Öllieferungen nach Weißrussland noch nicht unterzeichnet. Am 1. Januar 2020 wurde die Ölversorgung nach Weißrussland schließlich weitestgehend eingestellt. Lediglich die Ölgesellschaft Samphar liefert noch Erdöl in unbedeutenden Mengen. Auf der Suche nach alternativen Öllieferanten, erwarb Weißrussland bereits rund 80.000 Tonnen Erdöl aus Norwegen und nahm laut Medienberichten Verhandlungen zu Erdöllieferungen aus Kasachstan auf. Am 7. Februar trafen sich Wladimir Putin und Alexander Lukaschenko in Sotschi. Nach den Gesprächen teilte der stellvertretende Ministerpräsident der weißrussischen Regierung, Dmitry Krutoy, mit, dass Weißrussland russisches Öl zu Weltmarktpreisen kaufen werde. Der genaue Preis wurde dabei nicht angegeben[9].

Annexionspläne?

Vor dem Hintergrund dieser Krise begann Lukaschenko immer häufiger zu erklären, dass Weißrussland ein unabhängiges Land sei und niemals Teil Russlands werde. Aussagen darüber, dass Russland Weißrussland buchstäblich „schlucken“ möchte, tauchten auch in den Medien auf. Dabei ist fraglich, ob Russland tatsächlich plant, Weißrussland zu erobern. Bisherige Maßnahmen und Vereinbarungen zeigten etwas anderes. Eigentlich hat Russland neben der Aussicht auf eine Annexion andere wichtige Gründe, sich an diesem schwierigen und nicht immer rentablen Integrationsprozess zu beteiligen. Erstens, ist Weißrussland nicht nur ein Nachbar, sondern nach wie vor einer der wichtigsten Handelspartner Russlands und ein solventer Partner. Der kleine Bruder Weißrussland nimmt einen großen Platz im Wirtschaftsleben Russlands ein. Zweitens, bleibt Weißrussland ein verlässlicher militärpolitischer Partner für Russland. Und schließlich zählt auch der Image-Aspekt: ​​Die Zusammenarbeit mit Weißrussland beweist, dass Russland einen attraktiven Partner darstellt, mit dem man befreundet sein kann. Die Beziehungen zwischen beiden Ländern gelten als Anzeiger dafür, ob eine Integration im postsowjetischen Raum überhaupt gewinnbringend ist.

Der Unionsstaat näherte sich seinem 20. Jahrestag in einem umstrittenen Zustand. Das Bündnis konnte in der Vergangenheit viel erreichen und es wäre falsch, die Bedeutung dessen herabzusetzen. Andererseits wurden die Hauptprobleme der bilateralen Beziehung nicht gelöst. Die heutige, wahrscheinlich schwierigste Ölkrise in der Geschichte der zwischenstaatlichen Beziehungen gefährdet vor allem alles, was im vergangenen Jahr erreicht wurde. Es ist fraglich, ob es den Ländern gelingen wird, den Konflikt zu lösen und erneut auf die Vertiefung der Integration zurückzukommen. Eines ist jedoch klar: Keine Seite würde davon profitieren, sich gegenseitig zu verlieren.

Quellen:

[1] http://www.consultant.ru/document/cons_doc_LAW_25282/

[2] https://ria.ru/20190426/1553003683.html

[3] https://www.gazeta.ru/politics/2019/12/20_a_12876128.shtml

[4] https://www.kommersant.ru/doc/4094365

[5] https://ria.ru/20191220/1562649515.html

[6] https://www.vedomosti.ru/economics/articles/2019/04/05/798447-belorussii-nalogovogo-manevra

[7] https://ria.ru/20190426/1553003683.html

[8] https://www.vedomosti.ru/economics/articles/2019/04/05/798447-belorussii-nalogovogo-manevra

[9]  https://www.kommersant.ru/doc/4251243

 

[Anastasia Petrowa/russland.NEWS]

Foto: kremlin.ru, Creative Commons 4.0

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