„Wie Hitler 1936 so Putin 2018“

[von Helmut Scheben-Infosperber.ch] «Das Schwein bekommt seine WM.» Die Kritik an Russland ist in einigen westlichen Medien zu einer Form von Hysterie degeneriert.

«Als die FIFA ankündigte, sie vergebe die Fussballweltmeisterschaft erst an kleptomanische Mörder in Russland und dann an die Sklavenhalter-Wirtschaft in Katar, da dachten sogar Zyniker, die Masters of Corruption in Zürich seien zu weit gegangen» (The Guardian).

So leitet der Kolumnist Nick Cohen einen Kommentar ein, den er am 9. Juni in der britischen Tageszeitung The Guardian publizierte. Das vielfach mit Medienpreisen ausgezeichnete Blatt richtet sich an eine linksliberale, urbane Mittelklasse und geriet zuletzt weltweit in die Schlagzeilen, als es Edward Snowden und seinen Leuten eine Plattform bot für die Enthüllung der Überwachungs- und Spionagepraxis der NSA.

Man darf sich fragen, ob der Ton, den Nick Cohen anschlägt, geeignet ist, die Akademiker, Studenten und Künstler, die zu den Lesern des Guardian gehören, von einem Boykott der WM zu überzeugen. Sie werden belehrt, es sei eine Dreistigkeit, dass die FIFA eine Fussballweltmeisterschaft an Leute vergebe, die «die russische Wirtschaft plündern, Zivilflugzeuge abschiessen, Journalisten ermorden» und so weiter.

«I expect the swine will get away with it: they usually do.»

Hitler 1936 und Putin 2018, daraus könne man lernen, wie es im Sport zugehe, verkündet Cohen, doch wahrscheinlich komme das Schwein damit durch.

Der «hate speech», der die sozialen Medien invadiert, hat offenbar seinen Weg in eine renommierte Tageszeitung gefunden, und das ist kein Einzelfall. In den Wochen und Monaten vor der Weltmeisterschaft fuhren manche Medien einen Kurs der Aggressivität gegen Russland, der jeglichen nüchternen Sachverstand vermissen liess.

Der Zürcher Tagesanzeiger publizierte am 7. Juni unter der Schlagzeile «Die WM ist nicht dazu da, Putin die Stiefel zu lecken» ein Interview mit dem in der Schweiz lebenden Autor Michail Schischkin. Schischkin macht dort auf einer Doppelseite seinem Hass auf Putin Luft. Er sagt, in Russland sei «Sport die Fortsetzung des Krieges». Er ruft zum Boykott auf, denn es sei «wichtiger, Solidarität mit den Geiseln dieser Diktatur zu zeigen, als ein paar Medaillen von den Geiselnehmern überreicht zu bekommen».

Russische Gene und russisches Blut

Dass der Mann die 144 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner der Russischen Föderation als Geiseln Wladimir Putins bezeichnet, mag skurril wirken, es ist ihm aber bitterer Ernst. Der naheliegende Einwand, offensichtlich unterstütze eine grosse Mehrheit der russischen Bevölkerung den politischen Kurs Putins, kann Schischkin nicht beeindrucken:

«Es ist genetisch bedingt. Wenn im Verlauf von Generationen alle ausgerottet werden, die selbständig denken… Wenn es ums nackte Leben geht, setzen sich nur jene Qualitäten durch, die das Überleben ermöglichen: Schweigen, mit der Obrigkeit zufrieden sein.»

Auf die Frage, warum die Geiseln Putins sich nicht auflehnen, sagt Schischkin: «Das liegt im Blut.» Würde jemand von der Schweizer Bevölkerung behaupten, sie unterstütze die falsche Politik wegen eines genetischen Handicaps, so käme wohl die Rassismus-Strafnorm zur Anwendung. Da es aber nur um Russen geht, muss sich offensichtlich kein Staatsanwalt bemüssigt fühlen zu handeln.

Wir sollten nicht allzu empfindsam sein: Demokratie ist nicht in erster Linie Höflichkeit, sondern die Suche nach Wahrheit und guten Lösungen. Und da darf ein Russe wie Michail Schischkin auch mal auf den Tisch hauen und seine Meinung laut sagen. Aber in einer Zeit, in der die Realität mehr und mehr von einer virtuellen Gegenwelt namens Internet aufgesaugt wird, wo der grösste Blödsinn und seriöse Informationen nebeneinander kreisen, da gibt es keine andere Möglichkeit, die Spreu vom Weizen zu trennen, als das nachvollziehbare Argument.

