Warum der Westen jetzt die schlechteren Karten hat

Warum der Westen jetzt die schlechteren Karten hat

[von Michael Schütz] Der Krieg ist die Mutter aller Schlachten

könnte die feministische Version des vielleicht bekanntesten Zitates zum Thema Krieg lauten, in dem dem Krieg eigentlich die Rolle eines Vaters zukommt. Allerdings versuchen sich gerade auffallend viele Frauen im westlichen Kampf gegen Russland als Sofakriegerinnen und diesem Verdienst soll natürlich hier auch Rechnung getragen werden…

Von dem ursprünglichen Zitatespender, der das mit dem Krieg als Vater aller Dinge womöglich ganz anders gemeint hat, nämlich Heraklit (geboren etwa 540 v. Chr. ), stammt auch das Panta Rhei, die Erkenntnis, dass alles fließt (genau genommen ist das Meiste, was wir über Heraklits Ideen wissen, nicht von ihm selbst, sondern von seinen Schülern, bzw. Nachfolgern überliefert und so taucht das Panta Rhei auch erst viel später in der Debatte auf, in dem Versuch, das Denken des Meisters auf den Punkt zu bringen).

Die beiden Sätze vom Krieg als Vater und dem Fließen muss man im Sinne Heraklits wohl als zusammenhängend begreifen:

Der Autor hat in seinem letzten Beitrag an dieser Stelle auf das Phänomen der Polarität aufmerksam gemacht und versucht zu verdeutlichen, was dieses Phänomen für den Westen bzw. die EU im Konflikt gegen Russland tatsächlich bedeutet.

Es reicht aber noch ein bisschen weiter.

Heraklit hat in der westlichen Welt möglicherweise als erster grundsätzlicher über dieses Phänomen der Polarität nachgedacht und die beiden Zitate sind auch ein Ausfluss aus dieser Beschäftigung.

Polarität erzeugt ein Spannungsfeld zwischen den Polen, das sowohl als Kampf bzw. Krieg als auch als Fließen wahrgenommen werden kann, je nachdem mit welchen Einstellungen man an das Ganze herangeht. Dass der Krieg ein Vater sei, heißt also, dass die in diesem Spannungsfeld stattfindende Auseinandersetzung neue Entwicklungen anstößt.

In der Regel verstehen wir dagegen die Vaterschaft des Krieges eher vordergründig, was auch nicht verboten ist, es ist nur die Frage, in wie weit dies Heraklits Intentionen nahekommt.

Dass Polarität aber auch die Dinge ins Fließen bringen kann, weiß jeder, der schon mal eine Batterie in der Hand gehabt und in ein entsprechendes Gerät eingesetzt hat.

Das Alles fließt ist sicherlich eine der wichtigsten Erkenntnisse, die je ein Bewohner unseres Kontinents gehabt hat und dementsprechend sollten wir dieses Verständnis als europäische Zivilisation auch in unser Denken und unsere Wahrnehmung einbauen. Es geht dabei weniger um ein Werden und Vergehen, als vielmehr um ein Sein und Wandel, der sich in der Bewegung eines breiten Flusses vollzieht. Dabei dürfen wir allerdings nicht so sehr an unsere heutigen regulierten Flüsse denken, sondern daran, dass sich früher die natürlichen Flussläufe in ihrem Bett ständig verändert haben und was das für Folgen hatte.

Diesen Wandel als Konstante der Existenz in die Wahrnehmung einzubauen, genau das hat der Westen an der alles entscheidenden Stelle in der jüngeren Weltgeschichte nicht geleistet und das droht ihm jetzt auf die Füße zu fallen. Wo da der Knackpunkt gelegen war, werden wir gleich erkennen können.

Die Offenheit dafür, dass alles fließt, und die Bereitschaft, alles fließen zu lassen, wäre eigentlich eine jener Werte, die Europa tatsächlich besitzt. Das setzt das zulassen von Polarität voraus. Im antiken Griechenland, im antiken Rom und im Christentum finden wir wesentliche Grundlagen dafür, dass aus uns Bewohnern des westlichen Subkontinents Europäer geworden sind. Anstatt penetrant Werte zu betonen, die uns niemand auf der Welt abnimmt, könnten wir dort in der Antike auf Suche gehen und uns fragen, von welchen Werten, die die Basis für die Entstehung von Europa bilden, wir uns abgeschnitten haben ?

Auf der Webseite der NASA – einer gemeinhin westlichen Fortschritt symbolisierenden Organisation – findet sich folgende aufschlussreiche Bemerkung:

 „Panta rhei is a simplified version of the famous Greek philosopher Heraclitus‘ teachings. It basically means, everything flows. And everything in the Universe is indeed continually on the move, spiraling and shifting through space.“

Diese Aussage macht die NASA in Zusammenhang mit dem Sternhaufen Palomar 12, der offenbar noch beweglicher ist als andere kosmische Gebilde und stellt dabei eben fest: „Alles im Universum ist tatsächlich ständig in Bewegung…“.

