Fjodor Lukjanow ist Chefredakteur der einflussreichen russischen Fachzeitschrift Rossija w globalnoi politike (engl. Russia in Global Affairs) und gilt als einer der renommiertesten Kenner russischer Außenpolitik.
Herr Lukjanow, heute im Jahr 2019 erleben wir immer noch die Diskussion, ob Russland zu Europa gehört oder nicht.
Fjodor Lukjanow: Dieses Thema ist mindestens 300 Jahre alt, was bedeuten kann, dass weitere dreihundert Jahre vergehen und die gleiche Diskussion stattfinden wird. Dieser Streit hat zwei Seiten. Die historischen Umstände ändern sich, die Formen, in denen Russland und Europa existieren, ändern sich, aber der Inhalt der Diskussion ändert sich nicht. Verschiedene Argumentation, die Suche nach Wurzeln oder ihre Verweigerung – aus intellektueller Sicht ist das alles natürlich sehr spannend, aber real gesehen völlig fruchtlos. Auf russischer Seite dreht sich diese Debatte um eine Frage: Sind wir die Peripherie oder nicht? Also, ist Europa etwas Systembildendes, und wir sind hin- und hergerissen, ob wir dazugehören oder nicht. Für das Selbstwertgefühl ist es nicht gut: Entweder wir erkennen unsere sekundäre Natur oder wir überwinden unsere Komplexe, indem wir alles Europäische leugnen. Es zeigt sich, dass all dieses „pro und contra“ zwei Seiten eines Phänomens sind. Aus irgendeinem Grund hat diese Zwiespältigkeit Russlands kein Ende. Gerade jetzt ist diese Diskussion für unser Land besonders destruktiv, weil sich die Welt verändert hat und Europa nicht mehr das Zentrum der Welt ist. Der Westen als Konzept erfährt tiefgreifende Veränderungen, Amerika wendet sich dem Osten zu. Das heißt, alles verschiebt sich nach Osten. Und für Russland, das kulturell europäisch, geografisch jedoch asiatisch ist, ist es ein Fehler, die Welt durch eine europäische Linse zu betrachten. Deshalb müssen wir diese Diskussion definitiv beenden. Und wenn wir einen Slogan formulieren sollten (bei uns sind Slogans ja sehr beliebt), dann sollte er so klingen: „Wir sind nicht die Peripherie Europas, sondern das Zentrum Eurasiens.“
Was Europa betrifft, so hat es Russland nie als seinen integralen Bestandteil betrachtet. Russland hatte immer zwei Bilder: Entweder war es ein Feind vor den Toren, das heißt, eine Macht, der Widerstand geleistet werden muss. Oder es handelte sich um einen „ Auszubildenden“, der nur dann eine Entwicklungschance hat, wenn er den Anweisungen des Meisters, also Europas, folgt. Heute übt Russland die traditionelle Funktion des Feindes aus, obwohl in Wirklichkeit nur eine Minderheit der Europäer in Russland eine Bedrohung sieht. Die alte Idee der Integration hat sich erschöpft, es gibt noch keine neue, und Europa sucht nach etwas Konsolidierendem. Das einzige, was bisher funktioniert, ist die Angst vor Russland. Diese Klischees werden so lange wiederholt, bis die führenden EU-Länder den Konflikt mit Russland für sich als kontraproduktiv ansehen. Solange jedoch die EU mit internen Transformationen beschäftigt ist, können sich in den Beziehungen zu Russland keine Änderungen ergeben.
Apropos Transformation der EU. In Russland argumentiert man gerne, dass die EU kurz vor dem Zusammenbruch steht und in der EU, dass Russland an der Spaltung der Union interessiert ist.
Fjodor Lukjanow: Nur inkompetente Menschen in Russland behaupten, dass sich die EU auflösen wird. Der Zusammenbruch der EU wäre eine Katastrophe von einer solchen Größenordnung, dass selbst diejenigen, die vielleicht davon träumen, es sich nicht leisten können. Der ganze Klamauk mit dem Brexit hat gezeigt, dass es fast unmöglich ist, die EU zu verlassen. Europäische Kollegen sagen mir oft: Wir haben immer alle Krisen gemeistert und sind nur gestärkt daraus gekommen, wir werden auch diese Krise überwinden. Das ist Demagogie. Ja, es gab Krisen, aber unter völlig anderen geopolitischen Bedingungen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hatte das große EU-Projekt alle dafür vorgesehenen Aufgaben erfüllt. Jetzt haben sich die Umstände geändert (ein neuer Akteur ist aufgetaucht – China, Amerika positioniert sich anders, der Globalisierungsprozess schreitet voran usw.), und jetzt sind neue Prinzipien erforderlich, aber sie sind nicht in Sichtweite. Die EU muss sich irgendwie ändern. Ich denke, dass wir in den nächsten sieben Jahren eine neue europäische Landschaft erleben werden. Russland trägt sicherlich nicht zum Zusammenbruch der EU bei, schon gar nicht, weil wir keine bösen Genies dieser Größenordnung haben, obwohl die westliche Presse das Bild Putins zu einem solchen Großmeister des Bösen aufgeblasen hat. Russland ist sicherlich an der Entstehung von Kräften interessiert, die unserem Land gegenüber loyal sind. Meiner Meinung nach ist das legitim.