Früher Völkerverständigung, jetzt Russenpeitschen

Und ein solches Argument wäre zum Beispiel, dass laut FIFA von den über zwei Millionen verkauften Stadion-Tickets fast die Hälfte an Russinnen und Russen gingen. Besonders unter den jungen Leuten in Russland gibt es viele Millionen von russischen Fussball-Fans, die sich auf die Weltmeisterschaft und auf die Begegnung mit ausländischen Gästen freuen. Ein Journalismus, der der Wahrheitssuche verpflichtet wäre, müsste darüber berichten. Während westliche TV-Sender bei früheren Weltmeisterschaften Friede, Freude und Völkerversöhnung ins Bild setzten, werden wir jetzt zugeschüttet mit Berichten über die Gefahr russischer Hooligans oder über ausgebeutete Sans Papiers aus Tadschikistan, welche die Stadien bauen. Da enthüllt das britische Boulevard-Blatt Mail on Sunday, die russische Nationalmannschaft sei gedopt, und schon wird das Thema emsig in allen Medien kolportiert.

Wenn im Fussball Doping eine Rolle spielt, dann sicher nicht nur in Russland. Generell widmete man dem Thema bislang zu Recht wenig Aufmerksamkeit. Denn – wie Kenner der Materie immer wieder betonen – Fussball ist kein Sport wie Radrennen, bei denen es vor allem darauf ankommt, die biologische Leistungsgrenze durch Medikamente zu steigern. Im Fussball kommt es auf Technik der Ballbehandlung an, auf eingeübte taktische Abläufe und auf viele andere mentale Fähigkeiten, die durch gutes Training zu erreichen sind. Mit Doping kann man keinem Aussenverteidiger zu genauerem Zuspiel und keinem Stürmer zu besseren Doppelpässen verhelfen.

Stories über finstere Zustände in Russland sind vertretbar. Wenn sie jedoch den überwiegenden Teil der Berichte zur WM ausmachen, merkt auch der härteste Kreml-Kritiker, dass da etwas nicht stimmen kann. Der Anteil der Hooligans unter den russischen Fans ist nicht grösser und nicht kleiner als in England, Italien, Deutschland oder in der Schweiz. Wieviele Berichte über deutsche Hooligans kamen im deutschen Fernsehen während der Weltmeisterschaft 2006? Wieviele Berichte über ausländische Arbeiter, die ohne Papiere oder unter schlechten Bedingungen auf WM-Baustellen arbeiteten? Man erinnert sich an keinen einzigen. Aber es wird wohl niemand so kühn sein zu behaupten, dass käme «bei uns» nicht vor.

Wenn die Polizei in der Schweiz ganze Zug-Formationen stoppt und randalierende Fans festnimmt, dann gilt dies als Zeichen, dass die Sicherheit der Schweizer Bürgerinnen und Bürger garantiert wird. Wenn in Russland Ähnliches passieren würde, dann wäre das wohl für viele Medien ein Zeichen, dass Putin einen Polizeistaat regiert.

Russland-Bashing versus Fakten

Nach dem Anschlag auf einen ehemaligen russischen Doppelagenten in Salisbury verkündete die britische Premierministerin Theresa May, sie habe Beweise, dass Putin für die Tat verantwortlich sei, und als Vergeltungsmassnahme würden weder britische Regierungsmitglieder noch Mitglieder des Königshauses zum WM-Finale nach Russland reisen. Die erste Aussage hat sich als Lüge erwiesen, die Vergeltungsmassnahme bleibt bestehen. Nichts kann die Russophobie erschüttern, auch nicht bestes ukrainisches Volkstheater. Wenn der ukrainische Geheimdienst einem Kreml-Kritiker Schusswunden per Make-up verpasst und ihn in eine Lache von Schweineblut legt, um einen Mordanschlag der Russen zu inszenieren, dauert es nicht lange, bis die deutsche Bildzeitung Bescheid gibt: «Putins Regime mordet und mordet und mordet.» Als der Schwindel aufflog, verharrten die europäischen WM-Boykottierer in eisernem Schweigen und Theresa May zeigte «stiff upper lip».

Das ist alles durchsichtig und deshalb so peinlich. Man spürt die Manipulation in jeder Zeile, in jedem Satz. Und man kann nur feststellen, dass die britische Regierung sowie ihre «solidarischen» EU-Partner und die grossen Medien offenbar nicht einsehen, dass das als Kampfsport betriebene Russenpeitschen eine rapide Erosion ihrer Glaubwürdigkeit zur Folge hat. Der Schuss geht nach hinten los. Fernsehen, Radio und Zeitungen sehen sich seit Monaten konfrontiert mit Kommentaren von Zuschauern, Lesern und Hörern, welche sagen: Es reicht jetzt mit dem Russland-Bashing.

