Viele Fragezeichen hinter Sanktionen gegen Russland

Viele Fragezeichen hinter Sanktionen gegen Russland

Von Beschränkungen der Dollarabwicklung für russische Banken bis hin zu persönlichen Sanktionen gegen Präsident Wladimir Putin: Westliche Politiker haben die russischen Behörden in den letzten Monaten regelmäßig vor immer härteren wirtschaftlichen Reaktionen auf eine militärische Eskalation gewarnt. Aufgrund des potenziellen Schadens für die Wirtschaft Europas, wenn nicht sogar der Welt, bezweifeln einige ausländische Experten jedoch, dass die Sanktionsdrohungen gegen Russland Realität werden. Andere verweisen auf die geringe Wirksamkeit der groß angelegten Sanktionen der Vergangenheit: So haben weder der Iran noch Venezuela unter dem Druck der Sanktionen ihren Kurs geändert. Westliche „Falken“ in Sachen Sanktionen dagegen fordern von ihren Politikern vorausschauende Abschreckungsmaßnahmen gegen Russland.

USA: Vorschläge von Sanktionsbefürwortern

Die USA schaffen es nicht, ihren wirtschaftlichen Vorteil gegenüber Russland vollständig in geopolitische Macht umzuwandeln, schreiben Edward Fishman, ein Sanktionsexperte im Außenministerium während der Regierung von Barack Obama, und Chris Miller, außerordentlicher Professor für internationale Geschichte an der Fletcher School der Tufts University, in einer Kolumne für Politico. Diesmal hätten sie es anders machen können. Die Sperrung von SWIFT und die Beschränkungen für Nord Stream 2 sind wiederum symbolische Sanktionen, die ihrer Ansicht nach der russischen Wirtschaft keinen nennenswerten Schaden zufügen können. Fishman und Miller selbst schlagen folgende Maßnahmen vor: Alle oder zumindest alle großen russischen Banken sollen auf die so genannte „schwarze Liste“ des US-Finanzministeriums gesetzt werden, was ihnen jegliche Transaktionen mit US-Gegenparteien, wenn nicht gar mit praktisch allen ausländischen Unternehmen und Einzelpersonen verbieten würde. Ein noch stärkerer Schlag gegen russische Exporte sei ebenfalls notwendig: ein Verbot von Öl, Gas, Kohle, Eisenerz und Stahl aus Russland. Damit die Auswirkungen auf die Weltmärkte und die Volkswirtschaften der Einfuhrländer nicht zu schwerwiegend sind, können derartige Sanktionen schrittweise eingeführt werden (zum Beispiel Festlegung von Quoten und deren Senkung im Laufe der Zeit), wobei das Datum eines vollständigen Verbots im Voraus angekündigt werden sollte, damit genügend Zeit zur Vorbereitung bleibt.

Russland hätte dann zwar Zeit, sich auf die Sanktionen einzustellen, räumen Fishman und Miller ein, aber die russische Wirtschaft hat es in den letzten Jahrzehnten versäumt, sich stärker zu diversifizieren, so dass die Auswirkungen der Sanktionen auf die Exporte nicht abnehmen würden. Die Sanktionen könnten sich auch gegen russische Importe richten: Zusätzlich zu den bereits vorgeschlagenen Verboten für Smartphones und Unterhaltungselektronik in Russland könnte der Verkauf von Autoteilen an russische Unternehmen eingeschränkt werden, um die Automobilindustrie zu schädigen. Ausländische Zulieferer wären davon nicht sonderlich betroffen – auf Russland entfallen zwei Prozent des weltweiten Automobilteilemarktes. Die meisten wirklich harten Sanktionen werden jedoch unweigerlich den westlichen Volkswirtschaften schaden, betonen Fishman und Miller, aber es ist wichtig, darauf vorbereitet zu sein, noch größere Verluste durch einen umfassenden militärischen Konflikt zu vermeiden.

Nicht nur Sanktionen, sondern auch „harte Diplomatie“

Selbst die ehrgeizigsten Wirtschaftssanktionen werden nicht ausreichen, um eine Eskalation durch Russland einzudämmen, meint argumentiert Walter Russell Mead, Professor für internationale Beziehungen und Kolumnist des Wall Street Journal. Die Regierung Biden sollte Maßnahmen ergreifen, die Friedensszenarien für die russische Führung deutlich attraktiver und weniger kostspielig (einschließlich der Reputationskosten) machen würden. Die US-Politiker überschätzen traditionell die Rolle von Wirtschaftssanktionen, zumal auch kleine Volkswirtschaften unter Druck ihre Außenpolitik nicht aufgegeben haben – zumindest Kuba oder Nordkorea.

