Was tun mit der Ukraine? – Putins und Nawalnys Pläne

Beide inoffiziellen Präsidentschaftskandidaten haben ihre Sicht des Problems dargelegt. Was sie vorschlagen, ist Thema eines Artikels in der oppositionellen Zeitung „Republic“.

„Wladimir Putin und Alexej Nawalny, zum jetzigen Zeitpunkt die einzigen inoffiziellen Kandidaten für das Präsidentenamt, teilen aktiv ihren Standpunkt zum Thema der künftigen Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine mit. Das verwundert nicht: Russlands Rolle in dem zähen Krieg im Donbass und der auf internationaler Rechtsebene nicht geregelte Status der Krim sind die wichtigsten Gründe für die westlichen Sanktionen. Die Überwindung der internationalen Isolation (die misst sich nicht an der Anzahl der Treffen von Wladimir Putin bei internationalen Gipfeln, sondern an den bestehenden Beschränkungen des Zugangs zu fortschrittlichen Technologien und Kapitalmärkten) erfordert vom neuen Präsidenten Russlands die Regelung des Konfliktes mit der Ukraine. Deshalb ist es logisch, wenn die Hauptkandidaten für das Präsidentenamt den Wählern die Möglichkeit geben, ihre Herangehensweisen an die Lösung dieses Problems zu vergleichen.

„Das löst sich von selber“

Wladimir Putin hat seinen Standpunkt in mehreren Auftritten dargelegt –bei der Live-Fragestunde im Juni, beim G20-Gipfel in Hamburg und bei einem Treffen mit Metallarbeitern (…) im Gebiet Belgorod. Er lässt sich auf eine einfache Formel reduzieren: „Das wird sich von selber lösen.“ Es werden keinerlei aktive Handlungen und Veränderungen in der russischen Politik zur Lösung des Problems vorgeschlagen, und das ist nicht verwunderlich, denn Putin ist der Autor dieser Politik und hält sie für erfolgreich.

Man müsse nur abwarten, bis „das ukrainische Volk es satt hat, das zu ertragen“, es „diese Staatsmacht austauscht“ (die Präsidenten- und Parlamentswahlen in der Ukraine sollen 2019 stattfinden) und solche Spitzenpolitiker wählt, die eingestehen, dass „die Interessen des russischen und des ukrainischen Volkes übereinstimmen (für solch einen vorbildlichen Leiter der Ukraine hält Putin seinen Freund und „richtigen ukrainischen Nationalisten“ Viktor Medwedtschuk). Dieser neue Staatschef sollte im Idealfall erreichen, dass die Ukraine ein treuer Vasall Russlands mit eingeschränkter Souveränität in der Außen- und Verteidigungspolitik wird. Eine ideale Ukraine wäre für Wladimir Putin das heutige Weißrussland, nur ohne Alexander Lukaschenko. Nun, oder wie das gerade erst ausgerufene „Malorossija“, wenn es denn um ganz extreme Varianten geht.

Mit der künftigen „richtigen Regierung der Ukraine“ könnte man endlich das Problem der Anerkennung der russischen Souveränität über die Krim lösen; im Rahmen der Föderalisierung könnte man der Ukraine dann den heute nicht kontrollierten Teil des Donbass zurückgeben (entweder im Rahmen von Minsk 2 oder überhaupt „nach Brüderart“, wenn in Kiew wirklich „die eigenen Leute“ sitzen, denen man für die Treue zur Krim und dem Donbass ein wenig Geld geben oder, wie gewöhnlich, Rabatt bei den Gaspreisen gewähren kann).

Die Minsker Vereinbarungen spielen in diesem Konzept nur eine instrumentelle Rolle – mit diplomatischen Mitteln drängen sie der unfreundlichen Regierung der Ukraine ein für Moskau vorteilhaftes Modell der Schwächung des ukrainischen Staates auf, unter Wahrung des russischen Einflusses auf Kiews Politik, was 2014–2015 mit den Methoden des „Hybridkrieges“ nicht erreicht werden konnte. Aber wenn in Kiew „richtige ukrainische Nationalisten“ das Ruder übernehmen, kann Minsk 2 auch geopfert werden. Nach der Entstehung einer entente cordiale zwischen Moskau und Kiew müsste der Westen alle antirussischen Sanktionen aufheben.

