872 Tage Hunger und Bomben – Heute vor 78 Jahren endete die Leningrader Blockade

872 Tage Hunger und Bomben – Heute vor 78 Jahren endete die Leningrader Blockade

Heute wird in Russland eines besonderen Datums gedacht. Vor achtundsiebzig Jahren wurde die Blockade von Leningrad (heutiges St. Petersburg) vollständig aufgehoben. Die Bewohner der Stadt waren einer unmenschlichen Tortur ausgesetzt: Hunger, Kälte, ständige Bombardierungen. Und das genau 872 Tage und Nächte lang. Fast anderthalb Millionen Menschen sind wegen Hunger, Kälte und Unterernährung gestorben. Die Heldentat der Leningrader, die sich dem Feind widersetzen und die Stadt verteidigen konnten, ist in ganz Russland in Erinnerung geblieben. Die größten Gedenkfeiern finden heute natürlich in St. Petersburg statt. Präsident Putin, dessen Familie aus Leningrad stammt, wird anwesend sein.

Am Ende des Sommers 1941 schnitten Hitlers Truppen die Eisenbahnverbindung nach Leningrad (heute St. Petersburg) ab und kreisten die Stadt am 8. September vom Land aus ein. Die absolute Einschließung der Stadt hatte das Ziel, die Leningrader Bevölkerung systematisch verhungern zu lassen. Es gab nur die Straße des Lebens – den Weg auf dem Eis des Ladogasees. Während der Blockade lebten in Leningrad 2,5 Millionen Menschen, darunter etwa 400.000 Kinder. Es gab so viele Tote, dass sie nicht rechtzeitig begraben werden konnten und ihre Leichen lagen auf den Straßen.

Am schlimmsten war das erste Jahr. Die Deutschen haben die Nahrungsmittellager der Stadt zerbombt, so dass die Leningrader praktisch ohne Vorräte blieben. Schon am 20. November 1941 betrug die tägliche Lebensmittelration 250 Gramm Brot. Allerdings nur für Arbeiter. Frauen, Kinder und Menschen ohne Arbeit bekamen die Hälfte. Zuerst versuchten die Arbeiter ihre Ration mit ihren Angehörigen zu teilen, doch schnell hat man dieser Praxis ein Ende gesetzt: Menschen mussten ihr Brot direkt in den Fabriken essen. Um Brot zu bekommen, brauchte man eine „Brotkarte“. Ihr Verlust bedeutete schneller Tod. „Hundert fünf und zwanzig Blockader Gramm – gemischt mit Feuer und Blut“, schrieb die russische Dichterin Junna Moriz, die als Kind die Blockade überlebte.

Der schreckliche Winter von 1941 mit den Frösten bis zu minus vierzig Grad setzte den Menschen zusätzlich zu – Brennmaterial fehlte, Leningrader verbrannten Möbel und Bücher. Auch die Wasserversorgung brach zusammen. Menschen mussten das Wasser aus der Newa schöpfen. Die Blockade hat Leningrad in eine Geisterstadt verwandelt. „Schenja starb am 28. Dezember um 12:00 vormittags 1941. Mutter am 13. Mai um 7:30 vormittags 1942“, diese Zeilen stammen aus dem Tagebuch von Tanja Sawitschewa, einem Leningrader Mädchen, das seine ganze Familie, einen Angehörigen nach dem anderen während der Blockade verlor. Tag für Tag notierte Tanja scheinbar emotionslos die Tragödien. „Alle sind gestorben. Nur Tanja ist geblieben“, so enden ihre Notizen. Eine Kopie des Tagebuches befindet sich heute im Piskarjowskoje-Gedenkfriedhof, einer Massenbegräbnisstätte von Opfern der Blockade. Laut einigen Schätzungen liegen dort in Massengräbern 520.000 Menschen. Nach Angaben des Pressedienstes des Kremls wird Wladimir Putin an der Zeremonie auf dem Friedhof von Piskarewskoje heute teilnehmen.

Im Januar 1943 konnten die sowjetische Armee die Blockade teilweise durchbrechen. Auf die vollständige Befreiung wartete die Stadt allerdings noch ein langes weiteres Jahr. Am 27. Januar 1944 endete die heldenhafte Verteidigung von Leningrad. Dieser Tag wird in Russland als Tag der vollständigen Befreiung Leningrads von der Nazi-Belagerung gewürdigt. Dieses Jahr – zum 77. Mal. Abgeordnete der Staatsduma legten heute eine Schweigeminute zum Gedenken an die Gefallenen der Blockade ein. In St. Petersburg werden heute die Lichter an den Rostral-Säulen zweimal angezündet. Die Leningrader Blockade gilt als eines der eklatantesten Kriegsverbrechen der deutschen Wehrmacht während des Krieges gegen die Sowjetunion.

Grauenhafte Fakten über die Leningrader Blockade füllen dicke Bände. Über Fälle von Kannibalismus, oder darüber, wie Menschen auf den Straßen vor Hunger tot umfielen. Oder darüber, dass man 400.000 Kinder aus der Stadt evakuierte, aber nur 175.000 zurückkamen. Hunderte Bücher sind über die Leningrader Blockade geschrieben worden, dutzende Dokumentar- und Spielfilme gedreht. Aber um das ganze Ausmaß der Tragödie nachempfinden zu können, sollte man in das Museum der Leningrader Blockade in St. Petersburg gehen und sich dort ein einziges Exponat anschauen: 125 Gramm Brot. Die Lebensmittelration. Fast 900 Tage lang.

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

COMMENTS