YouTube gegen Staatsfernsehen – bekannter russischer Blogger setzt Interview mit Dmitri Kisseljow in den Sand

YouTube gegen Staatsfernsehen – bekannter russischer Blogger setzt Interview mit Dmitri Kisseljow in den Sand

Seit einigen Tagen kommt das russische Internet nicht zur Ruhe. Es gibt nur ein Thema: Das Interview von Dmitri Kisseljow, das er dem YouTube-Kanal wDud am Mittwoch gab. Den Kanal hatte der im Moment bekannteste russische Journalist und Video-Blogger Juri Dud (33) vor vier Jahren gegründet. Dud interviewt bekannte Musiker, Journalisten, Geschäftsleute, Rapper und Politiker – unter anderem Alexej Nawalny, Wladimir Posner, Michail Chodorkowski, Wladimir Schirinowski, Xenia Sobtschak oder Skandalrocker Sergej Schnurow. Jedes Interview erreicht zwischen 4 und 16 Millionen Aufrufe. Inzwischen hat sein Kanal mehr als 470 Millionen Aufrufe und 4,7 Millionen Abonnenten. Sein Markenzeichen: perfekte Vorbereitung und furchtlose und kritische Art, seine Gesprächspartner zu befragen. Bei seinen Interviews hat man oft das Gefühlt, dass er sein Gegenüber besser kennt, als dieser Mensch sich selbst. Ob Politiker oder bekannte Regisseure – Juri nahm noch nie ein Blatt vor den Mund.

Nach einer zweimonatigen Pause konnte sich die Fangemeinschaft von Dud auf ein neues, kritisches Interview freuen – Juri hat es geschafft, den Frontman des russischen Staatsfernsehens, Dmitri Kisseljow als Gast zu gewinnen. Also den Mann, der als einziger russischer Journalist auf die Sanktionsliste der EU gesetzt wurde. Kisseljow ist Generaldirektor der staatlichen Nachrichtenagentur Rossija Sewodnja, und Moderator einer der wichtigsten Sendungen des russischen Fernsehkanals Rossija 1 Westi Nedeli (Nachrichten der Woche), in der er ein schönes Bild des modernen Russlands ausmalt.

Also ein junger kritischer Blogger gegen einen 64-jährigen „Staatsjournalisten“. Man konnte mit hundertprozentiger Sicherheit den „Gewinner“ dieses Gesprächs bestimmen. Doch die Dud-Fans wurden enttäuscht. Juri Dud ist es nicht gelungen, Kisseljow aus der Reserve zu locken, geschweige denn ihm irgendwelche pikanten Informationen zu entlocken. Seine Fragen waren oberflächlich („Wieso haben Sie in Ihrer Sendung nicht darüber berichtet, wie schlecht momentan die wirtschaftliche Lage in Venezuela ist?“ Antwort: “Man kann nicht alles erzählen. Es gibt auf unserem Kanal andere Sendungen, die darüber berichten.“).

„Sie können keine Fakten nennen“, diese Reaktion war für die Sendung typisch. Woher Kisseljow 160 Millionen Rubel für seine Luxuswohnung in Moskau hat? „Habe ich verdient.“ Wie hoch ist seine Rente? „Über Geld rede ich nicht“. Und Dud hakte nicht nach. Überhaupt, er hat die Taktik einer naiven Befragung gewählt: Nach dem Motto, ich verstehe nichts davon, erklären Sie mir das. Doch mit Kisselojw hat das nicht funktioniert. Nach einer halben Stunde ging Juri Dud ganz baden, spätestens nach dem Versuch, seinen Gesprächspartner zu unterbrechen: „Ich mag es nicht, wenn jemand zu mir Stopp sagt. Bitte tun Sie das nie wieder!“, wies der bekannte Moderator ihn zurecht. Und Dud… gehorchte!

Am schlimmsten war, dass Dud seinen größten Vorteil, seine präzise Vorbereitung verspielte: „Juri, Sie enttäuschen mich zutiefst. Sie hätten sich besser informieren sollen“, setzte Kisseljow ihm zu. Und tatsächlich, Dud verwechselte einige Fakten, hatte offensichtlich zu oberflächlich recherchiert. Der Fernsehjournalist musste nicht mal auf seine brillante Rhetorik zurückgreifen. Sondern präsentierte Fakten oder beschränkte sich auf kurze Antworten: „Ich habe noch nie etwas gestohlen.“

263.000 Dislikes gegenüber 125.000 Likes. Das ist das traurige Fazit der Sendung. Wozu war dieses eine Stunde und vierzig Minuten lange Interview überhaupt gut? Was Dmitri Kisseljow als Person darstellt, ist auch so vielen Russen klar. Keine einzige neue Facette im Charakter des stellvertretenden Generaldirektors der Allrussischen staatlichen Fernseh- und Radiogesellschaft WGRTK hat dieses Interview hinzufügen können.

„Was würden Sie Putin sagen, wenn Sie ihm begegnen würden?“ Diese Frage stellt Dud allen seinen Gesprächspartnern. Nur nicht Kisseljow, warum auch? Denn mitten im Gespräch hat dieser seine „christliche Liebe“ zum russischen Präsidenten offenbart: „Er ist der beste, den wir im Moment haben“. Putin sei „der Vater“ des Volkes. Oder so ähnlich.

Schon seit längerem gibt es Gerüchte, dass Juri Dud eines Tages Wladimir Putin selbst interviewen werde. Doch nach so einer misslungenen Sendung mit dem wichtigsten Propagandisten Russlands sinken seine Chancen. In russischen sozialen Netzwerken ist davon die Rede, dass das Interview mit Kisseljow eine Art Test war. Den hat Dud offensichtlich nicht bestanden. Oder doch? Denn einige Verschwörungstheoretiker sind der Meinung, dass das staatliche Fernsehen Interesse am populären und frechen YouTuber hätte. Das wäre schade, denn Juri Dud hat YouTube in Russland auf ein vollkommen neues Niveau gehoben – das Niveau des kritischen und investigativen Journalismus. Man möchte hoffen, dass es auch so weiter bleibt, und Dud seine Lektion gelernt hat.

[hub/russland.NEWS]

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