Aber dieses „positive Programm“ hat einen Nachteil – es ist auf friedliche Weise nicht umzusetzen unter den Bedingungen, dass Russland nach 2014 keine Instrumente des Einflusses auf die ukrainische Politik mehr hat, genauso wie es keine ukrainischen politischen Kräfte mehr gibt, die diese Tagesordnung teilen. Das ist kein Handlungsplan, sondern nicht mehr als ein schöner Traum von Wladimir Putin. Entsprechend wird es keine Aufhebung der Sanktionen geben, die internationale Isolation bleibt bestehen und Russlands Außengrenzen bleiben ohne Anerkennung.

Nawalnys Weg

Alexej Nawalny hat in einer Interview-Serie – für den Fernsehsender RBK im Dezember, die Agentur Bloomberg im März, den TV-Kanal Doschd und die Radiostation Echo Moskwy im Juni – eine prinzipiell andere Herangehensweise markiert, die eine bedeutende Korrektur der russischen außenpolitischen Linie zur Ukraine beinhalten würde. Dieses Thema wird er auch bei den bevorstehenden Debatten mit Igor Girkin (Strelkow), einem der ersten „Leiter von Noworossija“, entwickeln.

Nawalny hat seine Herangehensweise an „das Problem der Ukraine“ bisher nicht im Detail vorgelegt, aber auch das, was er gesagt hat, erweist sich als ausreichend, um seitens der Pro-Kreml-Kräfte und unter der russischen Opposition eine Welle von Empörung und Kritik hervorzurufen.

Nawalnys Herangehensweise basiert darauf, dass die Normalisierung der Beziehungen mit der Ukraine mit der schnellen Erfüllung der Minsker Vereinbarungen beginnen würde, wobei Russlands Rolle und Teilnahme an der Unterstützung der Separatisten anerkannt würde.

Das würde erlauben, sofort zu Direktverhandlungen zwischen Kiew und Moskau ohne Beteiligung der Volksrepubliken Donezk und Lugansk überzugehen. Aber Konkretes dazu, wie die Minsker Vereinbarungen eigentlich implementiert werden sollten, sagt Nawalny noch nicht, sodass man nur erahnen kann, dass es sich dabei um die Annahme der Interpretation und die Umsetzung der Schritte handeln könnte, die heute von Berlin, Paris, Washington und Kiew gefördert werden. Darunter ist zu verstehen: zuerst Waffenruhe, Abzug der russischen Militärspezialisten und der aus Russland bereitgestellten schweren Kampftechnik, Übergabe der Staatsgrenzen unter die Kontrolle Kiews, Amnestie und Austausch der Gefangenen, und danach bereits Lokalwahlen und Veränderungen im Staatsaufbau der Ukraine (das Gesetz über den Sonderstatus und seine Verankerung in der ukrainischen Verfassung).

Wir merken an, das Nawalny diesen politischen Vorgaben der Minsker Vereinbarungen, die für Kiew äußerst unvorteilhaft und für Moskau von großem Vorteil sind, nicht entsagt. Im Ganzen würde die Umsetzung dieser Schritte die Regelung und die Aufhebung der schmerzhaftesten westlichen Sanktionen erlauben, aber der Teufel steckt ja bekanntlich im Detail: Die von solch einem Plan vorgesehene Demontage der existierenden Strukturen der beiden Volksrepubliken könnte auf eine wütende Sabotage seitens der heutigen Leiter des Donbass stoßen, bis hin zu militärischen Provokationen.

Das Problem der Krim und eine Reihe anderer territorialer Streits und Konflikte – Palästina-Israel, Nordzypern, Kosovo, der russisch-japanische Streit um die Süd-Kurilen – hält Nawalny für unlösbar.

„Das Krim-Problem gehört jetzt in die Kategorie jener Territorialstreits, die nicht lösbar sind. Davon gibt es viele in der ganzen Welt. Sehen Sie sich Israel an. Dort gab es viele Resolutionen des UN-Sicherheitsrates, einen Haufen Friedenskonferenzen, eine Trillion Bücher über die Wege, die zum Frieden führen könnten. Aber wie es aussieht, kann das Problem in nächster Zeit nicht gelöst werden. Was können wir jetzt mit der Krim tun, wenn dort alle russische Pässe bekommen haben?“, sagt Nawalny im Bloomberg-Interview.

