Von Mangel und Fülle und was das mit der aktuellen europäischen Krise zu tun hat

Von Mangel und Fülle und was das mit der aktuellen europäischen Krise zu tun hat

[von Michael Schütz] In der Kindheit des Autors – die schon einige Zeit zurückliegt – kursierte folgender Witz:

„Frage: Wie heißt die größte Glaubensgemeinschaft der Welt?

Antwort: Die VW-Fahrer, weil sie glauben, sie haben ein Auto.“

Gott sei Dank hat sich diese Glaubensgemeinschaft mittlerweile aufgelöst – und ist durch eine andere ersetzt worden, nämlich den sog. globalen Westen – weil dieser glaubt, er hat Werte.

Die Identitätskrise, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs den ehemals kommunistisch geprägten Teil Europas erfasst hat, hat tatsächlich auch den Westen mit eingeschlossen, da dieser damit seinen Gegenpart verloren hat, der bis dahin als Spiegel bzw. Bestätigung der Eigendefinition gedient hat. Michail Gorbatschow wird das Zitat zugeschrieben, dass die Sowjetunion dem Westen dadurch das Schlimmste antun werde, indem sie ihm den Feind nehme.

Diesen Vorgang hat man im Westen tatsächlich nur schwer verkraftet. Der Westen entwickelte daraus eine narzisstische Störung, die sich u.a. in einer Selbstüberhöhung äußert, die wiederum mit der Verteidigung von angeblichen Werten begründet wird. Eine solche Selbstüberhöhung geht Hand in Hand mit der Abwertung des Gegenüber einher.

Tatsächlich gibt es im Westen aber eine fixe Idee, die die westlich geprägte Kultur bestimmt und die Handlungen von Politik, Medien und Gesellschaft beeinflusst und nicht zuletzt auch im Konflikt mit Russland eine Rolle spielt – das ist der Mangel.

Die kapitalistische Haltung, das immer mehr haben wollen, das Streben nach Allmacht und Kontrolle auf verschiedenen Ebenen, all das ist eng verknüpft mit der Idee, Mangel zu leiden. So wie der Tag die Nacht braucht, um erstrahlen zu können, braucht Überfluss und Machtstreben den Mangel, um sich zu rechtfertigen. Die westliche Überflussgesellschaft, als auch die westlichen globalen Machtansprüche sind ohne die Idee vom Mangel kaum zu erklären.

Alle, die beispielsweise als Medienkonsumenten die Einschaltungen mit Waren-Propaganda – auch Werbung genannt – über sich ergehen lassen, haben sicher bereits verstanden, wir sehr wir Mangel leiden.

In dieser Rechtfertigung des Überflusses und der Machterweiterung mit der Überzeugung Mangel zu haben, werden die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher. Auf eine bestimmte Art logisch erklären, lässt sich das nicht, sondern nur aus der Emotion heraus, das heißt der Angst. Der Mangel scheint also immer größer zu werden, je mehr Reichtum wir anhäufen.

Diese Emotion der Angst namens Mangel hat längst eine weltpolitische Dimension entwickelt. Nicht nur im versuchten Griff nach noch mehr Macht, sondern ganz augenfällig im westlichen Instrument der sog. „Sanktionen“. Sanktionen gegen die Anderen stellen de facto die Herstellung von Mangelzuständen dar und die westlichen Sanktionen erscheinen als eine Projektion des Mangels auf das Gegenüber.

Das westliche Verhältnis zum Mangel ist offenbar komplex, denn während die Europäische Union versucht, anderen mit Mangelzuständen Schaden zuzufügen, organisiert sie gerade eine Energie- und Wirtschaftskrise im eigenen Land, also ebenso einen fundamentalen Mangelzustand. Die politischen Eliten der EU versuchen dabei der Bevölkerung weiszumachen, dass dieser Mangelzustand eine Folge des Verhaltens eines ganz bösen Reiches im Osten sei. Dabei kommt einfach nur das auf uns zurück, was wir immer ausgesendet haben.

Man fragt sich natürlich, wieso der westlichen Gesellschaft der Mangel so wichtig erscheint? Welchen Nutzen ziehen wir aus dieser Idee des Mangels. Wollen wir damit nur unsere eigenen Ängste bestätigen? Oder ist es einfach der Umstand, dass Mangel auf der einen Seite, Reichtum und Macht auf der anderen Seite generieren?

