Wer sprengte Nord Stream? Bericht von Seymour Hersh schlägt hohe Wellen

Wer sprengte Nord Stream? Bericht von Seymour Hersh schlägt hohe Wellen

[von Gunnar Jütte] Zunächst muss ich gestehen, dass auch ich keine Ahnung habe, wer hinter dem Anschlag auf die Nord Stream-Pipeline steckt. Es gibt verschiedene Theorien, aber für keine gibt es Beweise. Seit einigen Wochen gibt es den Bericht von Seymour Hersh, der von vielen als Beweis angesehen wird.

Ich habe großen Respekt vor seiner bisherigen Arbeit. Er wurde berühmt, als er das Massaker von My Lai aufdeckte, bei dem US-Soldaten mehrere hundert vietnamesische Zivilisten töteten. Ebenso deckte er die Folterpraktiken der USA in Abu Ghuraib auf. Seine bisherigen Enthüllungen waren immer sehr gut mit Dokumenten belegt.

Quelle

Hersh beruft sich in seinem Bericht über Nord Stream auf eine einzige anonyme Quelle. Der Rückgriff auf anonyme Quellen ist gängige journalistische Praxis, stellt aber besonders hohe Anforderungen an die Nachvollziehbarkeit, wenn der Leser die präsentierten Informationen nicht selbst überprüfen kann.

Die meisten Menschen, die Informationen an Journalisten weitergeben, haben ein Motiv und oft auch ein berechtigtes Interesse daran, dass diese Informationen bekannt werden. Das bedeutet aber auch, dass die Informationen, mit denen der Journalist gefüttert wird, einseitig und durch die Sichtweise des Informanten gefärbt sein können. In vielen Fällen wurden Journalisten mit falschen Informationen und Geschichten gefüttert.

Deshalb müssen Informationen eines anonymen Informanten immer mit anderen Quellen abgeglichen werden. Als Faustregel gilt: Wenn die Quellen anonym sind, sollten es mindestens zwei sein, und sie müssen voneinander unabhängig sein. In geringem Umfang vergleicht Hersh die Informationen der Quelle mit öffentlich zugänglichen Informationen oder unternimmt sichtbare Versuche, die ihm zugespielten Informationen nachzuvollziehen.

Hersh geht in seinem Artikel nicht auf die Glaubwürdigkeit der Quelle oder das Motiv für das Durchsickern der Informationen ein. Die Person wird lediglich als jemand beschrieben, „der direkte Kenntnis von der Planung der Operation hat“.

Detailliertheit

Der Ablauf der Ereignisse wird von Hersh sehr detailliert beschrieben. Die Quelle hat Kenntnis von internen Diskussionen über die Durchführung der Operation und von Einwänden einiger an der Planung Beteiligter. Die Quelle weiß, wie die Operation durchgeführt wurde und welche Alternativen erwogen wurden. Der norwegische Beitrag zur Planung ist „bekannt“: Es waren die Norweger, die den geeignetsten Ort für die Sprengung fanden.

Der Detailgrad macht die Geschichte für viele Leser vielleicht glaubwürdiger. Sie hilft aber auch, die möglichen Quellen auf eine kleine Handvoll einzugrenzen. Nur sehr wenige Menschen werden Zugang zu so detaillierten Informationen über eine so heikle Operation haben. Das bedeutet, dass es auch für die Beteiligten nicht schwer sein sollte, die Quelle zu identifizieren.

Wenn man Hershs Bericht über die Ereignisse zum ersten Mal liest, verleiht der Detailreichtum seiner Geschichte Glaubwürdigkeit. Unglücklicherweise ist der hohe Detailgrad für Hersh auch der Punkt, an dem sich die ganze Geschichte aufzulösen beginnt und auseinanderfällt.

An der Oberfläche scheint Seymour Hershs Geschichte stimmig zu sein, aber wenn man tiefer gräbt, hat sie mehr Löcher als die Nord Stream-Pipeline.

Ich möchte drei wesentliche Punkte aus dem Bericht von Seymour Hersh herausgreifen.

Stoltenberg

In seinem Bericht hebt Hersh Stoltenbergs norwegische Staatsbürgerschaft hervor und behauptet, dass der ehemalige norwegische Premierminister und die Nato-Beziehungen einer der Gründe waren, warum die USA Norwegen in die Operation einbezogen.

Hersh über Stoltenberg: „He was a hardliner on all things Putin and Russia who had cooperated with the American intelligence community since the Vietnam War. He has been trusted completely since. He is the glove that fits the American hand, the source said.”