Gemeint ist alles, also wirklich alles.

Be on the move könnte daher auch der Wahlspruch für einen nächsten Wahlkampf lauten, aber ob das bei der westlichenZivilisation der Angst so gut ankommt, ist dann eine andere Frage.

Wo war also unser entscheidender Fehler gelegen, den wir gegenüber Russland, vor allem aber gegenüber uns selbst gemacht haben?

Das Bild des breiten Flusses, der unsere sich wandelnde, aber im Wesen doch gleichbleibende Existenz mächtig vorantreibt, ist eine starke Vorstellung von der Urkraft des Seins. Wir Menschen tendieren jedoch dazu, den Fluss anhalten zu wollen: Oh Augenblick verweile doch, du bist so schön…

Für Machteliten scheint das Aufhalten des Flusses geradezu überlebensnotwendig zu sein, deshalb errichten sie oft hohe Staumauern, um den Fluss zu stoppen. Nationalisten versuchen sogar, das Wasser wieder zurück zur Quelle zu pumpen. Durch solche Maßnahmen steigt allerdings der Wasserdruck gegen die Staumauer immer stärker an und wir wissen aus der geschichtlichen Erfahrung, dass es noch keiner Zivilisation gelungen ist, diesem Druck standzuhalten. Irgendwann bricht die Staumauer und dann geht alles wortwörtlich den Bach respektive Fluss hinunter. Der Westen hat scheinbar gerade diesen Punkt erreicht, an dem seine Staumauer zu brechen droht.

Als sich 1985 der große Fluss in der Person von Michail Gorbatschow den Weg zurück in die Weltgeschichte gebahnt hat, hat dies die Sowjetunion hinweggefegt, aber der Westen hat die Botschaft, die ebenso für ihn gedacht war, ignoriert: Alles fließt und daher musst auch Du ins Fließen kommen. Stattdessen hat man im Westen das Ende der Geschichte verkündet – da fließt natürlich nichts – und eine monopolare Weltordnung, also Stillstand ausgerufen. Nichts geht mehr.

Was tun?

Wir reden gegen dicke Staumauern und sollen doch der Kraft des Flusses vertrauen.

Russland ist dagegen bereit, seine roten Linien militärisch zu verteidigen, als wolle es den gordischen Knoten zerschlagen, eine Erfahrung die der Westen erst einmal verarbeiten muss.

Für den Beobachter macht es den Anschein, dass die Karten tatsächlich neu gemischt werden und der Westen dabei offenbar das schlechtere Blatt zieht.

Der Westen könnte sich jetzt seiner Grundideen besinnen, wie zum Beispiel denen von der Polarität und vom Fluss des Seins. Behindere den Fluss nicht. Das wäre eine ursprüngliche Idee davon, was der Begriff „Europa“ tatsächlich bedeuten könnte.

Für die europäische Geschichte stellen die jetzigen Ereignisse einen Schlüsselmoment dar.

Russland hat mit seiner Re-Aktion auf die Verhältnisse tatsächlich einen Fluss angestoßen. Kampf ist im Sinne Heraklits eine Entscheidungssituation und daher findet gerade bei vielen Menschen in Europa ein Prozess der Bewusstmachung statt, der gerne auch als „Aufwachen“ bezeichnet wird. Je nachdem in welchen Bezugssystemen sich die Menschen aufhalten, wird dieser Prozess des Aufwachens unterschiedliche Ergebnisse zur Folge haben. Sobald allerdings eine qualifizierte Minderheit der Bevölkerung in das Fließen geraten ist, kann und wird dies die Umstände verändern.

Wie bringen wir den Fluss zum Fließen?

Die Antwort darauf ist eigentlich banal, aber angesichts dessen, dass wir an einem Kipppunkt der Zivilisation stehen, müssen wir sie offenbar neu reflektieren.

Es geht dabei um zivilisatorische Basisfähigkeiten:

  1. Demokratie. Demokratie kann man als den politischen Versuch verstehen, eine Gesellschaft im Fließen zu halten. Demokratie ist weniger eine äußere Form, als viel mehr eine innere Überzeugung: Demokratie zielt letztendlich auf den Ausgleich von Interessen.
  2. Dialog. Im zwischenstaatlichen Bereich nennt man das gemeinhin auch Diplomatie.
  3. Fragen stellen, Hinterfragen, Zuhören und dann das Gehörte sacken lassen.

Da ist natürlich auch die Frage: Wo ist der Fluss und wohin fließt er? Eine Gesellschaft, die diese Fragen nicht mehr stellt, wird auf Dauer gesehen, kaum mehr mithalten können.

Es gibt natürlich noch weit mehr Möglichkeiten, den Fluss im Fließen zu halten. Hier ist jeder und jede Einzelne von uns gefragt. Frei nach Gandhi: Sei Du selbst der Fluss, den Du in der Welt sehen möchtest.

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