Der Mangel ist aber nicht nur das materielle Phänomen, das der Westen wahrnimmt, er reicht tiefer. Im Westen mangelt es tatsächlich an vielem, zum Beispiel grundlegenden Emotionen die unser Menschsein konstituieren, wie etwa Mitgefühl oder die Fähigkeit sich in sein Gegenüber hineinversetzen zu können.

Im Spektrum von Haben oder Sein ist der Mangel ein Haben-Begriff. Auf der Seins-Ebene steht ihm der Begriff Fülle gegenüber.

Der Westen hat bisher im augenscheinlichen materiellen Überfluss gelebt, aber es fehlt offenbar an echten Seins-Qualitäten. Die vom Westen so sehr beanspruchten sog. „Werte“ werden kaum aus einer Überzeugung des Mangels entstehen können. Werte haben etwas mit Fülle zu tun, mit einer inneren Gewissheit, die sich ihrer Selbst bewusst ist. Aus seiner Sinnkrise kann der Westen kaum Identität entwickeln, aber er bringt durch sein Verhalten die Identitätsbildung beim Gegenüber ordentlich auf die Sprünge.

Der Seins-Begriff Fülle besitzt auch eine spirituelle Dimension und damit kommen wir auch direkter zu der westlichen Projektionsfläche namens Russland. Der Westen projiziert nicht nur all seine Ängste auf Russland. Die Rede von der Russischen Seele zum Beispiel unterstellt gleichsam unbewusst dem russischen Menschen eine größere Nähe zur spirituellen Welt als sie im Westen jemals der Fall sein kann.

Spiritualität ist mit Begriffen wie Weite und Unendlichkeit verbunden und das sind wohl auch die naheliegendsten Begriffe, die man im westlichen Europa mit Russland assoziiert, wenn man über das Land nachdenkt. Eine geografische Weite, die einen verunsichern kann, womöglich sogar Angst macht. In dieser nur schwer fassbaren Weite verbergen sich, scheinbar unendlich vorhanden, Energie, Bodenschätze, Natur, wissenschaftlich/technisches Know-How, mannigfaltige Kulturen und Religionen und möglicherweise auch ein breites Wissen über innere Zusammenhänge, das im Westen verlorengegangen ist. Russland erscheint also geradezu als Gegenmodell zur westlichen Idee des Mangels.

Soviel Fülle und Weite, die noch dazu als nur schwer kontrollierbar erscheint, löst in der Enge von Mittel- und Westeuropa offenbar Ängste aus. Immer dann, wenn dieses Europa unter bestimmten Vorzeichen als geeint aufgetreten ist, scheint es sich stark genug gefühlt zu haben, Russland anzugreifen, als wolle es damit seine eigenen Ängste besiegen. Dieses Vorhaben ist zwar immer gescheitert, hat aber keinen Lerneffekt zur Folge gehabt, da die Emotion immer größer geblieben ist, als die Fähigkeit des westlichen Europäers zu einer rationalen oder auch mitmenschlichen Betrachtungsweise.

Wie kommen wir aus der gerade aktuellen Nummer wieder raus?

Einfach durch den Lauf der Dinge:

Auf einer praktischen Ebene zeichnet sich vielleicht bereits die eine oder andere Entwicklungslinie ab. Russland hat von Anfang an zu verstehen gegeben, dass es bei seinem militärisches Eingreifen in den Ukraine-Konflikt auch um das Brechen des westlichen Machtanspruchs auf globaler Ebene geht.

Die Ukraine ist spätestens seit 2014 ein westliches Projekt und das Scheitern dieses Projekts kennzeichnet auch das Scheitern des Westens an sich. Das hat so Mancher im Westen wohl erkannt, bei den Schlussfolgerungen daraus, ist man sich aber „nicht ganz einig“.

Insbesondere für die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten wird sich das Scheitern der Ukraine zum „Deep Impact“ entwickeln. Wir dürfen uns daher mittelfristig Konsequenzen für die Europäischen Union erwarten, die zumindest mit einer deutlichen Bedeutungsreduktion, bzw. -veränderung der EU einhergehen werden.

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