„Von Europa bis Asien sind wir der Angelpunkt der Allianzen, wie sie es ihn in der Geschichte der Nationen noch nicht gab“, erklärte Barak Obama dieser Tage in einer für die Weltöffentlichkeit gedachten Rede vor Kadetten an der Militärakademie von Westpoint.[1]
Amerika sei selten so stark gewesen wie heute, verglichen mit dem Rest der Welt, so Obama. „Diejenigen, die das Gegenteil behaupten, die meinen, dass Amerika im Niedergang sei oder dass seine Führung in der Welt schwinde, verstehen entweder die Geschichte falsch oder machen Parteipolitik…Die USA sind und bleiben die eine unverzichtbare Nation. Das ist für das vergangene Jahrhundert wahr und wird für das nächste Jahrhundert wahr bleiben.”
Seine „bottom line“ skizzierte Obama den Kadetten so: „Amerika muss auf der internationalen Bühne immer führen. Wenn wir es nicht tun, wird es niemand tun. Das Militär, dem Sie nun angehören, ist und wird immer das Rückgrat dieser Führung sein.“
Und noch einmal wolle er das Prinzip wiederholen, betonte Obama, das er am Beginn seiner Amtszeit als Präsident dargelegt habe: „Die Vereinigten Staaten werden von militärischer Gewalt Gebrauch machen, einseitig, wenn nötig, wenn unsere Kerninteressen es erfordern – wenn unsere Leute bedroht sind, wenn unsere Lebensgrundlagen auf dem Spiel stehen, wenn die Sicherheit unserer Verbündeten auf dem Spiel steht.“
Zwar zähle die internationale Meinung, so Obama, „aber Amerika darf niemals um Erlaubnis bitten, wenn es darum geht unsere Leute, unser Land oder unsere Lebensart zu schützen.“
Doch die Welt ändert sich…
Aber die Welt ändere sich, so Obama weiter – die „Agression Russlands“, die „Expansion Chinas“, die aufsteigende Konkurrenz „von Brasilien bis Indien“, die „Forderungen neuer Staaten nach Mitbestimmung“ , die Unmöglichkeit in der „medial verknüpften Welt von heute, sektiererische Konflikte, die andauern, gescheiterte Staaten und Volksaufstände, die man vor einer Generation kaum gekannt hätte, zu ignorieren.“ Zudem habe auch der Terrorismus durch Dezentralisierung eine neue Qualität der Bedrohung erhalten.
Dies alles fordere die Führung der USA heraus. Doch nicht jedes Problem habe eine militärische Lösung. Und so gehe es nicht darum „ob, sondern wie wir es machen“. Die militärische Aktion könne heute nicht der einzige, nicht einmal der wesentliche Teil einer Führung durch die USA sein. „Wenn Probleme keine direkte Bedrohung sind, müssen wir nicht allein handeln, …dann müssen wir eher unsere Verbündeten und Partner mobilisieren, um kollektive Maßnahmen zu ergreifen… Sanktionen… Isolation… Völkerrecht… multilaterale Militäraktionen“ – dies alles sei allein schondeshalb wichtig, um „kostspielige Fehler“ zu vermeiden.
Mit einer „European Reassurance Initiative“, einem Sicherheitsversprechen der USA an Europa unterstrich Obama in einer Reise durch Polen, die Ukraine und Frankreich den so erneuerten US-Führungsanspruch: Den Polen versprach er eine Milliarde Dollar für die Aufstockung der NATO-Luftwaffenpräsenz; einer Forderung nach Stationierung von ständigen Bodentruppen wich er allerdings aus. Dem neuen Präsidenten in Kiew, Petro Poroschenko, sagte er politische, logistische und finanzielle Hilfe für die Niederschlagung der Rebellion im Osten der Ukraine zu. Offene NATO-Mitgliedschaft wollte er dem Ukrainer jedoch nicht versprechen. Dagegen verschärfte er seine Position gegen Russland: Unisono mit Poroschenko erklärte er, die USA würden das Referendum zur Eingliederung der Krim in die russische Föderation niemals anerkennen. Darüber hinaus drohte er Russland mit weiteren Sanktionen, falls es seine Hilfe für die Rebellen in der Ukraine nicht einstelle. Von den EU-Europäern forderte er einem Ton, der keinen Widerspruch dulden will, eine Erhöhung der Militärausgaben zur Verteidigung gegen die „russischen Aggressionen.“
In der westlichen Öffentlichkeit, einschließlich der amerikanischen, wird die „Obamadoktrin“, wie die Auftritte Obamas umgehend getauft wurden, unter Stichworten wie „neuer Isolationismus“, „Selbsteindämmung“, „Weltpolizist wird zum Sozialarbeiter“, „PR-Kampagne“ Obamas, der nicht als „Weichei“ in die Geschichte eingehen wolle, von den einen verharmlost und bespöttelt; seine „Zurückhaltung“ bzgl. der Stationierung von Landtruppen in Polen sogar als unverantwortlich kritisiert. Andere Teile der Öffentlichkeit sehen in der „Doktrin“ die Absicht der USA, ein Feindbild Russland aufzubauen, die Kriegshysterie in Europa zu steigern, die NATO weiter nach Osten voranzuschieben, um die militärische Einkreisung Russlands in Vorbereitung auf einen langfristigen Krieg zu verstärken.[2] Die Irritation geht quer durch die Medien.