Übersetzung: “Er sei ein Hardliner in Sachen Putin und Russland, der seit dem Vietnamkrieg mit dem amerikanischen Geheimdienst zusammengearbeitet habe. Seitdem habe er volles Vertrauen genossen. Er passt wie angegossen in die amerikanische Hand, sagte die Quelle.“

Für jeden Leser nachprüfbar war Stoltenberg erst sechzehn Jahre alt, als der Vietnamkrieg endete.

Es ist zu bezweifeln, dass Jens Stoltenberg in seinen frühen Teenagerjahren eine Quelle für den amerikanischen Geheimdienst war.

Nicht nur das. Stoltenberg sprach sich als Führer der sozialdemokratischen Jugendorganisation AUF für einen Austritt Norwegens aus der Nato aus. Er nahm auch an Demonstrationen gegen die USA und den Vietnamkrieg teil.

Die Pipeline

Die vier Pipelines der Nord Stream, zwei für Nord Stream 1 und zwei für Nord Stream 2, sind nicht so leicht zu zerstören. Das Stahlrohr selbst hat eine Wandstärke von 4,1 Zentimetern und ist zusätzlich mit 6 bis 11 Zentimetern Stahlbeton ummantelt. Jedes Rohr wiegt 11 Tonnen, nach dem Betonieren sind es 24 bis 25 Tonnen.

Die Pipelines werden zusätzlich im sandigen Meeresboden vergraben, nicht tief, aber tief genug, damit sie nicht durch Fischereigeräte oder Anker beschädigt werden können.

Um solche Pipelines zu sprengen, braucht es mehr als ein paar Kilo C4-Sprengstoff. Zuerst müssen die Pipelines freigelegt werden. Dann musste der Sprengstoff um sie herum gelegt werden. Dann musste eine Art Auslösemechanismus angebracht und befestigt werden. Schließlich musste das Rohrstück mit dem Sprengstoff wieder vergraben werden, um zu verhindern, dass es entdeckt wurde oder mit externen Elementen in Berührung kam. All dies musste mindestens vier Mal wiederholt werden.

Der gesamte Vorgang ist zeitaufwendig. Unbemannte U-Boot-ähnliche Schiffe wären erforderlich, um Hunderte von Kilogramm Sprengstoff und Ausrüstung zu transportieren. Die Tauchzeit in dieser Tiefe ist nicht unbegrenzt.

Überwachungsflugzeug P-8

Bei all den Fakten muss man berücksichtigen, dass die Ostsee eines der am besten überwachten Gebiete der Welt ist.

Hersh behauptet in seinem Artikel, dass Taucher der US-Marine während der Marineübung BALTOPS 22 im Juni den Sprengstoff C4 an den Pipelines angebracht hätten.

Drei Monate später sei ein norwegisches Überwachungsflugzeug vom Typ P-8 Poseidon über das Gebiet geflogen und habe eine Sonarboje abgeworfen, ein kleines zylindrisches Gerät, das normalerweise zum Aufspüren von U-Booten verwendet wird. Die Sonarboje habe dann einen niederfrequenten Ton ausgesendet, der den Auslösemechanismus des bereits installierten Sprengsatzes aktiviert habe.

Hersh schreibt: “On September 26, 2022, a Norwegian Navy P-8 surveillance plane made a seemingly routine flight and dropped a sonar buoy”. Übersetzung: ”Am 26. September 2022 warf ein P-8-Überwachungsflugzeug der norwegischen Marine während eines scheinbar routinemäßigen Fluges eine Sonarboje ab.“

Erstens werden die norwegischen P-8 von der norwegischen Luftwaffe betrieben, nicht von der Marine.

Die P-8 wurden an Norwegen geliefert, aber noch nicht in Dienst gestellt.

Die norwegische P-8 Poseidon war nie in dem genannten Gebiet. Laut Oberstleutnant Vegard Norstad Finberg, dem Pressesprecher der norwegischen Streitkräfte, war die P-8 nie im Einsatz, sondern führte lediglich Testflüge im norwegischen Luftraum durch.

Hersh schreibt in seinem Bericht, das norwegische Flugzeug habe einen „scheinbar routinemäßigen Flug durchgeführt und eine Sonarboje abgeworfen“.

Es ist nichts „scheinbar Routinemäßiges“, wenn eine norwegische P-8 direkt vor der Küste Bornholms Sonarbojen abwirft. Offene Flugdaten aus dem Gebiet zeigten auch keine norwegischen P-8-Aktivitäten in dem Gebiet am 26. September.

Obwohl es möglich ist, dass Flugzeuge operieren, ohne in den offenen Flugdaten aufzutauchen, würde dies in diesem Fall wenig Sinn machen, da es laut Hersh wie ein „scheinbarer Routineflug“ aussehen sollte.