Auffallend ist, dass es im politischen Spektrum nicht die Linken, sondern Vertreter des rechten bürgerlichen Lagers sind, die den Boykott der Weltmeisterschaft und überhaupt die Sanktionspolitik gegenüber Russland mehr und mehr in Frage stellen. Der CSU-Ehrenvorsitzende Edmund Stoiber plädierte in einer Talkrunde mit Anne Will für eine Annäherung an Russland. Er sagte, es sei an der Zeit, den Sinn der Sanktionen zu überdenken. Man dürfe Putin nicht isolieren, sondern müsse jede Möglichkeit nutzen, das Gespräch zu suchen:

«Sie haben einen Präsidenten, der mit 77 Prozent der Stimmen gewählt wurde, und zusammen mit diesem Präsidenten müssen Sie die Probleme lösen» (ARD, 3. Juni 2018).

Man mag die Position Stoibers mit den Interessen von BMW oder überhaupt mit Interessen der deutschen Exportwirtschaft erklären, die unter den Sanktionen leidet. Aber es ist schon ein wenig verkehrte Welt, wenn ein Edmund Stoiber, der von sich selbst sagt, er sei «an der Seite von Franz Josef Strauss der härteste Kalte Krieger» gewesen, sich auf die Seite derer stellt, die gewöhnlich als Putin-Versteher beschimpft werden. Stoiber erinnerte die Gäste der Talkshow an die Rede, die Wladimir Putin 2001 auf Deutsch im deutschen Bundestag hielt.

Diese Rede habe «unendliche Hoffnungen geweckt», sagt Stoiber. «Von Wladiwostok bis Lissabon sollte freier Handel zugelassen werden. Es ist damals sogar diskutiert worden, ob Russland Teil der NATO werden soll, das muss man sich mal vorstellen.»

Fussballfan oder Geiselnehmer

Putin steht heute auf dem Standpunkt, diese Hoffnungen auf Zusammenarbeit seien vom Westen zunichte gemacht worden. Der Westen habe Russland über den Tisch gezogen. Tatsache ist, dass die NATO-Staaten sich weigerten, die Abrüstungsverträge zu ratifizieren, die Russland unterschrieben hatte. Tatsache ist auch, dass der Westen entgegen der Abmachungen 13 osteuropäische Staaten in die NATO aufgenommen und Raketenstellungen an Russlands Grenzen aufgebaut hat. Stoiber vermied zwar klare Schuldzuweisungen, liess aber keinen Zweifel daran, dass er diese Russlandpolitik für ein katastrophales Versagen hält.

Anne Will sagte zur Einleitung ihrer Talkshow, Thema sei die Besorgnis, dass Putin die Weltmeisterschaft «zu seinem Vorteil nutzen könne». Nur Sekunden später erwähnte sie beiläufig, die deutsche Kanzlerin habe soeben die deutsche Mannschaft in ihrem Trainingslager in Südtirol besucht. Die Gedankenlosigkeit, mit der solche entlarvenden Sätze fallen, ist frappierend. Wie den meisten Journalisten fällt auch Anne Will nicht mehr auf, dass das, was in Russland als schwerer Missbrauch des Sportes zu politischen Zwecken deklariert wird, in Deutschland von der Kanzlerin bis zum untersten Lokalpolitiker Fussball-Begeisterung heisst.

Als Angela Merkel 2014 in Brasilien die Spieler des siegreichen WM-Teams in der Umkleidekabine überfiel (sie kamen aus der Dusche und hatten kaum Zeit, sich ein Handtuch umzulegen, wie einer der Spieler in der Talkrunde berichtet), da jubelte Deutschland: «Unsere Angela ist ein Fussball-Fan!» Und als solcher fängt man ganz nebenbei Wählerstimmen im fussballbegeisterten Deutschland.

Wenn Wladimir Putin das Gleiche tut, ist er ein Geiselnehmer, der den Sport für seine Machtambitionen missbraucht.

Dass aus dem Fussball ein Milliardengeschäft mit TV-Rechten geworden ist und dass die Clubs ihre Spieler als Aktienkapital handeln, mag man bedauern. Wenn das Geschäft in die Korruption abgeglitten ist, dann sind und waren daran vor allem Fussballfunktionäre des Westens beteiligt, in deren Hotelzimmer in der Vergangenheit regelmässig prall gefüllte Briefumschläge landeten. Unter den FIFA-Funktionären, die im Mai 2015 im Baur au Lac in Zürich verhaftet wurden, war kein Russe.

Mit freundlicher Genehmigung von Infosperber.ch>>>

COMMENTS