WZIOM-Chef: „Maximal 15 Prozent der Russen sind überzeugte Befürworter des militärischen Vorgehens gegen die Ukraine“©russland.news

WZIOM-Chef: „Maximal 15 Prozent der Russen sind überzeugte Befürworter des militärischen Vorgehens gegen die Ukraine“

Walerij Fjodorow, Leiter des staatlichen Zentrums für Meinungsforschung (WZIOM), erklärte in einem Interview mit der russischen Zeitung RBK erklärte, dass er die Gesellschaft nach dem Modell von Jewgenia Stulowa, Geschäftsführerin von Minchenko Consulting, in „vier Russlands“ unterteile: „Russland im Krieg“, „Russland in den Großstädten“, „Russland in der Provinz“ und „Russland in der Versenkung“.

Das „großstädtische Russland“ besteht seiner Meinung nach aus „Nutznießern des früheren satten Lebens“. „Jetzt sind einige von ihnen weggegangen, und die meisten von ihnen sind, wenn ich das so sagen darf, kleinbürgerlich, die großstädtische Mittelschicht – Moskau, St. Petersburg, Jekaterinburg. …. Sie versuchen, so zu tun, als hätte sich nichts geändert, und interessieren sich nicht sonderlich für das, was im Kriegsgebiet geschieht, es sei denn, es betrifft direkt ihre eigene Sicherheit“, so der WZIOM-Chef. Fjodorow schätzt die Zahl der Menschen, die sich im „großstädtischen Russland in sich selbst zurückziehen“ auf rund 20 Millionen – etwa 14 Prozent der russischen Bevölkerung.

Die Angst der Russen steckt seit rund fünf Jahren „in den Knochen“: Seit Mitte 2018 befinde sich Russland wegen der Rentenreform, der Pandemie und der Sondermilitäroperation in einem „schwierigen sozio-psychologischen Zustand“. Deshalb habe „abweichendes Verhalten zugenommen, die Geburtenrate ist gesunken“, die Menschen müssten sich mehr anstrengen, „um die Kontrolle über ihr Leben zu behalten“, und das sei „sehr anstrengend“. Es gibt mehr Risiken und Bedrohungen, das spüren die Menschen. Jeder Tag kann eine Überraschung bringen: ein Drohnenangriff auf den Kreml, ein Anschlag auf die Krim-Brücke, eine Mobilisierung, der Aufstand von Prigoschin.

„Für einige war die Operation ein willkommenes Ereignis, das es ihnen ermöglichte, sich zu mobilisieren. Für andere war es ein Schock, ein Trauma, ein Anreiz, das Land zu verlassen oder in die innere Emigration zu gehen. Für wieder andere war es eine Gelegenheit, ein angemessenes Einkommen zu verdienen, auch wenn sie dabei ihr Leben und ihre Gesundheit aufs Spiel setzten“, so der WZIOM-Direktor.

Der Anteil der überzeugten Befürworter des militärischen Vorgehens gegen die Ukraine in der russischen Gesellschaft – „Russland im Krieg“ oder „angemessener das kriegführende Russland“ – betrage Fjodorow zufolge nur 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung, also zwischen 14,3 und 21,5 Millionen Personen.

Der Rest unterstützt den Krieg aus der Not heraus: „Die meisten Russen wollen nicht, dass Kiew oder Odessa eingenommen werden. Sie mögen keine Schlachten. Wenn es ihr Wille wäre, hätten sie die Militäroperation nicht begonnen, aber wenn die Situation so ist, müssen wir gewinnen.“

Der Anteil der überzeugten Kriegsgegner, so Fjodorow weiter, liege bei 16 bis 18 Prozent. (22,9 bis 25,7 Millionen). Die Mehrheit der Russen, so Fjodorow, nehme eine mildere Haltung ein. Der Experte glaubt, dass die Menschen nicht so sehr den Krieg wollen, sondern eher keine Niederlage – „wenn das die Situation ist, dann müssen wir gewinnen“. Diese Kategorie von Bürgern ist auch der Meinung, dass die Geschichte zu den Bedingungen Russlands gelöst werden sollte, sie sind also „für Russland, für die Armee und für Putin“.

