Lesen bildet? Russland ist keine Lesernation mehr

Wenn man in der Sowjetunion auf etwas ganz stolz sein wollte und durfte, dann war es die Belesenheit ihrer Bürger. In allen öffentlichen Verkehrsmitteln sah man lesende Menschen. Die Buchauflagen waren astronomisch hoch. Als Standard galten 50.000 Exemplare pro Titel. Allein 1988 wurden 1,15 Milliarden Bücher gedruckt, wissenschaftliche Werke und Fachliteratur gar nicht mitgezählt.

Im heutigen Russland sind die Zahlen viel bescheidener (nach Angaben aus dem Jahr 2008 sind 304 Millionen Belletristik-Bücher gedruckt worden, allerdings waren es 2016 nur noch 446.274). Aber was sagt das über die Liebe zum Lesen der Russen aus? Denn nicht alles wird mit Auflagen gemessen. So erscheinen heute jährlich mehr als 117.000 Titel – 10.000 waren es in der Sowjetunion.

Laut einer aktuellen Umfrage des russischen Meinungsforschungsinstituts WZIOM gab jeder dritte Russe an (34 Prozent), in der letzten Woche ein Buch gelesen zu haben. Unter 18- bis  24-Jährigen waren es sogar 38 Prozent. Russische Frauen lesen mehr (38 Prozent) als Männer (28 Prozent). Und 44 Prozent der Akademiker gestanden ihre Liebe zur Prosa und Dichtung. Die meisten Leseratten leben in Moskau und St. Petersburg (jeweils 49 Prozent).

Auch der Fachliteratur sind die Russen nicht abgeneigt. Ganze 30 Prozent der russischen Bürger interessieren sich für wissenschaftliche Werke (45 Prozent der Akademiker).

Doch das klassische Buch wird langsam von sozialen Netzwerken und Massenmedien verdrängt. Denn am meisten lesen die Russen Nachrichten (39 Prozent) im Internet (56 Prozent unter 18- bis 24-Jährigen).

Nur 25 Prozent der Russen sind regelmäßige Leser von Blogs, unter jungen Menschen ist diese Zahl höher (36 Prozent).

Zu Sowjetzeiten galt es als Zeichen guter Bildung, eine große Hausbibliothek zu besitzen. Als Kulturmensch wurde nur derjenige gesehen, der zuhause Bücher besaß. Laut einer Umfrage von WZIOM aus dem Jahr 2016 hat mehr als die Hälfte der Russen immer noch rund 100 Bücher zuhause. Und 19 Prozent gaben sogar an, mehr als 100 Bücher zu besitzen. Allerdings besaßen 18 Prozent der Befragten gar keine Bücher.

Welche Bücher die Russen genau lesen, klärte die letzte WZIOM-Studie nicht. Etwas Klarheit kann das Rating der russischen Bücherkammer in die Sache bringen. Zu den 20 Topsellern des vorigen Jahres gehörten Bücher von Agatha Christie, Leo Tolstoi, Fjodor Dostojewskij, Michail Bulgakow, Stephen King oder Erich Maria Remarque. Soweit so gut. Doch den ersten Platz hat eine gewisse Darja Donzowa – die Autorin von nicht besonders anspruchsvollen Krimis – erobert. Wer mag, kann ihre Bücher auch auf Deutsch genießen.

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

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