Mein Moskau [30] – Damals

[Hanns-Martin Wietek] Dies ist das dreißigste Kapitel der Geschichte eines zweifachen Aufbruchs – eines persönlichen und eines Volkes –, erlebt und geschrieben in den Jahren 1992 und 1993.

Nachdem diese Geschichte jetzt schon Geschichte geworden ist, habe ich mich entschlossen, sie unverändert zu veröffentlichen – auch wenn ich das eine oder andere heute anders schreiben würde.

Vielleicht trägt die Geschichte dazu bei, dass die Menschen des Westens die russischen Menschen besser verstehen.

Die einzelnen Abschnitte erscheinen in loser Folge.
Alle Folgen finden Sie hier.

 

Vor eineinhalb Jahren war ich schon einmal hier in Terespol an der Grenze. Zum Erstaunen aller Polen in einem Fiat Bambino, einem kleinen Fiat 126, ein in Polen sehr häufiges Auto, das von ihnen „maluch“, der Kleine oder auch spöttisch „Kinderwagen“, genannt wird. Er entspricht dem Fiat 600 im Westen.

„Ein Deutscher!? In einem maluch!?“

Die Kinder auf der Straße haben mit den Fingern auf mein Auto mit deutschem Nummernschild gezeigt. Unvorstellbar! Ein Deutscher fährt mit so einem kleinen Auto, und dann auch noch so weit!
Ein Deutscher muss Mercedes fahren!

Die politische Neuzeit war gerade angebrochen; ich hatte mir meinen großen Wunsch erfüllt, soweit wie möglich am Bug, dem Grenzfluss zwischen Polen auf der einen und Russland, genauer Weißrussland und Ukraine, auf der anderen Seite entlang zu fahren, um diese herrliche, naturbelassene, einsame, weite Landschaft kennenzulernen.

Auf der polnischen Seite fuhr ich von Südost-Polen nach Norden bis Terespol und wollte auf der russischen Seite in der umgekehrten Richtung wieder zurück fahren.

Die polnische Seite der Grenze hatte ich hier schon anstandslos passiert.
Die russischen Zollbeamten lagen auch schon hinter mir, ich wähnte mich schon am Ziel meiner Wünsche, da kam eine erneute Passkontrolle.
Ich hatte kein Visum für Russland!
Mir wurde bedeutet, ich müsse zurück.

Ich weigerte mich in der Hoffnung, doch noch irgendwie Erfolg zu haben. Ein russischer Offizier wurde geholt. Er war, was ich nun wirklich nicht erwartet hatte, so freundlich, ja herzlich, als ob wir uns schon seit, ewigen Zeilen kennen würden; seine einzige Fremdsprache war aber leider nur Spanisch.

Eine Dolmetscherin wurde geholt, sie sprach fließend Deutsch:
„Ohne Visum ist es nicht möglich nach Russland einzureisen!“
„Kann ich nicht hier an der Grenze ein Visum bekommen? Ich habe mit der russischen Botschaft in Bonn telefoniert und zur Antwort bekommen, ich solle es probieren, es sei möglich.“ (ganz so eindeutig war die Antwort, damals allerdings nicht).

„Das ist nicht richtig, das geht noch nicht; vielleicht wird es bald möglich sein, heute noch nicht!“
„Ich bin Schriftsteller, ich möchte über die neue deutsch-russische Freundschaft schreiben, das ist doch wichtig, bitte, machen Sie eine Ausnahme.“
„Ich verstehe, das ist gut. Aber eine Ausnahme ist nicht möglich. Fahren Sie an die polnisch-litauische Grenze, dort können Sie an der Grenze ein Visum erhalten, und wenn Sie erst einmal in Litauen sind, gibt es keine Grenzkontrollen mehr; dann können Sie fahren bis Wladiwostok.
Oder Sie fahren zurück nach Warschau, zur russischen Botschaft, dort bekommen Sie auch sofort ein Visum.“
„Oh, das kostet alles viel Zeit und ich habe nur noch fünf Tage“.
Jetzt zeigte sich plötzlich, dass der russische Offizier doch etwas Deutsch verstand. Er klopfte mir auf die Schulter und sagte: „maluch gutt Maschin, du cheute abend chir!“

Das Gespräch war so unerwartet herzlich, dass ich eigentlich nur noch auf die Wodkaflasche wartete, damit wir Brüderschaft trinken.
Zum Abschied und als Beleg für mich, dass ich das alles nicht nur geträumt hatte, wollte ich dann noch ein Foto von ihm machen.
„Nje, nje, du cheute abend Foto.“

Ich düste mit meinem maluch die 200 km in – zumindest für einen maluch – rekordverdächtiger Zeit nach Warschau, stand ratlos am Stadtrand und wusste nicht weiter. Ein Polizeiwagen hielt hinter mir – ich dachte schon, er hätte mich wegen meiner zahllosen Geschwindigkeitsüberschreitungen verfolgt – und fragte mich, wohin ich wolle.
„Zur russischen Botschaft. Ich brauche ein Visum.“
„Fahren Sie hinter uns her, das finden Sie allein nie.“
Ich war so verblüfft, dass ich wahrscheinlich nicht einmal Danke sagte.

Vor der Botschaft angekommen hatte ich das Problem, dass ich meinen maluch, in dem recht deutlich sichtbar alle meine Utensilien einschließlich Fotoausrüstung auf der Rückbank lagen und zum Zugreifen einluden, mutterseelenallein parken musste. Die Polizistin erriet meinen Schmerz und schlug vor, dass sie beide jetzt hier neben maluch Dienst machen würden.
So viel Freundlichkeit verschlug mir die Sprache und machte mich – zu Unrecht wie ich später feststellen sollte – misstrauisch.

Auf der russischen Botschaft in Warschau hatte ich dann allerdings das Gefühl in die Klauen des KGB geraten zu sein. Ich fühlte mich dort, wie in einem schlechten Spionagekrimi zu Zeiten des Kalten Krieges und ein Visum bekam ich natürlich nicht.

Im Gegenteil, ich war froh, dass man mir meinen Pass wieder zurückgab, denn als ich sagte, dass mich ein russischer Offizier hierher geschickt habe, behauptete der „Diplomat“ auf unverschämteste Art und Weise, ich würde lügen!

 

Und jetzt, eineinhalb Jahre danach, war ich doch noch in Russland!

Und es war auch heute kein ganz normaler Grenzübertritt.
Seltsam! Woran mag das nur liegen?

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