„Als Präsident kann ich nur eines garantieren – das ich dort ein ehrliches Referendum durchführe, ich werde Versuche unternehmen, die Situation zu normalisieren. Wir werden versuchen, die Ukraine zu diesem Referendum und den trilateralen Kommissionen mit der Europäischen Union heranzuziehen. Ehrlichgesagt zweifle ich daran, dass die Ukraine dieses Referendum anerkennt. Soll heißen: Bisher ist das Knäuel an Widersprüchen ein völlig klassisches, wie bei Israel und Palästina. Es ist von der Sorte, dass keiner etwas tun, sich nicht einmal annähern kann. Deshalb denke ich, wir alle werden sehr lange leiden, die Bewohner der Krim werden leiden, Investitionen in die Krim werden nicht laufen. Ich werde viele-viele-viele Jahre auf diese Frage antworten, solange ich mich mit Politik befasse, aber ich sehe überhaupt keine Perspektiven“, führt Nawalny im Interview für Echo Moskwy den Gedanken weiter aus.

Genau diese Position zur Krim rief bei einem Teil der russischen Opposition jede Menge Kritik gegen Nawalny hervor. Sie ist der Ansicht, die neue Leitung Russlands sollte im Interesse der moralischen und rechtlichen Reinigung alle juristischen Akte über den Anschluss der Krim und von Sewastopol aufheben und diese Territorien – in Übereinstimmung mit den zuvor von Russland anerkannten internationalen Rechtsakten – in Kiews Souveränität zurückgeben. Diese maximalistische Position erklingt in einem Appell des Forums „Freies Russland“ mit dem Titel „Erstrangige Forderungen der russischen Opposition in der Außenpolitik“. Bisher haben 63 Personen diesen Aufruf unterschrieben.

Recht hat in diesem Streit natürlich Nawalny. Er tritt mit der realistischen Position eines Patrioten und Staatsmannes auf, der versteht, dass kein demokratisch gewählter Präsident Russlands (außer einem Militärdiktator) jemals eine Machtfülle besitzen wird, die es erlauben würde, zwei Millionen russischen Bürgern auf der Krim zu erklären, dass Russland sich von ihnen lossagt und sie gegen den eigenen Willen einem anderen Staat überlässt.

Solch eine Entscheidung wäre verfassungswidrig, sie würde nicht durch beide Kammern des russischen Parlaments kommen (es wäre eine Verfassungsänderung nötig). Nawalny versteht, dass der neue Präsident auch ohne die Krim eine Riesen-Agenda vor sich hat, die wohl sehr viel mehr Aufmerksamkeit und – das ist am wichtigsten – breite öffentliche Unterstützung erfordert. Er hat nicht vor, „Präsident eines Problems“ zu werden und „im Morast der Krim steckenzubleiben“.

Vollkommen richtig ist auch Nawalnys Botschaft von der Notwendigkeit, sich mit der Ukraine auf die Anerkennung der russischen Souveränität über die Krim zu einigen, aber sein Vorschlag – ein neues „ehrliches Referendum“ unter internationaler Kontrolle – ist ein Fehler, was er wohl auch selbst versteht. Solch eine Lösung zu finden, wäre sehr schwierig, und der neue Präsident Russlands hätte dafür nur ein kleines Spektrum an Möglichkeiten.

„Ein interessanter Vorschlag“

Eine komplexe Lösung zur Ukraine ist nur im Rahmen eines Gesamtpakets möglich, das die Einstellung des Konflikts im Donbass und die Wiederherstellung der Souveränität der Ukraine über das gesamte Territorium der Gebiete Donezk und Lugansk eng mit der Anerkennung der russischen Souveränität über die Krim seitens Kiew im Rahmen eines neuen Vertrags zwischen Russland und der Ukraine verknüpfen würde. Dabei ist offensichtlich, dass solch eine Regelung den Verzicht auf die Minsker Vereinbarungen als Instrument zur Umfunktionierung der ukrainischen Staatlichkeit im Interesse der russischen Kontrolle über die Ukraine bedeuten würde. Das wäre eben jener „andere Deal“ zwischen Moskau und Kiew, der vom Westen anerkannt werden würde, an den vor kurzem US-Außenminister Rex Tillerson erinnerte und der natürlich alle westlichen Sanktionen aufheben würde – wie im Donbass, so auch auf der Krim.