Wo Sie über den russischen Präsidenten gesprochen haben. Es gibt jetzt einen neuen Begriff – „Putinismus“. Der persönliche Berater Putins Wladislaw Surkow beschrieb „Putinismus“ als „gut funktionierende Herrschaftsmethode“.
Fjodor Lukjanow: Wie jede Personifizierung gesellschaftspolitischer Prozesse ist „Putinismus“ natürlich kein wissenschaftlicher Begriff. Dies ist ein Versuch zu verstehen: Haben wir ein Herrschaftsmodell oder haben wir eine Persönlichkeit? Einige sagen, Putin sei ein CEO eines mächtigen Unternehmens, andere – er habe überhaupt keine wirkliche Macht, die dritten – er sei ein Kaiser. Ich denke, dass die Grundlage Russlands Interessengruppen bilden, die wie ein Unternehmen zusammengebunden sind. Derjenige, der über ihnen steht, ist kein absoluter Monarch, sondern er manövriert zwischen diesen Interessen. Und hier stellt sich die Frage: Ist diese Person in dieser Funktion unverzichtbar? Ich denke, dies ist die letzte Amtszeit von Putins Präsidentschaft, aber was wird als nächstes passieren? Schließlich ist das Regierungsmodell sehr personifiziert, an der Persönlichkeit Putin gebunden. Die Beziehungen, die Putin zum russischen Volk aufgebaut hat, ist Teil seiner Macht. Und es ist unmöglich, sie an den Nachfolger weiterzugeben. Wer der nächste Präsident wird, kann nicht der zweite Putin werden. Und dieses Unsicherheit darüber, was als nächstes passieren wird, führt zur Entstehung solcher „Ismen“. Ich denke, dass es ein solches Phänomen wie „Putinismus“ nicht gibt. Die Hauptfrage ist nun, ob der Machttransfer reibungslos und schmerzfrei verlaufen wird.
Wladimir Putin hat dem Liberalismus in einem Interview mit der Financial Times den Totenschein ausgestellt. Ist Ihrer Meinung nach eine liberale Außenpolitik im modernen Russland möglich?
Fjodor Lukjanow: Wenn Putin vom Liberalismus spricht, spricht er nicht von dem, worüber dann alle zu diskutieren beginnen. Für Putin ist dies die amerikanische Hegemonie, die ihn dazu veranlasst, sie abzulehnen, und die übrigens tatsächlich endet. In diesem Sinne tritt der Liberalismus in der Tat in den Hintergrund. Andererseits bedeutet für Putin Liberalismus gleichgeschlechtliche Ehe, politische Korrektheit – all die Dinge, die er als destruktiv für die Gesellschaft ansieht. Interessanterweise hat Boris Johnson Putin getadelt: Der Liberalismus sei lebendig und in Ordnung, und genau deshalb müssen wir die EU verlassen. Vor ungefähr sieben Jahren sagte Putin, dass unsere Ideologie Konservatismus ist. Aber diese Idee ist nicht aufgegangen, daran erinnert sich heute kaum jemand. Wie alles im postsowjetischen Russland war es eine Reaktion auf einige Prozesse im Westen: Unsere Begeisterung für den Konservatismus beruhte hauptsächlich auf einem Vormarsch der liberalen Werte, der im Westen stattfand. Was ist liberale Außenpolitik? Wir benutzen immer das Wort „liberal“ und meinen „prowestlich“. In Wirklichkeit ist die Außenpolitik eines Landes auf seine eigenen Interessen ausgerichtet und nicht auf die eines anderen.
Die Eurasische Union entstand als Gegengewicht zur EU. Hat sie Entwicklungschancen?
Fjodor Lukjanow: Tatsächlich entstand die Idee der Eurasischen Union als gemeinsamer Wirtschaftsraum, zu dem Russland, Weißrussland, Kasachstan und, in erster Linie, die Ukraine gehören sollten. Daraus ist nichts geworden, die Ukraine ist aus jeglicher Konfiguration mit Russland weg, aber dann hat das Wort „Eurasien“ seine wahre Bedeutung bekommen. China begann, seine eigenen eurasischen Ideen zu entwickeln. Unter diesen Bedingungen begann die Eurasische Union eine andere Funktion zu übernehmen: China richtet sich Richtung Westen, es braucht Europa und es wird unter allen Umständen dorthin gehen. Die Länder, die sozusagen auf seinem Weg sind, sind entweder in seine Pläne eingebunden oder versuchen, den Raum selbst zu strukturieren und weiterhin mit China zu kooperieren. Gerade weil Eurasien zum Zentrum sehr wichtiger Weltereignisse wird, werden diese Projekte entwickelt. Die Umgestaltung der EU und die Entwicklung der Eurasischen Union werden parallel verlaufen.
[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]
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