100 Minuten bis zum Karneval

Brasilien und Fußball, da schnalzte einst die Zunge von ganz alleine. Zauberfußballer nannte man sie verzückt, ehrfurchtsvoll wurden sie, nicht nur in ihrer Heimat, zu Ikonen stilisiert. Wenn man sich die brasilianische Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft in Russland ansieht, fragt man sich, was daraus geworden ist.

Geglänzt haben zunächst die Fans. Bereits Tage vor dem Spiel der Seleção gegen Costa Rica zu hunderten in St. Petersburg eingefallen, bewiesen sie, trotz aller Feierlaune, gute Manieren. Damit verbuchten sie schon gleich die ersten Sympathiepunkte bei den St. Petersburgern, die, nach dem etwas aus den Fugen geratenen Auftritt der Marokkaner und Iraner, anfänglich skeptisch gegenüber den nun gekommenen Fremden waren. Da bewiesen die Gäste vom Zuckerhut durchaus Feingefühl.

Die Nationalmannschaft war darauf bedacht, sich akribisch auf ihr zweites Gruppenspiel vorzubereiten. Der Stachel des mageren und minimalistischen Remis gegen die Eidgenossen juckte noch. Das Wichtigste vor dem Spiel deshalb zuerst: Die Frisur von Neymar sitzt. Sein Friseur „Nariko“, der eigentlich Dailson dos Reis heißt, hat einmal mehr ganze Arbeit geleistet. Es scheint, als wären Künstlernamen in Brasiliens Fußballmilieu eine Art Gesetz.

Hoffnungsträger Neymar

Ich habe mich sehr wohl gefühlt, mit meinem Fuß ist alles wieder in Ordnung“, sagte der 26-Jährige Superstürmer. Ob er damit die Trainingseinheit oder den Besuch bei seinem Coiffeur gemeint hat, ließ er offen. Seine Mitspieler indes wissen, was sie an ihm haben. „Neymar ist die Zielscheibe“, bringt es sein Kollege Coutinho auf den Punkt. „Er wird viel gefoult und erhält eine ganze Menge Tritte“, fügt er hinzu. Das sieht Philippe Coutinho positiv für die Mannschaft, die dadurch entlasteter aufspielen könne.

Auch bei den Fans steht Neymar hoch im Kurs, wie die Trikots der mitgereisten Brasilianer auf den Straßen St. Petersburgs beweisen. Viele von ihnen kamen ohne Ticket an die Newa, es wäre nahezu unmöglich gewesen, welche zu ergattern sagen sie unisono. „Nur auf dem Schwarzmarkt war es möglich, für das heutige Match Karten für 750 Dollar zu kaufen. Auf der FIFA-Website ist es sinnlos, überhaupt erst anzufragen“, erklärte ein Fan, der sich stattdessen in die Schlange zur Fanmeile eingereiht hat.

Tausende ohne Tickets feiern Karneval

Hier waren sie dann alle unter sich, die Kartenlosen Brasilianer, und ließen sich den Tag nicht verderben. Im Schatten der Bluterlöser-Kirche war an diesem Nachmittag tatsächlich etwas von südamerikanischem Temperament zu verspüren. Sie ließen sich ihre gute Laune auch nicht durch ein eher mittelprächtiges Spiel ihrer Mannschaft gegen einen Gegner vermiesen, der in erster Linie darauf bedacht war, die Brasilianer nicht in ihr Spiel kommen zu lassen. Und darüber hinaus sogar ab und zu mit brandgefährlichen Kontern vor dem Tor von Allison aufzutauchen.

Die brasilianischen Fans forderten nach 25 gespielten Minuten mehr von ihrer Mannschaft. Es wirkte wie mit der Brechstange erzwungen, wenn die Seleção versuchte zum Abschluss zu gelangen. Die zweiten 45 Minuten waren zwar spielfreudiger, noch druckvoller, aber eben auch nicht sonderlich effektiver. „Niemand weiß, was ich durchgemacht habe, um hier zu sein. Das waren Überwindung, Mut und der Wille zu gewinnen“, wird er später zu den Reportern sagen, während er in der Begegnung erst in der letzten Viertelstunde seine Klasse aufblitzen lassen konnte.

Trotz theatralischer Fallstudien blieb ihm aufgrund des Videobeweises der geforderte Elfmeter verwehrt. Stattdessen musste sich Neymar die Kritik seiner Mitspieler anhören. In den letzten fünf Minuten des Spiels fallen die Spieler aus Costa Rica wie überreife Früchte, um das für sie so wertvolle Unentschieden über die Zeit zu retten. Die angezeigten sechs Minuten Nachspielzeit gehören einzig den Brasilianern. Coutinho war es schließlich, der die Fans erlöste. Und auch Neymar kam in der 97. Spielminute zu seinem Tor. Nach 98 Minuten war dann endgültig Schluss – Brasilien gewann buchstäblich in letzter Minute mit 2:0.

Die Fans gingen nun zu dem über, was sie schon viel früher wollten – feiern. „Argentinien ist draußen – Messi, chao“, war der Hit des Abends. Der Newski Prospekt erlebte in den Stunden nach dem Spiel einen gelb-grünen Karneval. Sie haben es sich verdient, mit Ticket oder ohne.

[mb/russland.NEWS]

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