19 Jahre Wache am Tschernobyl-Reaktor: „Wir nannten uns „Stalker“…

In meine Hände gelangte eine Sonderausgabe des amerikanischen Magazins US News & World Report „Extreme Explorers“, mit der Schlagzeile „Helden“ auf dem Umschlagblatt.

Neben dem Bild der Mutter Theresa sah ich ein Foto von Dr. sc. Alexander Borowoj, wissenschaftlicher Leiter der Operativen Gruppe des Kurtschatow-Instituts in Tschernobyl. Ich kenne ihn. Aber geschrieben hat über ihn zuerst ein amerikanischer Journalist. Anscheinend sieht man die wirklichen russischen Helden besser aus der Ferne.

Alexander Borowoi ist ein Held schon deshalb, weil er nicht unbedingt nach Tschernobyl fahren musste. Am angesehenen Kurtschatow-Institut arbeitete er auf einem anderen Spezialgebiet: Er studierte das Neutrino. Aber die gewaltige Atomexplosion am 26. April 1986 bedeutete für die Physiker den Vorwurf „schlechter Qualifikation“, und es war eine Ehrensache, diese Herausforderung ihres „Berufsgottes“ – des spaltenden Atomkernes – anzunehmen. Über 500 Spezialisten des Instituts arbeiteten in den vergangenen 19 Jahren in Tschernobyl. Einige von ihnen sind bereits nicht mehr am Leben und andere verloren ihre Gesundheit. Auf die Frage danach, welche Strahlungsdosis er selbst bekommen habe, scherzt Borowoi: Keine tödliche. Die Ärzte halten mich vorläufig nicht von der Arbeit fern. Aber er spricht sehr leise, denn ansonsten beginnt er zu husten.

Eine Gruppe von Spezialisten des Kurtschatow-Instituts arbeitete ununterbrochen in Tschernobyl: Jede Schicht verbrachte 18 Tage am Reaktor und stellte die übrigen 12 Tage in Moskau ihre Gesundheit wieder her. Die Physiker wachten rund um die Uhr über den 4. Reaktor und beobachteten Prozesse, die sich in den Atomruinen vollzogen. Zu Recht schrieb der Autor Joseph Sywenkyj in einem Beitrag, dass die Katastrophe in Tschernobyl einen derart schrecklichen Maßstab hatte, dass sie Helden einfach erforderte. Und es muss gesagt werden, dass die Grenze zwischen Helden und Opfern in der ersten Zeit nicht zu spüren war. „Ich wusste als Physiker, was für den Schutz gegen die Strahlung zu tun war. Aber das wussten die jungen Soldaten nicht, die aus allen Ecken des Landes nach Tschernobyl geschickt wurden“, sagte Borowoi. „Kaum hatten sie die Reaktorruine verlassen, glaubten sie außer Gefahr zu sein, nahmen die Masken ab, begannen zu rauchen, tranken Wasser und kauten etwas zur Stärkung. All das durfte man nicht tun. Ich instruierte sie. ‚Vater‘, wandte sich einer der Soldaten an mich: ‚Werden wir Kinder haben?‘ – ‚Ihr werdet Kinder haben, wenn ihr auf mich hört‘, antwortete ich“.

Als an eines der schrecklichsten Bilder im Leben erinnert sich Borowoi an den ersten Besuch im zerstörten Reaktorgebäude. „Trümmer, radioaktive Finsternis, die nach Ozon roch. Und plötzlich eine Stimme: ‚Bitte Ihren Personalausweis!‘ Ich war verblüfft. ‚Junge, lauf so schnell Du kannst‘, sagte ich dem diensthabenden Soldaten. ‚Ich darf den Posten nicht verlassen. Ich habe einen Eid abgelegt‘, antwortete er. Mit Mühe gelang es mir, ihn zu überreden, weg zu gehen.“

Selbst in voller Strahlungsschutzausrüstung musste ein Spezialist unter Anspannung aller Kräfte zum Reaktor laufen, ein Gerät an der Angelschnur in die Öffnung einwerfen und möglichst schnell zurücklaufen. „Jedes Mal befürchtete ich, dass jemand mitten in Trümmern fällt. Damals hatten wir nur Bioroboter – uns selbst. Und wir nannten uns ‚Stalker‘. Ich erklärte auf einer Regierungskommission, dass man so nicht weiter arbeiten kann“, berichtete Borowoi.

Als Antwort hörte er die beleidigenden Worte einer sowjetischen Beamtenseele: „Haben Sie Angst? Solche Leute brauchen wir in Tschernobyl nicht!“ Aber Borowoi ließ diese Worte unbeachtet. Er wusste fest, dass sein Platz in Tschernobyl ist. Ziemlich schnell haben dann die Mitarbeiter des Kurtschatow-Instituts weniger gefährliche Arbeitsmethoden erarbeitet und angewendet. Mit ihrer Hilfe untersuchten sie sorgfältig den Reaktor, um sich davon zu überzeugen, dass die Möglichkeit einer neuen ungesteuerten Reaktion ausgeschlossen ist. Man musste ins Innere eindringen, wo sogar die richtigen Roboter wegen der hohen Strahlung „verrückt“ wurden. Es gelang, die Anordnung der im Reaktor gebliebenen 185 Tonnen des Kernbrennstoffes schematisch darzustellen. Den großen Risiken setzten sie sich jedoch nicht gedankenlos aus. Borowoi wusste, was er tat.

Die Explosion des Lenin-Kernkraftwerks in Tschernobyl erwies sich als ein symbolisches Vorzeichnen für die Sowjetunion. Fünf Jahre später zerfiel sie. Einige politische Figuren der unabhängigen Ukraine begannen, russische Physiker, die in Tschernobyl arbeiten, scheel anzusehen. Es gab sogar einen Versuch, die Kurtschatow-Physiker zu „bitten“ heimzukehren. Auch in Russland war man unterschiedlicher Meinung darüber, ob man diese Arbeit fortsetzen müsse. Und dann haben zwei Wissenschaftler von Weltruf – der Ukrainer Boris Paton und der Russe Jewgeni Welichow – im Wissen um die ganze Verantwortung alle überzeugt, dass das Tschernobyl-Problem außerhalb jeglicher Ideologie steht und dass man dieses Unglück gemeinsam beseitigen muss und möglichst schnell: Radioaktivität interessiert sich nicht für Staatsgrenzen.

Borowoi und seine Kollegen überwachen bis heute die beunruhigenden Symptome im Reaktor, der immer noch gefährlich ist. Der Sarkophag beherbergt immer noch Strahlungsvorräte von 16 Millionen Curie. Ein neuer Sarkophag-2, an dem jetzt die Weltgemeinschaft arbeitet, wird helfen, die Situation zu verbessern.

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