Beides, die Bereitschaft zu verstärkten Interventionen wie auch zum Rückzug, kann aus Obamas „Doktrin“ belegt werden. Wie passen diese beiden Seiten zusammen?
Strategischer Rückgriff auf das Ende der UdSSR
Mit den in Westpoint bekräftigten „Prinzipien“ wiederholte Obama den Anspruch, den sein Ziehvater Sbigniew Brzezinski (zwischen 1977 und 1981 Sicherheitsberater des US-Präsidenten Carter, noch heute in hohem Alter Mitglied in diversen US-Think-Tanks) in seinem Resümee zur Weltlage nach der Implosion der Sowjetunion definiert hatte[3]. Erinnern wir uns:
Ausgehend vom Zusammenbruch der bipolaren Welt 1991 entwarf Brzezinski als Hauptaufgabe der „einzig verbliebenen Weltmacht“ die Herstellung der Kontrolle über den Eurasischen Kontinent. Wer Eurasien beherrsche, beherrsche die Welt, so seine von dem Briten Harold Mackinder inspirierte Grundthese, die dieser vor dem Ersten Weltkrieg vor dem Hintergrund des damaligen „Great Game“ vor allem zwischen dem englischen Empire und Russland um ihre Einflussgebiete in Eurasien entwickelte.
Heute werde Eurasien erstmals von einer außer-eurasischen Macht beherrscht, nämlich den USA. Eine „Hegemonie neuen Typs“ habe sich entwickelt, die auf der Überlegenheit der amerikanischen Kultur und der Überlegenheit der amerikanischen Machtentfaltung beruhe. Diese Hegemonie müsse jedoch durch Interventionen abgesichert werden, die geeignet seien, den „globalen Pluralismus“ zu fördern, um auf diese Weise „jedes Aufkommen eines Rivalen zu verhindern“. Das müsse und könne von drei „Brückenköpfen“ aus geschehen:
– im Westen durch NATO- und EU-Erweiterung;
– im Osten durch einen Block aus Japan, Korea, Taiwan;
– im Süden, am Bauch Russlands entlang, durch Eingriffe in das, was Brzezinski den „Eurasischen Balkan“ nannte: Iran, Irak, Afghanistan und die kaspisch-kaukasische Region von der Ukraine bis Usbekistan. In diesem Raum gelte es für Amerika zudem, sich die „Filetstücke“ der globalen Energie-Ressourcen zu sichern.
Wichtigstes Objekt der von Brzezinski damals für notwendig gehaltenen Interventionen war für ihn das, was er das „Schwarze Loch“ Eurasiens nannte, nämlich Russland. Russland, so Brzezinski, müsse unter allen Umständen daran gehindert werden, sich wieder zu einem eurasischen Imperium zu entwickeln. Dies könne am effektivsten geschehen, indem die Ukraine aus dem russischen Einflussbereich gelöst werde. „Die Ukraine“, so Brzezinski, „ein neuerer und wichtiger Raum auf dem eurasischen Schachbrett, ist ein politischer Dreh- und Angelpunkt, weil ihre bloße Existenz als unabhängiger Staat zur Umwandlung Russlands beiträgt. Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr.“
Der demokratischen und pluralistischen Floskeln entkleidet bedeutete die von Brzezinski vorgelegte Strategie nichts anderes als die systematische Anwendung des uralten imperialen Prinzips des Teile-und-Herrsche – allerdings erstmals im Maßstab einer globalen Hegemonie.
Die Reihe der US-Interventionen auf dieser Linie riss seit Vorlage der Strategie nicht ab: Kosovo, Afghanistan, Irak, NATO-Erweiterung über den gesamten Kaukasus bis nach Usbekistan, „bunte Revolutionen“ in Aserbeidschan, Georgien, Ukraine, Kirgisien, Aufrechterhaltung der koreanischen Spaltung. Die Reihe lässt sich mühelos bis in die Gegenwart verlängern. Die neueste Variante ist, aufbauend auf der „orangenen Revolution“ von 2004, die aktive Unterstützung des Regimewechsels in der Ukraine, für dessen „demokratische“ Vorbereitung die USA nach eigenem Bekunden mindestens fünf Mrd. Dollar eingesetzt haben.