Also entweder heimlich ohne Transponder oder „scheinbar routinemäßig“ mit Transponder.

Befürworter von Theorien über eine US-Beteiligung hatten sich zuvor auf die Tatsache konzentriert, dass am 26. September 2022 ein P-8-Flugzeug der US-Marine sowohl über der Ostsee als auch über Deutschland in der Luft war.

Zum Zeitpunkt der Explosionen befand sich eine P-8 in der Nähe von Bornholm. Es war eine P-8 der US Navy, keine P-8 der norwegischen Luftwaffe. Aber auch hier stimmt die Chronologie nicht mit der Beschreibung von Hersh überein. Die P-8 überflog das Gebiet des Nord Stream 2-Lecks fast genau eine Stunde nach der Explosion. Die Explosion ereignete sich um 02:03 MESZ, während die P-8 das Gebiet um 03:10 MESZ überflog. Sie kehrte später zurück und umkreiste das Gebiet mehrere Stunden nach den Explosionen.

Da die Tauchgänge angeblich mit EC-UBA-Ausrüstung durchgeführt wurden, hätte jedes Schiff verwendet werden können, und ein ziviles Schiff wäre viel besser getarnt gewesen und hätte nicht die Tarnung der BALTOPS-Übung benötigt.

Die in den USA hergestellte P-8A Poseidon ist Norwegens brandneues Seeaufklärungsflugzeug, das im vergangenen Jahr ausgeliefert wurde, aber erst in diesem Jahr die Aufgaben seines Vorgängers, der P-3 Orion, übernehmen soll und erst in zwei Jahren voll einsatzfähig sein wird.

Die Möglichkeit, dass Seymour Hersh oder seine angegebene Quelle die P-8 mit ihrem Vorgänger, der P-3, einem völlig anderen, älteren Flugzeugtyp, verwechselt haben könnten, wäre zu prüfen. Nach Angaben der norwegischen Verteidigungskräfte waren Flugzeuge dieses Typs jedoch nicht über der Ostsee aktiv, was auch durch Flugdaten bestätigt wird.

Es ist unklar, wie Hersh andere Flugzeugtypen gemeint haben könnte, da gerade das moderne Flugzeug P-8 in der Einleitung des Artikels hervorgehoben wird, wo Hersh schreibt, dass die Vereinigten Staaten „eine Flotte von P-8-Poseidon-Patrouillenflugzeugen, die von Boeing gebaut wurden, an die norwegische Luftwaffe geliefert haben, um ihre Langstreckenspionage gegen alles Russische zu verstärken“.

Schiffe

Während der Nato-Übung BALTOPS 22 in der Ostsee vom 5. bis 17. Juni 2022 soll ein norwegisches Minensuchboot der Alta-Klasse Taucher der US Navy eingesetzt haben, die Sprengladungen sowohl an Nord Stream 1 als auch an Nord Stream 2 angebracht haben sollen.

Hersh behauptet, die Amerikaner hätten die Planer der Übung davon überzeugt, „eine Forschungs- und Entwicklungsübung in das Programm aufzunehmen“, die „vor der Küste von Bornholm stattfinden und Nato-Taucherteams mit konkurrierenden Minenleger-Teams mit der neuesten Unterwassertechnologie zum Auffinden und Zerstören der Minen einbeziehen würde“.

Erstens ist die Minenräumung seit langem ein fester Bestandteil der BALTOPS-Übungen. Die Behauptung, sie sei hinzugefügt worden, um die Operation zu verschleiern, ist einfach lächerlich.

Zweitens hatten die Hintermänner dieser streng geheimen Operation, die sich keine undichte Stelle leisten konnten, die BALTOPS-Planer irgendwie davon überzeugt, die Parameter ihrer Übung zu ändern, die lange vor ihrer Durchführung geplant worden war. All dies geschah entweder, ohne ihnen zu sagen, warum, oder indem man andere Leute in die Aktion einbezog, die die Pläne durchsickern lassen konnten.

Auch das norwegische Verteidigungsministerium bestreitet, dass es bei der BALTOPS-Übung überhaupt Minenräumboote des von Hersh genannten Typs der Alta-Klasse gegeben habe.

Das einzige relevante Boot sei ein Boot der Oksøy-Klasse gewesen, die KNM Hinnøy. So Oberstleutnant Finberg: “Es gab kein Minensuchboot der Alta-Klasse. Das norwegische Minensuchboot KNM Hinnøy nahm im Juni 2022 an der Übung Baltops im Rahmen der Standing Nato Mine Counter Measures Group 1 (SNMCMG1) teil, war aber Monate später nie in der Nähe des Gebiets, in dem die Nord Stream-Pipeline gesprengt wurde.

