„Wir sind Richter, Anwälte, Opfer und Angeklagte zugleich“Foto © Gulag Museum

„Wir sind Richter, Anwälte, Opfer und Angeklagte zugleich“

Russland wird oft vorgeworfen, dass die Aufarbeitung des sowjetischen Erbes, vor allem der Stalin-Ära, nur in den Nischen der Gesellschaft stattfindet und eine staatliche Vergangenheitsbewältigung ganz und gar fehlt. Seit 2011 gibt es in Moskau das Staatliche Museum der Geschichte der Gulag. russland.NEWS sprach mit dem Museumsdirektor Roman Romanov über die Geschichtsbewältigung im modernen Russland.

Herr Romanov, in Deutschland ist man stolz darauf, die NS-Vergangenheit verarbeitet zu haben. Es wird allerdings angenommen, dass in Russland die Lenin-Stalin Ära noch nicht bewältigt wurde.

Roman Romanov: Dieser Prozess dauert Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte. Manchmal scheint es mir, dass wir ganz am Anfang des Weges stehen. Übrigens, meine Kollegen und ich schauen uns die deutsche Erfahrung in der Geschichtsbewältigung, wie die Gedächtnisinfrastruktur in Deutschland aufgebaut ist, genau an.

In Russland gibt es eine Vereinigung von Gedächtnismuseen, die 32 Museen von Solovki bis Kolyma vereint. Wir organisieren Projekte und Seminare, Praktika in Deutschland. Dort begann diese Arbeit unmittelbar nach dem Krieg, außerdem war Deutschland der Angreifer und hat den Krieg verloren. Nach 70 Jahren Kommunismus wurden bei uns erst in den 1990er Jahren Archive eröffnet, und es begann eine Welle von Veröffentlichungen über stalinistische Repressionen. Aber dann hatten die Leute andere Probleme, viele kämpften um nacktes Überleben. Ich war zu der Zeit noch in der Schule und es wurde uns überhaupt nichts darüber erzählt. Das heißt, das Thema Gulag wurde nicht Teil des Bildungsprogramms.

2015 wurde ein vierjähriges Konzept der Staatspolitik verabschiedet, um die Erinnerung an Opfer politischer Repressionen aufrechtzuerhalten. Es geht um die Eröffnung von Archiven, die Schaffung von Bildungsprogrammen und der Infrastruktur für Museumsdenkmäler. In diesem Jahr wurde das Konzept um weitere fünf Jahre verlängert. Aber es geht nicht um die Fristen. Meines Erachtens sollte dieses wichtige Dokument zu einer Roadmap für Maßnahmen für regionale Regierungen und Leiter öffentlicher Organisationen werden.

1996 wurde in Magadan die „Maske der Trauer“ errichtet, 2017 eröffnete Präsident Putin in Moskau ein Denkmal für die Opfer politischer Repression. Dies sind alles wichtige Meilensteine. Schon Nikita Chruschtschow sprach über die Notwendigkeit eines solchen Denkmals. Aber damals waren wir noch nicht soweit. Der Wettbewerb für das Denkmalprojekt wurde übrigens von unserem Museum ausgetragen. Wir bekamen 336 Entwürfe. Einige Vorschläge stammten von Autoren, die in den neunziger Jahren am selben Wettbewerb teilgenommen hatten. Das heißt, auch damals wollte man ein Denkmal errichten.

Auf der anderen Seite gibt es Leute, die Stalins Denkmäler in russischen Städten sehen möchten …

Roman Romanov: Tatsächlich handelt es sich nicht um ein Massenphänomen, sondern um eine kleine Gruppe von Menschen. Sie glauben an den Mythos der schönen sowjetischen Vergangenheit, und das Bild von Stalin ist mit diesem Mythos verbunden. Es scheint ihnen, dass es unter Stalin keine „solche Sauereien“ gab. Und die gleiche Person kann sagen, dass Unterdrückung inakzeptabel ist, und gleichzeitig behaupten: Wenn wir Stalin hätten, gäbe es jetzt Ordnung.