„Die zweite Chance“
2006 erschien von demselben Brzezinski das Buch „“Second Chance. Three Presidents and the Crisis of Amarican Superpower“[4] Darin legte er, zu jener Zeit aus dem Hintergrund einer kritischen Begleitung der offiziellen Politik unter George W. Bush, der amerikanischen Öffentlichkeit eine schonungslose Kritik der drei Präsidenten George H.W. Bush (Bush I, 1989 – 1993), Bill Clinton (1993 – 2001) und George W. Bush (Bush II, 2001 – 2009) vor.
George H. W. Bush, von Brzezinski schroff Bush I genannt, musste sich sagen lassen, er habe das Geschenk der einzigen Weltmacht, das den USA durch die Implosion der Sowjetunion zugefallen sei, nicht genutzt. Clinton wird als leichtsinniger politischer Sunny Boy charakterisiert, der die Möglichkeiten der US-Macht zur globalen „Friedenssicherung“ idealistisch verspielt habe. Busch II wird – noch während seiner Amtszeit – einer vernichtenden Kritik unterzogen: Er habe den politischen Kredit, mit dem die USA aus dem Sieg über die Sowjetunion hervorgegangen seien, in verbrecherischer Dummheit verspielt.
Am Ende der drei Präsidentschaften, bilanziert Brzezinski, stehe die „Superpower“ außenpolitisch in der Isolation, innenpolitisch vor einem politischen und allgemeinen Bildungsnotstand und einer sozialen Desintegration. Eine „zweite Chance“, die ihnen zugefallene Rolle des Weltpolizisten zu halten, könnten die USA nur wahrnehmen, wenn sie sich a) außenpolitisch zu einer kooperativen Bündnispolitik öffneten, b) innenpolitisch zu sozialen Reformen bereit seien.
Im Übrigen zieht sich durch das Buch dieselbe Strategie wie durch das erste nicht ganz zehn Jahre zuvor: Globale Intervention, vorrangig rund um den Eurasischen Kontinent, um das „Entstehen eines ernsthaften Konkurrenten durch gezielt hergestellte „Pluralität“ zu vermeiden. Und auch in diesem Buch steht die Ukraine wieder im Zentrum.
Obama – Ziehkind Brzezinskis
Anfang 2007 meldete Barak Obama, gestützt auf derartige Beratung durch Brzezinski, seine Kandidatur für die Präsidentenwahl im Januar 2009 an. Er war der Kandidat, der – mit Vorschusslorbeeren eines „Friedensnobelpreises“ aus Oslo bedacht – in seiner Antrittsrede als Präsident mit dem Spagat auftrat, die Vormachtstellung der USA durch Entwicklung einer offenen Bündnisfähigkeit aufrecht zu erhalten, genauer, zu restaurieren.
Eines der Stichworte, das Obama nach Amtsantritt in diesem Sinne an die NATO-Bündnispartner übermittelte, lautete „Smart defence“ – höhere Effektivität durch Dezentralisierung und Arbeitsteilung innerhalb der NATO. Auf ihrer Tagung von Chicago 2012 wurde “smart defence“ zum NATO-Programm erhoben.[5] Eine Konzentration der US-Force und der NATO auf stärkere propagandistische Vorfeldarbeit, auf „punktgenaue“ Interventionen, auf einen die Zivilbevölkerung angeblich schonenden Drohnen-, statt Bodenkrieg, auf Rückzug konventioneller Kräfte bei gleichzeitigem Ausbau der computergestützten Cyber-Kriegsstrukturen für gezielte Liquidationen von Gegnern ist Ausdruck dieses Programms. Eine arbeitsteilige politische und logistische Schwerpunktsetzung – USA nach Asien, EU nach Osteuropa und Russland –ging damit einher.
New Strategy – Renaissance des atlantischen Bündnisses
Ein drittes Buch des Strategen Brzezinski, veröffentlicht 2012[6], immer noch aus dem Off, aber nicht mehr aus der Opposition wie zu Zeiten von Bush II, fordert die aktive Fortsetzung dieses Kurses – allerdings mit einer bemerkenswerten Korrektur: Angesichts eines „politisch erwachten Asiens“, bestehe die „neue Realität“ darin, „das nicht eine einzige Macht weiterhin versuchen kann, um mit Mackinder zu sprechen, Eurasien zu ‚beherrschen‘ oder zu ‚kommandieren‘“. Amerikas Rolle, „besonders nachdem zwanzig Jahre verschwendet wurden, muss nun gegenüber den neuen Eurasischen Machtrealitäten, sowohl subtiler als auch verantwortlicher werden. Die Herrschaft durch einen einzelnen Staat, wie mächtig auch immer, ist nicht läng er möglich, vor allem angesichts des Auftauchens neuer regionaler Spieler.“
Neue Anstrengungen, so Brzezinski, seien erforderlich, einen „vitaleren und größeren Westen“ zu schaffen, was bedeute, „sowohl Russland als auch die Türkei in einen Westen mit einzubinden, der die EU, die NATO und die USA umfasst“. Für Russland gelte das allerdings nur „in transformative ways“, d.h., für ein „modernisiertes“, „demokratisiertes“, in Klartext übersetzt, für ein zur Kooperation und Einordnung in den Westen bereites Russland. Ein Russland mit Putin, so Brzezinski unmissverständlich, sei dafür ungeeignet.
