„Dass es in Russland keine Zivilgesellschaft gibt, ist ein Mythos“V. Fadeev beim Deutsch-Russischen Forum in Berlin

„Dass es in Russland keine Zivilgesellschaft gibt, ist ein Mythos“

Valerij Alexandrowitsch, welche Themen stehen für die Gesellschaftskammer im Moment im Vordergrund?

Valerij Fadeev: Die Frage der sozialen Ungerechtigkeit und Chancenungleichheit haben wir in den Fokus des gesellschaftlichen Diskurses gebracht und darauf bestanden, dass die Regierung es als ein Schlüsselproblem betrachtet. In Russland gibt es eine einheitliche Einkommensteuer, und die beträgt nur 13 Prozent. Unsere Reichen zahlen aber nicht mal diese 13 Prozent. Das ist das Thema, womit sich die Kammer intensiv beschäftigt. Probleme des Umweltschutzes sind jetzt aktuell geworden. Die meisten Proteste im Land sind gegen die sogenannte Müllreform gerichtet, weil die Menschen das Vertrauen zu den Behörden verloren haben. Und wir sind hier die wichtigste Institution, die das Vertrauen zwischen der Gesellschaft und der Staatsmacht wiederherstellen soll.

Die Gesellschaftskammer sei ein Ersatz für die fehlende Zivilgesellschaft in Russland. In westlichen Demokratien ist die Zivilgesellschaft im Parlament vertreten, deswegen braucht man keine zusätzlichen Kammern. Was sagen Sie zu dieser ziemlich verbreiteten Meinung?

Valerij Fadeev: Das stimmt so nicht. Der Wirtschafts- und Sozialrat in Frankreich (CSE) zum Beispiel ist ein Verfassungsorgan und hat noch mehr Kompetenzen als wir. Es ist ein Mythos, dass es in Russland keine Zivilgesellschaft gibt. Ja, sie ist vielleicht nicht strukturiert und ziemlich jung, nur etwa 10 Jahre alt, aber sie existiert. Hier möchte ich vor allem die Bewegung der freiwilligen Helfer hervorheben. Sie sind zwar statistisch nicht erfasst, aber ich gehe davon aus, dass wir Millionen Volunteers in Russland haben. Sie helfen alten Menschen, arbeiten bei Sportereignissen und in Hospizen usw. Protestbewegungen gegen ökologische Vergehen, die Bewegung „Das unsterbliche Regiment“ – auch das ist Zivilgesellschaft.

Seit 2009 müssen alle Gesetzentwürfe von der Gesellschaftskammer auf Herz und Nieren überprüft werden. Wie muss man sich das genau vorstellen? Woher hat die Kammer diese Expertise überhaupt?

Valerij Fadeev: Natürlich können wir nicht sämtliche Gesetze unter die Lupe nehmen, aber alle, die eine große soziale Bedeutung haben. Wir bekommen einen Gesetzentwurf, bevor er in die erste Lesung geht, und geben dazu unseren Kommentar ab. Bei wichtigsten Gesetzen, zum Beispiel über das Staatsbudget, nehmen unsere Mitglieder bei Plenarsitzungen der Duma teil und melden sich zu Wort. Das Parlament kann uns das nicht verweigern. Wir können auf Tausende Experten in allen Bereichen zurückgreifen. Allein für Fragen des Umweltschutzes haben wir hunderte Fachleute in unserer Datenbank. Sie sind keine Mitglieder der Kammer, aber sie stehen uns gern und ehrenamtlich zur Verfügung.

Also sind die umstrittenen Gesetze gegen Fake News und „staatsbeleidigende und falsche Informationen im Internet“ durch die Gesellschaftskammer gelaufen? Die Formulierungen dort sind vage. Alles könnte theoretisch als Fake News bezeichnet werden und Kritiker befürchten, dass Zensur und Überwachung in Russland dadurch ausgebaut werden.

Valerij Fadeev: Ich persönlich war gegen das Gesetz und habe mich mehrmals entsprechend geäußert. Ich als Journalist kann so ein Gesetz nicht gutheißen. Wir werden sehen, wie das in der Praxis aussieht. Sollte es tatsächlich große negativen Folgen haben, wird sich die Gesellschaftskammer umgehend damit befassen und dann ihre Position noch klarer darstellen und dafür plädieren, das Gesetz zu korrigieren.

Die Gesellschaftskammer veranstaltet viele Diskussionsrunden, runde Tische, öffentliche Anhörungen. Könnten Sie eine aus Ihrer Sicht besonders bedeutende Veranstaltung nennen?

Valerij Fadeev: Im August 2018 fanden öffentliche Anhörungen über die Strategie der regionalen Entwicklung Russlands bis zum Jahre 2025 statt. Die Regierung hat den Schwerpunkt auf große Städte gelegt, kleine Städte und wirtschaftlich schwache Regionen hat man nahezu vergessen. Wir haben diese Strategie auf das Härteste kritisiert. Bei den Anhörungen haben Geographen, Architekten, Umweltschützer, Wirtschaftswissenschaftler, Investoren aus verschiedenen Teilen Russlands Vorträge gehalten. Und man stellte fest: das Expertenpotenzial der Gesellschaft ist viel größer als das der Regierung, die dieses Dokument vorbereitet hatte.

Zu Ihren Aufgaben gehört auch die Unterstützung der Nichtstaatlichen Organisationen.

Valerij Fadeev: Wir organisieren Treffen mit Aktivisten in den Regionen, helfen ihnen die Präsidenten-Grants zu bekommen. Die Kammer führt etwa fünf Foren, an denen Vertreter der NGOs teilnehmen können. Wir wollen sogenannte Messen der sozialen Projekte durchführen, mit dem Ziel, NGOs und Business zusammen zu bringen.

Sie sagen, dass Sie einen direkten Draht zur Regierung haben.

Valerij Fadeev: Einige Minister suche ich auf, andere suchen mich auf. Vor kurzem waren der Minister für Entwicklung des Fernostens und der Umweltminister bei mir. Sie wollen unsere Expertise haben und über die Kammer in Erfahrung bringen, was die russische Gesellschaft will. Ich möchte das am Beispiel der Rentenreform erläutern. Wir haben sie heftig kritisiert. Regionale Gesellschaftskammern haben Resolutionen gegen das Gesetz verabschiedet. Uns ging es vor allem darum, wie die Exekutive mit den Wählern umgegangen ist. Sie dachten, sie können die Reform schnell an den Menschen „vorbeischmuggeln“. Das man das Rentenalter anheben muss, das steht außer Frage. Aber die Regierung handelte zu schnell und inkompetent, was in der Gesellschaft eine sehr negative Reaktion hervorrief. Das darf nicht geschehen! Die ganze Atmosphäre, der Dialog zwischen Politik und Bevölkerung muss anders verlaufen. Und dazu wollen wir einen Beitrag leisten.

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

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