Über diese Zahlen diskutieren seit Tagen Z-Autoren und Ultrapatrioten. Einige halten sie für zu niedrig, auch wenn WZIOM die Zahlen in der Regel übertreibt, um den Kreml nicht zu verärgern. Andere schließen nicht aus, dass der Kreml damit seine Bereitschaft zu Verhandlungen signalisiert, die ein Ende der Feindseligkeiten näherbringen könnten.

Der kremlnahe Politologe Sergej Markow sieht in den Worten Fedorows die Bereitschaft der russischen Behörden zu einem „Deal“ über den Krieg in der Ukraine und stellt fest, dass „die politisierte Öffentlichkeit in Aufruhr ist“. Da der Leiter des WZIOM aktiv mit der russischen Präsidialverwaltung zusammenarbeite, würden die zitierten Thesen als Ausdruck der politischen Position“ des Kremls interpretiert.

„Das heißt, die Behörden wollen angeblich sagen: 1. Die tatsächliche Unterstützung für den Krieg beträgt nur 10 bis 15 Prozent. 2. Der Rest ist passiv und wird jede Entscheidung akzeptieren. 3. Sowohl diese als auch diejenigen, die den Krieg wirklich unterstützen, sind ein Problem für die Behörden. 4. Daraus kann man schließen, dass es in der „Partei der Macht“ eine sehr starke SMO-Ausstiegspartei gibt, und für diese Partei ist die „Kriegspartei“ ein Gegner und eine Bedrohung. Und deshalb hat die politische Repression gegen die „Kriegspartei“ begonnen, um eine Gelegenheit für die Beendigung der SMO zu schaffen“, schreibt er in seinem Telegramkanal.

Alexej Pilko, ein weiterer regierungsnaher Politologe, bezeichnete Fedorows Daten als „soziologischen Fehler, denn die Fragen müssen richtig gestellt werden“. Er räumt ein, dass es in Russland eine kleine „Kriegspartei“ gebe, „ein normaler Mensch kann den Krieg nicht lieben“, aber Russland habe „eine riesige Siegespartei – 80 Prozent der Bevölkerung“.

Jewgeni Popow, Fernsehmoderator und Duma-Abgeordneter, veröffentlichte auf seinem Telegramkanal Teilergebnisse der WZIOM-Umfrage und veröffentlichte später „interessante Zahlen“ des unabhängigen Lewada-Zentrums, die „in den Rahmen von Fedorows sensationeller Aussage“ passten. Demnach ist der Anteil der Russen, die Friedensgespräche mit der Ukraine befürworten, mit 23 Prozent am höchsten. Gleichzeitig sei der Anteil derjenigen, die eine Fortsetzung der Militäraktionen befürworten, deutlich gesunken (von 30 Prozent im Mai auf 24 Prozent im August).

Die omnipräsenten russischen Propagandisten ignorierten Fjodorows Aussagen weitgehend. Weder Olga Skabejewa, Margarita Simonjan noch Wladimir Solowjow äußerten sich zu dem Thema.

Der radikale Stimmungsumschwung in der russischen Gesellschaft infolge des Krieges zeigt sich übrigens auch in den vom Kreml in Auftrag gegebenen geschlossenen Umfragen. Sie zeigten bereits Ende 2022, dass selbst unter den patriotisch gesinnten Nutzern der kriegsbefürwortenden Telegram-Kanäle und den Zuschauern der TV-Propaganda eine wachsende Desillusionierung gegenüber der Armee und Wladimir Putin persönlich festzustellen ist und einige bereit sind, die Krim für einen Waffenstillstand zu opfern. Eine solche Studie ergab, dass inzwischen rund 55 Prozent der Russen Friedensgespräche mit Kiew befürworten und nur noch 25 Prozent für eine Fortsetzung des Krieges sind.

Mitte September veröffentlichte das ukrainische Institut für die Zukunft die Ergebnisse einer soziologischen Umfrage unter Russen, die von der New Image Marketing Group durchgeführt wurde. Es zeigte sich, dass die Mehrheit der Befragten (65 Prozent) die hypothetische Entscheidung Wladimir Putins, den Krieg morgen zu beenden, unterstützen würde. Dies ist der höchste Wert seit Jahresbeginn.

[hrsg/russland.NEWS]

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