1. Mai Moskau

Morgens 9 Uhr. Ein Blick aus dem Fenster: Die süßen Maigefühle verkriechen sich schaudernd, die großmäulig patriotischen werden kleinlaut – nun, mehr als 10 Grad sind es ganz bestimmt nicht, eher nahe fünf und REGEN, REGEN, Regen, fein und durchnässend und windig.

Nichtsdestoweniger trotz, ab in die Metro, es sind nur drei Stationen bis zum Roten Platz. In der Metro keine friedliche Feiertagsstille, Menschenmassen wie an einem Arbeitstag, die Züge fahren wie immer alle dreißig Sekunden bis eine Minute – und trotzdem gibt es Menschen, die rennen, um ein Metro zu erreichen.

Metrostation Ochotnji riad, hier ziehen die Menschen vom Roten Platz kommend die Twerskaja Straße, eine der großen acht bis zehnspurigen Straßen, die radial auf den Kreml zuführen, entlang – ein Teil biegt ab auf den inneren Ring zur Manege und der Leninbibliothek. Hier werde ich mich ins Getümmel stürzen.

Fehlanzeige! Twerskaja, Roter Platz, Mochowaja, alles mit den so „heißgeliebten“ Gittern abgesperrt, alle fünf Meter ein Polizist. Auch das Zücken meines Presseausweises hilft nur bedingt: ich bekomme die Auskunft, dass der Zugang nur bei der Basilius-Kathedrale am Ende des Roten Platzes möglich sei. Das erspare ich mir, denn dort werden die Leute wahrscheinlich durch die Detektoren geschleust und der Stau wird riesengroß sein.

Aber Bilder müssen her! Ich klettere unter den Argusaugen der umstehenden Polizisten auf das den Abgang zur Metro umfassende zwar schöne (künstlich-) marmorne aber wegen des Regens glatte Mäuerchen Nicht nach unten schauen! Denn wenn ich in die Unterführung falle, findet der nächste erste Mai ohne mich statt.

Der Ausblick ist gut, ich sehe die Menschenmassen. Fahnen über Fahnen und Luftballons alles in den Farben Weiß-Rot-Blau, vereinzelt die Moskauer rote Fahne mit dem Wappen des St. Georg und dazwischen Schilder und Blumen. Ich bin erstaunt: ich hatte erwartet, dass es von patriotischen St. Georgs-Bändern und -Fahnen, die heute auch die Verbundenheit mit den ostukrainischen „Volksrepubliken“ anzeigen, nur so wimmeln würde – sogar in der Metro sind die Türen damit beklebt –, nichts dergleichen: nur vor dem Kreml hängen zwei Fahnen und ein Teil der Menschen trägt sie als Bändchen am Handgelenk. Die Kälte, der Regen und der Wind lassen nicht nur bei mir keine Jubelstimmung aufkommen. Vereinzelt wird gesungen. Ich denke bei mir „Bin mal gespannt, auf was die Öffentlich-Rechtlichen die so gar nicht maihafte Stimmung zurückführen werden.“ Danke, genug gesehen.

Ich gehe in die andere Richtung, zum Teatralnaja Platz vor dem Bolschoi-Theater. Vielleicht wird es hier etwas „maiiger“. Und in der Tat, hier wird es interessanter: Entgegen kommt mir ein scheinbar über hundert Jahre alter Matrose mit langem weißen Bart, seine gesamte Brust mit Orden gespickt, gebückt laufend, von einem jüngerem Mann unterstützt. Dieser erklärt mir, dass sein Großgroßvater den „Großen Vaterländischen Krieg“ (so heißt der 2. Weltkrieg in Russland) von Anfang an mitgemacht hat. (Demnach ist er vielleicht wirklich 100 Jahre alt.) Der stolze Matrose stellt sich in Positur, damit ich ihn besser fotografieren kann.

