Wladimir Lenin: ein Leben über den Tod hinaus?

[von Pjotr Fedosov] “Lebendiger als alle Lebenden”- so wurde Wladimir Lenin in einem Lied aus den Sowjetzeiten besungen. Heute, 93 Jahre nach seinem Tod, klingen diese Zeilen besonders makaber.

Während in den ehemaligen Republiken der Sowjetunion jede in Stein und Eisen gemeißelte Erinnerung an den Vater der russischen Revolution übereifrig vernichtet wird, bleibt einbalsamierter Lenins Leichnam für die Schaulustigen und Besucher der russischen Hauptstadt weiterhin zugänglich. Zeitgemäß ist es nicht. Mehr noch: es bricht mit der christlichen Tradition und mit den kulturellen Bräuchen Russlands, findet Pjotr Fedosov, Politologe aus Moskau. Wäre der 100. Geburtstag der Russischen Revolution nicht ein richtiger Zeitpunkt, um dieser Eigenart der sowjetischen und postsowjetischen Geschichte endlich Lebewohl zu sagen?

Mitte April 2017 hat eine Gruppe der Abgeordneten der Staatsduma (das Unterhaus des Russischen Parlaments) einen Gesetzentwurf über die Entfernung des Leichnams W.I. Lenins aus dem Mausoleum auf dem Roten Platz und dessen Beerdigung unterbreitet. Zu dieser Gruppe gehörten auch einige Abgeordnete aus der Regierungspartei. Die kommunistische Fraktion in der Duma bezeichnete diesen Vorschlag als Provokation. Wenige Tage später haben die Vertreter der Regierungspartei ihre Unterschriften vom Gesetzentwurf auf Geheiß des Kreml abberufen. Damit war die Geschichte zunächst “weg vom Fenster”.

Die Debatte über die “Entfernung Lenins aus dem Mausoleum” flammt jedoch seit der antikommunistischen Wende in Russland Ende der 80er – Anfang der 90er Jahre immer wieder auf. Meistens im Vorfeld seiner Geburts- oder Todestage (22.04. bzw. 21.12.). Die einen Befürworter der Entfernung argumentieren ethisch: dass ein vor 93 Jahren verstorbener Mensch   bis heute nicht beerdigt und zur Schau ausgestellt ist widerspräche der Sitte und dem Willen von Wladimir Lenin selbst, der neben seiner Mutter auf dem Wolkovofriedhof in Petrograd “ganz normal” beerdigt sein wollte. Die anderen argumentieren politisch: Wladimir Lenin hätte dem russischen Volk nur Unheil gebracht und sollte nicht verehrt sondern verdammt werden. Die letztere Position vertritt z.B. die russische orthodoxe Kirche im Ausland und viele radikal antikommunistisch gesinnte Bürgerinnen und Bürger.

Als Lenin im Januar 1924 gestorben war, wurde die Entscheidung, Lenin nicht zu beerdigen, sondern zu mumifizieren und zur Schau aufzubahren , von Stalin durchgesetzt. Die Motivation war zunächst die, dass viele Menschen in der weiten Sowjetunion Lenin noch sehen und sich von ihm verabschieden wollten. Also war das zunächst als Provisorium gemeint. Da aber das Pilgertum zum toten Lenin nicht aufhörte, beschloss die bolschewistische Führung dies als Propagandamittel auszunutzen. Ein steinernes Mausoleum wurde gebaut und zu einem Kultusort verwandelt. Diese Entwicklung wurde bereits damals von verschiedenen Seiten kritisiert. Leo Trotzki bezeichnete sie als “widernatürlich” und “Lenin-unwürdig”. Die orthodoxe Kirche sah darin den Geist des Satanismus. Die Kritiker mussten aber bald verstummen. Gleichzeitig begrüßten nicht wenige revolutionär gesinnte Enthusiasten das ganze Projekt genau deswegen, weil das etwas Niedagewesenes war, etwas, was allen Traditionen Hohn sprach.