Eine wesentlich härtere und in den Augen Russlands schmerzhaftere Reaktion wären neue formelle Abkommen zwischen den USA sowie Schweden und Finnland, in denen sich die nordischen Länder verpflichten würden, Lettland, Litauen und Estland zu schützen. Eine andere Möglichkeit wäre die Drohung, die enge militärische Zusammenarbeit der USA mit der Türkei wiederherzustellen. Dies sollte sich nicht auf Drohungen beschränken: Parallel dazu sollte ein stabiler und wirksamer diplomatischer Kommunikationskanal eingerichtet werden: Anstatt sich gegenseitig förmlich anzugreifen, wäre es besser, die Zukunft hinter verschlossenen Türen und mit erfahrenen Diplomaten zu besprechen.

Großbritannien: Eindämmung Russlands beginnt von innen

Das Vereinigte Königreich, das die Idee unterstützt, russische Banken vom SWIFT-System abzukoppeln, hat seinem Sanktionsmenü die Drohung hinzugefügt, „schmutziges Geld“ aus Russland zu verfolgen, aber die britische Opposition und Anti-Korruptions-Aktivisten bezweifeln, dass die Regierung den Worten Taten folgen lassen wird, schreibt der Guardian. Eine Erklärung über die mögliche Beschlagnahmung britischer Vermögenswerte russischer Unternehmen und Einzelpersonen, die „für den Kreml und das Regime in Russland von Interesse sind“, sendet die falsche Botschaft, so Roman Borisowitsch, ein politischer Aktivist und Autor von „Kleptokratie-Touren“ – Touren zu den Londoner Anwesen russischer Oligarchen – gegenüber dem Guardian. Da das Außenministerium die Verfolgung von „schmutzigem Geld“ an den Einmarsch Russlands in der Ukraine knüpft, lautet die Botschaft: „Wenn ihr euch benehmt, ist uns euer Geld nur willkommen, egal woher es kommt.

Im Jahr 2017 führten die britischen Behörden eine Verpflichtung für Personen mit politischen Verbindungen ein, beim Kauf teurer Immobilien im Land die Herkunft ihres Vermögens zu erklären. Seitdem meldeten sich nur vier Personen, darunter keine Russen, wie die unabhängige Denkfabrik Chatham House errechnete, und die Maßnahme wurde seit der Regierungsübernahme durch Boris Johnson noch nie angewendet.

Deutschland: Es geht nicht nur um Energie

Deutschland stützt sich im Gegensatz zu den USA und Großbritannien auf eine eher zurückhaltende Rhetorik in Bezug auf Sanktionen gegen Russland. Die Handlungen und Äußerungen deutscher Beamter in der Ukraine-Krise werden zumeist auf die hohe Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen zurückgeführt, doch jenseits der wirtschaftlichen Erklärung ist es wichtig, die spezifischen Werte der deutschen Gesellschaft zu betrachten, betont Marcel Dirsus, Gastwissenschaftler am Institut für Sicherheitspolitik der Universität Kiel. Seine Kolumne wurde von War on the Rocks veröffentlicht, einer Website, die das US-Militär und alle anderen, die mit der nationalen Sicherheit zu tun haben, als ihre Zielgruppe angibt. Umfragen zufolge glauben die Deutschen, dass ihr Land über Begriffe wie „nationales Interesse“ oder „Militarismus“ hinausgewachsen ist. Die deutsche Gesellschaft und folglich auch die Politiker scheinen in einer parallelen Realität zu leben, in der der internationale Handel stärker ist als militärisches Machtstreben und jeder Konflikt durch mehr Dialog und Multilateralismus gelöst werden kann, schreibt Dirsus.

Die Deutschen betrachten militärische Gewalt nicht nur als destruktiv, sondern auch als nutzlos und halten eine Annäherung für wichtiger als Druck. Diese Auffassung geht zum Teil auf die so genannte Ostpolitik Willy Brandts zurück, die davon ausging, dass friedliche Koexistenz und Entwicklung eher eine Annäherung an die DDR und andere Ostblockländer als eine Konfrontation erfordern. Ein weiterer historischer Faktor – der Zweite Weltkrieg und die Vorstellung einer moralischen Verpflichtung gegenüber Russland – könnte ebenfalls eine wichtige Rolle für die Haltung der deutschen Gesellschaft gegenüber Russland spielen. All dies macht eine harte Haltung gegenüber Russland alles andere als populär, schreibt Dirsus. Jüngsten Umfragen zufolge befürworten 47 Prozent der Deutschen schärfere antirussische Sanktionen, 41 Prozent lehnen sie jedoch ab. Die Politiker in Deutschland können diese öffentliche Meinung nicht ignorieren, betont Dirsus, und sie ist ein entscheidender Faktor für das Handeln des Landes auf der internationalen Bühne.

[hrsg/russland.NEWS]

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