Seit Mitte März kursieren unwahre, falsche und gefälschte Berichte über das Coronavirus in Russland. Der Oberste Gerichtshof Russlands sah sich gezwungen, vor strafrechtlichen Konsequenzen zu warnen. Zur Verantwortung wird gezogen, wer Informationen verbreitet, die eine Gefahr für das Leben und die Gesundheit von Menschen bedeuten, wenn der Autor von der Falschheit der Nachrichten wusste, ihnen jedoch Glaubwürdigkeit verlieh.
Letzte Woche stellte der Vorsitzende der Medienkommission der Gesellschaftlichen Kammer Russlands, Alexander Malkewtisch, die Website CoronaFake ins Netz, um unwahre Informationen über Covid-19 zu bekämpfen. Zusätzlich erschien die von Volkskundlern und Anthropologen aktualisierte Enzyklopädie der Gerüchte und Fälschungen über Coronaviren im Internet.
Eine der Autoren der Enzyklopädie, die Sozialanthropologin Anna Kirzyuk an der School of Actual Humanitarian Studies der Russischen Akademie der Wissenschaften, sprach über das Entstehen von Fälschungen und ihre Auswirkungen auf das Alltagsleben.
Die Zunahme von gefälschten Nachrichten und Gerüchten in sozialen Krisenzeiten erklärt sie mit dem Verlust der Kontrolle über das Leben und der Unsicherheit darüber, was in naher Zukunft passieren wird. Das mache die Menschen viel anfälliger für Verschwörungstheorien und lässt sie auch Informationen über Wahrheiten, an denen sie zweifeln, erneut veröffentlichen. Die Leute denken „Was ist, wenn es wahr ist“ und versuchen andere vor der „drohenden Gefahr“ zu warnen.
Die Forscherin sieht hinter den Fälschungen keine böswillige Gruppe von Menschen als Quelle. Es sei fast unmöglich, eine bestimmte Person für das Auftreten einer Fälschung verantwortlich zu machen. Es gäbe keine Menschen, die sich die Hände reiben und denken: „Aber jetzt werde ich Panik säen.“ Gefälschte Informationen werden meist durch Besorgnis ausgelöst. Zum Beispiel hört ein Mann zwei Frauen an einer Bushaltestelle sprechen, dass in einem örtlichen regionalen Krankenhaus Hunderte von Toten starben, und die Behörden darüber angeblich schwiegen. Dann schreibt er eine Nachricht darüber in ein soziales Netzwerk. Sie beginnt zu „laufen“ und im Verlauf der Übertragung kann der Text transformiert werden, mit neuen Details überwachsen und so die Urheberschaft verlieren. „Wer ist dann der Autor dieses Beitrags? Die Frauen, die an der Bushaltestelle gesprochen haben, der Autor des ersten Beitrags im sozialen Netzwerk oder diejenigen, die die Gerüchte weiterverbreiten Fälschungen und Kommentare hinzufügen?“
Die Texte, die in Gruppen von Bekannten, Freunden, Verwandten zirkulieren, verstärken das Gefühl, dass „wir zusammen sind“, „ich nicht allein bin“ und „andere genauso denken wie ich“. Indem eine Person einen Text in die Öffentlichkeit bringt, vergleicht sie sozusagen ihre Gefühle mit den Gefühlen der Gruppe.
Die Bandbreite verwirrender Informationen, reicht von der Aufforderung, nachts die Fenster zu verschließen, da Hubschrauber beginnen werden, Desinfektionsmittel gegen das Virus zu sprühen, über mit dem Coronavirus infizierte Bananen und pseudomedizinischen Ratschlägen über die Nützlichkeit des Trinkens von heißem Wasser, von Ingwer oder des Essens alkalischer Lebensmittel zur Behandlung und Vorbeugung gegen Coronaviren, bis hin zu Berichten, wonach das neue Coronavirus angeblich im Nowosibirsker Wissenschaftszentrum „Vector“ erzeugt und später nach China gebracht worden sei.
Die Verbreitung solcher Texte erfülle weitere psychologische Funktionen. „Erstens gibt es den Menschen die Illusion der Kontrolle: Ich weiß, woher die Gefahr kommt, und ich kann andere warnen. Zweitens ermöglicht die Verbreitung solcher Texte einem Menschen das Gefühl, nicht allein zu sein, wenn er Angst und Unruhe empfindet. Und drittens kann eine Person durch die Verbreitung solcher Texte ihren Status in dieser Gruppe erhöhen. Wer vor Gefahr warnt, steht gut da. Er teilt mit anderen nur für ihn zugängliche, aber lebenswichtige Kenntnisse für alle.“
Die Frage, ob es Menschen gibt, die anfälliger für gefälschte Informationen sind, kann Anna Kirzyuk nicht beantworten, da die Forscher noch über keine exakten Methoden verfügen, wie verschiedene Benutzergruppen auf solche Texte reagieren. Es gäbe jedoch Studien, die zeigen, dass ein Verweis auf wissenschaftliche und medizinische Institutionen oder auf Vertreter von Behörden mit gefälschten Stempeln, Unterschriften, Ausgangsnummern oder dem Wappen Russlands solche Nachrichten auch für ein gebildetes Publikum zuverlässig erscheinen lassen.
[hrsg/russland.NEWS]
Enzyklopädie der Gerüchte und Fälschungen über Coronaviren
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