Die Verbrechen der Nationalsozialisten wurden bei den Nürnberger Prozessen rechtlich verurteilt. Wir haben einen anderen, viel schwierigen Weg. Wir sind Richter, Anwälte, Opfer und Angeklagten zugleich. Dies ist ein schmerzhafter Prozess, der lange dauern wird. Das heißt nicht, dass wir einfach warten sollen. Wir müssen handeln, damit wir ruhig zurückblicken und Verbrechen als Verbrechen bezeichnen können.

Das Gulag-Museum spaltet also die russische Gesellschaft nicht?

Roman Romanov: Es scheint mir das Gegenteil zu sein, es vereint. Wenn Menschen nicht über die Vergangenheit nachdenken wollen, sie nicht überarbeitet haben, sie verdrängen, lassen Psychotherapeuten sie darüber sprechen. Wenn Sie so wollen, ist unser Museum auch eine Art Psychotherapie. Egal wie schmerzhaft es auch sein mag, es ist notwendig, das Thema anzusprechen.

Das Museum wurde von Anton Wladimirowitsch Antonow-Owsejenko gegründet, einem Dissidenten, der selbst durch die Lager gegangen war. Er war ein erstaunlicher Mann mit einem ausgezeichneten Sinn für Humor. Anton Wladimirowitsch war überhaupt nicht verbittert. Bei diesem 90-jährigen ehemaligen Gefangenen habe ich gelernt, das Leben zu lieben.

Die Ausstellung des Museums eröffnet schreckliche Exponate – die Gefängnistüren …

Roman Romanov: Unsere Dauerausstellung heißt „Gulag im Schicksal der Menschen und der Geschichte des Landes“. Die Geschichte des Landes wird in Form eines Korridors dargestellt, der Exponate, Dokumente, Bücher, Fotografien und Wochenschau präsentiert.

Daneben gibt es exemplarische Darstellung persönlicher Schicksale einzelner der insgesamt schätzungsweise 15 bis 18 Millionen Menschen, die zwischen 1934 und 1960 Opfer des Gulag-Systems wurden. Das sind bekannte Schriftsteller, Künstler, Militärs und unbekannte Ingenieure, Bauern, Arbeiter.

Das Modul präsentiert die persönlichen Gegenstände dieser Person, und wenn Sie einen Kopfhörer nehmen, hören Sie ihre in der Ich-Form erzählte Geschichte. Das kann keinen kalt lassen. Wir haben den letzten Museumsraum als einen Ort konzipiert, an dem Sie über das, was Sie gesehen haben, nachdenken, sich unterhalten, Fragen stellen und Dokumente durchsehen können. Auf der Leinwand läuft ein Film – wir haben die Leute auf den Straßen gefragt, ob sie wissen, was Gulag bedeutet.

Sie helfen Menschen, Dokumente über ihre im Gulag verstorbenen Verwandten zu finden.

Roman Romanov: Unser Dokumentationszentrum erschien als Antwort auf die Anfragen der Besucher. Die Leute erinnerten sich daran, dass es Familienüberlieferungen gab, wie jemand aus der Familie einfach verschwunden war. Unsere Experten helfen dabei, offizielle Anfragen an die Archive im ganzen Land zu verfassen. Eine andere Richtung unserer Arbeit sind Expeditionen zu den Orten, an denen sich die Lager befanden. Dies ist sehr wichtig, da ihre Spuren verschwinden und wir diesen Prozess jetzt festhalten müssen. Das Fotobuch „The Disappearing Past“ wurde gerade über den aktuellen Stand ehemaliger Minen und Arbeitslager in Kolyma veröffentlicht. Jetzt ist es wichtig, diese Artefakte zu bewahren und zu systematisieren.

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

Alle Fotos: © Gulag Museum

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