Die Version scheint sich mit den öffentlich zugänglichen historischen Daten der zivilen Dienste über die Verfolgung von Schiffen und Flugzeugen in der Ostsee zu decken.

Laut den öffentlich zugänglichen historischen Daten gab es auch keine Schiffe der Alta-Klasse, die im Zeitraum der erwähnten Nato-Übung dreieinhalb Monate vor dem Vorfall Schiffsverfolgung betrieben haben sollen.

Der Forscher Joe Galvin weist auf Twitter darauf hin, dass die KNM Hinnøy – also das norwegische Minensuchboot einer anderen Klasse als die von Hersh erwähnte ­– während der Übung zwar in der Nähe des viel diskutierten Gebietes um Bornholm unterwegs war, aber den Positionsdaten nach nicht nahe genug an den Pipelines, um beispielsweise ein Taucherteam zu manövrieren.

In einer militärischen Operation kann man sich vorstellen, dass Schiffe ihre Anwesenheit in zivilen Systemen verbergen – aber der Ausgangspunkt in Seymour Hershs Artikel ist, dass sowohl das Minensuchboot als auch das Überwachungsflugzeug offen auftauchten, als ob es sich um Übungen und Routineeinsätze handelte.

Drohung der USA

Die USA stehen der Nord Stream-Pipeline skeptisch gegenüber und sehen in der Abhängigkeit von russischem Gas ein Sicherheitsrisiko für Europa. Als Russland vor der Invasion große Truppenverbände an der Grenze zur Ukraine zusammenzog, warnte Präsident Biden, er werde Nord Stream 2 stoppen, das noch gar nicht in Betrieb sei.

Wenn die Russen einmarschieren, wenn russische Panzer und Soldaten die Grenze zur Ukraine überqueren, wird es kein Nord Stream 2 mehr geben. Wir werden das beenden, sagte Präsident Biden im Februar 2022.

Laut Hersh interpretierten mehrere Personen, die an der Vorbereitung der Operation beteiligt waren, dies als Eingeständnis, dass die USA planten, die Pipeline zu sprengen.

Der Plan sei gewesen, dies nach der Invasion zu tun und es nicht öffentlich zu machen. Biden habe das einfach nicht verstanden oder ignoriert, so die anonyme Quelle gegenüber Hersh.

Dass der Präsident der Vereinigten Staaten vor laufenden Fernsehkameras über eine streng geheime Sabotageaktion spricht, die er selbst genehmigt hat, erscheint ziemlich absurd. Eine gängige Interpretation der Aussage ist, dass die USA sicherstellen wollten, dass Nord Stream 2 nicht wie geplant in Betrieb genommen wird – auch im Rahmen der Sanktionen gegen Russland nach dem Einmarsch in die Ukraine.

Mythenbildung

Bei einer so schwerwiegenden Aktion, die je nach Akteur von einer terroristischen Aktion bis zur Ausrufung des Nato-Bündnisfalles reichen kann, ist äußerste Vorsicht mit Schuldzuweisungen geboten.

Leider fördern die Schweden mit ihrer Geheimniskrämerei die Mythenbildung in alle Richtungen. Eine offene Untersuchung durch ein internationales Team wäre wesentlich hilfreicher.

Ganz zu schweigen von den westlichen Mainstream-Medien. Jedem sollte klar sein, welche Wellen ein solcher Bericht schlagen würde. Aber außer der Diskreditierung von Seymour Hersh und dem Bonmot über Stoltenberg, das jeder Redaktionspraktikant recherchieren kann, ist der Mainstreampresse nichts weiter eingefallen. Später wundert man sich dann, wenn wieder von „Lügenpresse“ die Rede ist.

Eine gründliche Recherche und Widerlegung der von Hersh angeführten Fakten hätte den Medien besser zu Gesicht gestanden und die Mythenbildung nicht unnötig befeuert.

Fazit

Sollte die Geschichte stimmen, wäre dies ein journalistischer Coup ersten Ranges. Die CIA, die US-Marine, das norwegische Militär und der norwegische Geheimdienst arbeiteten gemeinsam an einem Plan, der von Präsident Joe Biden gebilligt worden war.

Die Geschichte von Seymour Hersh wäre viel schwieriger zu demontieren gewesen, wenn er sich entschieden hätte, sparsamer mit den Details umzugehen, anstatt sich in sinnlose Details zu vertiefen, die wenig Sinn ergeben.

Sollte Hersh wider Erwarten eine Quelle mit den von ihm behaupteten Informationen haben, so bleibt er in seinem Artikel den Beweis dafür schuldig.

https://seymourhersh.substack.com/p/how-america-took-out-the-nord-stream

COMMENTS