Solange Leninverehrung ein Teil der Staatsideologie war, diente die Mumie im Mausoleum als eine Verkörperung der Unsterblichkeit der Ideen und Taten Lenins. Zwar eine vielleicht zu buchstäbliche Verkörperung. Aber, wie es auch sein möge, wurden zwei Generationen der Sowjetmenschen in dem Sinne erzogen, dass der Tote aber doch immer präsente Lenin auf dem Roten Platz das wichtigste nationale Heiligtum wäre.

Die heutige Verfassung der Russischen Föderation untersagt ausdrücklich jede Staatsideologie. Leninverehrung ist seit fast 30 Jahren keine Pflicht und kein Bestandteil der Schul- und Hochschulausbildung. Eine kritische Diskussion über Lenin und den Leninismus ist im Gange. Das Ergebnis ist, dass die Zahl der wie auch immer motivierten Befürworter einer “normalen Beerdigung” Lenins von Jahr zu Jahr wächst und heute rund 60% beträgt.

Es wächst auch der Anteil der nicht politisch, sondern ethisch motivierten Befürworter der Beerdigung. So sehen heute die Frage nicht nur jüngere Leute, sondern auch eine zunehmende Zahl der Veteranen. Ein gesellschaftlicher Konsens darüber, wenn auch kein absoluter, ist nur eine Frage der Zeit. Viele meinen, dass der 100. Jahrestag der Oktoberrevolution (7. November 2017) ein passender Anlass für die Umsetzung sein kann.

Die Anderen mahnen vor übereiligen Schritten. Man sollte sich nicht beeilen, wenn für viele, wenn auch tendenziell immer weniger Menschen in Russland, “Lenin im Mausoleum” immer noch ein Wert ist. Jahrestage, wenn auch sehr wichtige, sind ja nur symbolische Grenzlinien, und dürfen nicht die Gesellschaft spalten. Dies scheint heute auch die Logik der politischen Führung Russlands zu sein.

Es gibt Vergangenheiten, die nicht vergehen wollen. Aber früher oder später wird Lenin aus der Sarkophage befreit und normal beerdigt. Die Debatte über Lenins Ideen und Lebenswerk wird aber kaum jemals aufhören.

P.S..
„…Ich habe meine Mutter (Jahrgang 1926, Mitglied der KPdSU von 1975 bis 1991) gefragt, was sie von einer Beisetzung Lenins halte. Ihre Antwort war: „Ich wäre eigentlich dafür, denn Lenin selbst wäre bestimmt nicht glücklich, wenn er wüsste, dass man sein Leichnam balsamiert und zur Anbetung ausstellt. Weder als gebürtiger Christ, noch als überzeugter Atheist würde er sich darüber freuen. Nur muss die Beisetzung keinesfalls durch Anti-Lenin Hetze begleitet sein. Wer Lenin wirklich respektiert, wird eher für seine Beisetzung im Wolkow-Friedhof neben seiner Mutter, wie er selbst wollte, oder an der Kremlmauer sein. Das Mausoleum muss sowieso als Baudenkmal erhalten bleiben… Ich kenne auch andere Veteranen, die ähnlich denken. Die Grundfrage ist also nicht, ob beisetzen oder nicht. Eine Leiche zur Schau ausstellen war auch 1924 nicht normal und ist es heute erst recht nicht. Die Frage ist, WIE beisetzen. Die Beisetzung darf nicht als historische Entwürdigung Lenins gestaltet und gesehen werden. Er war ein Mensch von einem solchen Format, dass die Debatte über seine historische Leistung und seine historische Verantwortung nie aufhören wird. Aber heißt es, dass das Wenige, was von seinem Körper noch erhalten geblieben ist, ewig zur Schau ausgestellt bleibt? Das hat er wirklich nicht verdient.“

Pjotr Fedosov, (Mitglied der KPdSU von 1978 bis 1991)

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