An der Ecke zum Teatralnaja Platz schallt mir beschwingte Musik entgegen. Mir kommen Kadetten und Kadettinnen stolz in ihren herausgeputzten Ausgehuniformen, die Kadettinnen mit großer weißer Stoffblume im Haar entgegen – sie lassen sich durch das Wetter die Feiertagslaune nicht verderben. Die Musik wird lauter. Vor dem Bolschoi steht eine Militärkapelle in farbenfroher Uniform. Altgediente Offiziere – sogar ein General – sind anwesend, mein Orden gespickter Matrose gibt ein schwer verständliches Interview und das Deutsche Zweite Öffentlich Rechtliche drängt mich von einem General ab, entschuldigt sich allerdings erschrocken und geht zur Seite, nachdem ich in bestem Bayrisch protestiert habe.

Es reicht, mir ist kalt, ich mache mich auf den Heimweg, da finde ich noch ein Bonbonchen: Am Rande des Platzes stehen ein Männlein und ein Weiblein und bieten ein kleines, dünnes Blättchen an, fünf Exemplare halten sie in den Händen – er könnte glatt Lenin in hohem Alter und sie – wäre die Nase nicht so groß – seine Ehefrau Krupskaja sein. Mit dünnem Stimmchen ruft er unentwegt „Aufruf zur Vernunft“ und, froh einen Ansprechpartner gefunden zu haben, sprudelt es aus ihm heraus. Ich verstehe wenig, nicht zuletzt, weil sie gleichzeitig auch auf mich einredet, nur die andauernde Beteuerung „Ich bin Kommunist“ sticht aus dem Redefluss heraus. Um dem Ganzen zu entkommen, frage ich, wieviel seine Zeitung kostet. 20 Rubel (30 Cent) will er haben. Ich kaufe eine und gebe ihm 50 Rubel und will kein Geld zurück. Er schaut mich still mit großen Augen an – wahrscheinlich ist er sich nicht schlüssig, ob er sich freuen oder über den kapitalistischen Oligarchen ärgern soll.

Nach Hause! Ich bin zwar nass und mir ist kalt, aber ich beschließe, zu Fuß nachhause zu gehen – es sind nur knapp drei Kilometer, aber mit meinem inzwischen angenommenen Moskauer Tempo (weitausgreifende schnelle Schritte) eine Kleinigkeit. Außerdem wird mir dann wieder warm.

Am Puschkin-Platz (Kreuzung Twerskaja und Boulevard-Ring) werde ich belohnt für meinen Entschluss: Puschkin schaut zwar noch immer mit ernstem Gesicht von oben auf das, was unter ihm geschieht, aber diesmal nicht weil er wie 1992 unentwegt auf das erste McDonald-„Restaurant“ in Moskau schauen musste und den Blick nicht abwenden konnte (zwischenzeitlich soll er sogar gelächelt haben, weil eben dieses „Restaurant“ von Staatswegen geschlossen war), sondern weil zu seinen Füßen der Führer der rechtsextremen, russisch-nationalistischen LPDR, Schirinowski, in gewohnter populistischer Manier über die deutschen Faschisten schimpft. Auf dem Platz eine kleine Menschenmenge mit vielen blaugelben Fahnen, Luftballons und Regenschirmen – wie gewohnt von Absperrgittern umgeben. Diesmal Ordner und Polizisten alle 10 Meter, an einer Stelle ein Zugang und ein Stau – wie am Flughafen muss alles kontrolliert werden. Diesmal hilft mir mein Presseausweis: Eine Ordnerin von der LPDR, wahrscheinlich glücklich über die Anwesenheit von Presse, öffnet mir das Gitter einen Spalt. Sofort versuche ich einen dieser hübschen Regenschirme zu ergattern, der Versuch scheitert. Eisern harren die Menschen in Regen und Kälte aus (es ist wärmer geworden, ca. 10 Grad sind es jetzt) und lauschen den endlosen Tiraden Schirinowskis.

Es reicht. Hunger, Kälte und Nässe beenden meine Feierlichkeiten zum 1. Mai. Vielleicht wird es ja nächstes Jahr besser.

Hanns-Martin Wietek

 

COMMENTS