Wörtlich dann in Fortführung früherer Positionen: „Eine systematisch betriebene engere Beziehung zwischen Russland und dem atlantischen Westen (ökonomisch mit der EU, und in Sicherheitsfragen mit der NATO und mit den Vereinigten Staaten genereller) könnte beschleunigt werden durch eine allmähliche Akzeptanz einer wahrhaft unabhängigen Ukraine, die dringender als Russland näher zu Europa und vielleicht ein Mitglied der Europäischen Union werden will. … Andererseits würde eine Ukraine, die vom Westen isoliert und politisch zunehmend abhängig von Russland ist, Russlands unkluge Wahl zugunsten seiner imperialen Vergangenheit ermutigen.“
Kurz gesagt, aktuell geht es für die USA um die Verteidigung ihrer niedergehenden Hegemonie gegenüber den Newcomern der Welt – vor allem Asien – auf der Grundlage eines um Russland und die Türkei zu erweiternden Bündnisses der sog. führenden Industrienationen. Diese Orientierung ist nicht etwa nur ein Theorem Brzezinkis. Sie wurde von US-Außenminister Kerry unter dem Stichwort „Renaissance des atlantischen Bündnisses“ auch auf der letzten „Sicherheitskonferenz“ im Februar 2014 in München vorgetragen, an der auch Brzezinski wieder teilnahm.[7] Dieser Orientierung der US-Regierung schlossen sich die Vertreter der EU an, insonderheit die deutschen, die sich demonstrativ bereit erklärten in Zukunft „mehr Verantwortung“ übernehmen zu wollen.
Vorwärtsverteidigung
Die „Neue Strategie“ ist jedoch nicht wie erhofft aufgegangen. Ein Regimewechsel in der Ukraine konnte zwar erzwungen werden. Russland in diese „Transformation“ mit hineinzuziehen, gar auch dort einen Regimewechsel zu fördern, hat jedoch zum genauen Gegenteil geführt, zu einer Festigung der Position Putins in Russland selbst – jedenfalls aktuell – und zum engeren Zusammenschluss Russlands mit China.
Vor diesem Hintergrund ist die „Obamadoktrin“, insbesondere Obamas Beteuerungen, dass die USA heute so gut da stünden wie nie zuvor, samt der an die Doktrin gehängten „European Reassurance Initiative“, nur als Versuch der USA zu verstehen sich selbst und wenn möglich die atlantischen Verbündeten in das zu treiben, was man hierzulande in schlechter Erinnerung an die eigene Geschichte bissig eine Vorwärtsverteidigung nennt. Dazu passt, das Brzezinski, entgegen seiner eigenen Mahnungen zu „subtiler“ Politik, die US-Regierung auffordert, das Ukrainische Militär in der Auseinandersetzung mit den östlichen Rebellen für einen langfristigen Häuserkampf zu schulen und auszurüsten, um – wie er ausdrücklich sagt – den Russen, die bei einem Einmarsch in die Ukraine „im Feld“ sonst überlegen sein könnten, zu zeigen „dass wir es ernst meinen.“[8] Man kann nur hoffen, dass die Russen solche Provokationen an sich vorbei laufen lassen.
Kai Ehlers,
[1] The Washinton Post, Full transskript of President Obama`s commencement address at West Point, Published May 28
[2] Tagespresse und TV vom 24.05. – 03.06.2014
[3] Sbigniew Brzezinski, The grand Chessboard, The Amarican Prinary And Ist Geostrategic Imperatives“, Basisc Books, New Yoek1997,
[4] Sbigniw Brzezinski, Second Chance, Three Presidents and the Crisis of Amarican Superpower“, 2006 Basic Books, New York
[5] Bundesministerium für Verteidigug, Intelligente Verteidigung – ein Thema für den NATO-Gipfel, 04.04.2012
[6] Sbigniew Brzezinski, New Strategy, Basic Books, New York
[7] 25. Münchner Sicherheitskonferenz, 31.01. – 02.02. 2014
[8] Politico Magazine, May 02,2014, What Obama Should Tell Americans About Ukraine.
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