Basis für solch einen Deal müsste die Anerkennung zweier offensichtlicher Fakten durch beide Seiten werden: Die Ukraine hat den Krieg um die Krim verloren und Russland den um den Donbass. Genauer: Die Ukraine gibt freiwillig den Kampf um die Krim auf, obwohl sie solch eine Möglichkeit hatte (offensichtlich ist es besser so, denn das Ergebnis wäre wohl das gleiche, nur mit mehr Opfern). Dafür reicht es, das öffentlich gemachte Stenogramm der Sitzung des Nationalen Rates für Sicherheit und Verteidigung der Ukraine (SNBO) vom 28. Februar 2014 zu lesen, wo Julia Timoschenko die Kollegen dazu ermahnt, keinen militärischen Widerstand auf der Krim zu leisten, und Sicherheitsrats-Chef Naliwaitschenko die eindringliche Bitte der amerikanischen Partner gleichen Inhalts wiedergibt. Die Rückkehr der Krim zur Ukraine würde einen vollumfassenden Krieg gegen Russland bedeuten, den die Ukraine niemals gewinnen könnte. Diese Tatsache muss anerkannt werden.

Russland hat freiwillig darauf verzichtet, den Krieg im Donbass zu gewinnen, obwohl es rein technisch diese Möglichkeit hatte. Doch der Preis eines solchen Sieges und der darauf folgenden Unterhaltung eines großen Territoriums wäre für Russland selbst übermäßig hoch gewesen; die westlichen Sanktionen hätten in dem Fall sehr viel verheerender ausfallen können. Die Minsker Vereinbarungen sind Russlands Anerkennung dessen, dass ein militärischer Sieg über die Ukraine unmöglich ist, und ein Versuch, die gleichen Ziele zu erreichen, nun aber bereits durch ein Kiew aufgezwungenes hartes Format einer friedlichen Lösung. Aber auch dieser Plan konnte nicht vollumfänglich verwirklicht werden, und das wird wohl auch nicht mehr gelingen. Auch diese Tatsache muss anerkannt werden.

Die Krim ist heute das, was sie schon immer in der Geschichte Russlands war – eine Kriegstrophäe. Ihr Unterschied zu anderen Kriegstrophäen – dem Gebiet Kaliningrad und Karelien – liegt nur darin, dass der Status Letztgenannter als russische Territorien in internationalen Abkommen verankert und in der ganzen Welt anerkannt ist. Die Krim ähnelt mehr den Süd-Kurilen, einer weiteren Kriegstrophäe, nur ohne Verankerung im internationalen Recht. Nawalny spricht genau davon – man kann noch 50 Jahre um die Krim verhandeln, aber vielleicht gibt es auch eine andere Lösung?

Wie solch eine Lösung aussehen könnte, geben die beiden Nachkriegsverträge zwischen der UdSSR und Finnland (auch einst Teil des Russischen Reiches) zu verstehen – der Pariser Friedensvertrag von 1947 (er verankerte die territorialen Erwerbungen der UdSSR) und der Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitige Hilfe (er legte die militärische Neutralität und den blockfreien Status Finnlands bezüglich der UdSSR fest, außerdem die sowjetischen Garantien eines Nichtangriffs auf Finnland), jedoch unter Berücksichtigung der heutigen Realien. Das ist keine ideale Variante, aber etwas Besseres gibt es wahrscheinlich nicht.

Ob die Führung der Ukraine sich auf den Abschluss eines so komplexen Deals mit Russland einlässt, ist natürlich eine große Frage, die nach der heutigen Lage zu schließen wohl eher mit „nein“ beantwortet werden müsste. Aber im Unterschied zu seinen Kritikern hat Nawalny Recht damit, wenn er sagt, Moskau, der neue Präsident, muss Kiew „ein interessantes Angebot“ vorlegen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit würden die westlichen Teilnehmer an der Konfliktregelung der Ukraine raten, darauf mit allem Ernst zu reagieren.“

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