Verliert Russland den Kampf gegen die Drogen?

Verliert Russland den Kampf gegen die Drogen?

[Von Anastasia Petrowa] Laut dem Bundesdienst für Drogenkontrolle konsumierten im Jahr 2016 (aktuellere Zahlen liegen noch nicht vor) etwa 18 Millionen Russen Drogen gelegentlich und 8 Millionen regelmäßig. In Russland wird damit ein Fünftel des weltweiten Heroinumsatzes erwirtschaftet. Mehr als 60% der Drogenabhängigen sind Jugendliche zwischen 16 und 30 Jahren. Jährlich sterben rund 70.000 Menschen durch Drogenkonsum[1]. Der Drogenmarkt in Russland boomt: im Darknet kann jeder, der eine Bankkarte besitzt, sofort jede Droge per Lieferung bestellen. Das Drogenangebot im Land ist so gewaltig, dass die Behörden nicht dagegen ankommen. Hinzu kommt, dass oft nur die Zusteller und Konsumenten erwischt werden – nicht die eigentlichen Dealer. Die Drogenpolitik weist viele Mängel auf, das Thema gilt allgemein als „schmutzig“ und unangenehm zu diskutieren – Schweigen schadet jedoch noch mehr. Dies spiegelt sich zum einen an der Zunahme von HIV-Neuerkrankungen wider, die zur Hälfte auf das Injizieren von Drogen zurückzuführen sind, zum anderen daran, dass es sich bei einem Viertel aller Verurteilungen um Drogendelikte handelt.

Strafen für Drogenvergehen

In Artikel 228 des russischen Strafgesetzbuches sind strafrechtliche Sanktionen für illegale Erwerbung, Lagerung, Transport, Herstellung und Verarbeitung von Drogen vorgesehen[2] – nicht jedoch für ihren Konsum, obwohl darüber verhandelt wird. Die Höhe der Strafe hängt von der Menge der Substanz ab: „erheblich“, „groß“ und „besonders groß“ werden unterschieden. Die Größe ist dabei substanzabhängig[3]: Beispielsweise wird für weniger als zwei Gramm Haschisch eine Verwaltungsstrafe fällig. Mehr als zwei Gramm sind eine „erhebliche“ Menge, wofür entweder ein Bußgeld von ca. 570 Euro, Strafarbeit für bis zu zwei Jahren, oder drei Jahre Freiheitsstrafe verhängt werden. Als „groß“ gelten mehr als 25 Gramm Haschisch, die eine Haftstrafe von 3 bis 10 Jahren sowie ein Bußgeld von bis zu ca. 7 100 Euro zur Folge haben und als „besonders groß“ gelten mehr als 10.000 Gramm; Verstöße dieser Schwere werden mit einer Haftstrafe von 10 bis 15 Jahren und einem Bußgeld von bis zu ca. 7 100 Euro geahndet. Für den Verkauf von Drogen fallen die Strafen schärfer aus: für kleine Mengen werden 4 bis 8 Jahre Freiheitsstrafe verhängt, 8 bis 15 Jahre für „erhebliche“ Mengen, 10 bis 20 Jahre für „große“ und 15 bis 20 Jahre für „besonders große“[4].

Eine besondere Strafe gilt für den Drogenkonsum: ohne Registrierung ist es nicht möglich, Hilfe vom staatlichen Gesundheitssystem zu erhalten, auch die russische Narkologie sieht ein Verbot der Substitutionstherapie (oder Drogenersatztherapie) vor. In der Strategie der Antidrogenpolitik der Russischen Föderation von 2010 bezieht sich dieses Verbot auf Maßnahmen zur Verbesserung der Wirksamkeit der narkologischen medizinischen Versorgung[5]. Methadon beispielsweise, die Hauptsubstanz der Substitutionstherapie, ist in der Liste der verbotenen Substanzen aufgeführt. Der gleiche Abschnitt der Strategie sieht ein Verbot der Legalisierung von Drogen für nichtmedizinische Zwecke vor, weshalb die Legalisierung oder Entkriminalisierung von weichen Drogen in Russland zum gegenwärtigen Zeitpunkt grundsätzlich unmöglich ist. Darüber hinaus betrachtet die Strategie die negative Einstellung der Gesellschaft zu nichtmedizinischem Drogenkonsum als einen Weg zur Bekämpfung der Drogensucht; Drogensüchtige sind in der russischen Gesellschaft bereits extrem stigmatisiert. Sie gelten nicht als Kranke, sondern als unmoralische Kriminelle, deshalb sollte das Verhalten ihnen gegenüber entsprechend ausfallen.

Behandlung von Drogenabhängigkeit

Die russische Drogenbekämpfungspolitik basiert auf UN-Konventionen und -Empfehlungen, die im letzten Jahrhundert entwickelt wurden. Sie alle stützten sich auf die Ideologie des Verbots, konnten jedoch ihre Ziele nicht erreichen und die Zahl der Drogenabhängigen nicht verringern. Heute hat sich die internationale Praxis geändert. Die WHO empfiehlt die Substitutionstherapie als eine der wirksamsten Behandlungen für Opiatabhängigkeit und HIV-Prävention[6]. Diese Methode wird in vielen Ländern angewendet – von den USA und Deutschland bis zum Iran und China. In Russland ist die Substitutionstherapie seit 1977 gänzlich verboten. Das Verbot von der Substitutionstherapie trägt zusammen mit der Diskriminierung injizierender Drogenkonsumenten und dem Mangel an qualifizierten Hilfs- und Schadensminderungsprogrammen zur Verbreitung von HIV, Hepatitis, Tuberkulose und anderen Krankheiten bei. Im Jahr 2018 wurden in Russland eine Million Menschen mit HIV diagnostiziert[7]. Die Epidemie unter Drogenabhängigen ist nahezu unkontrollierbar, in einigen Regionen sind bereits mehr als 50% von ihnen infiziert. Eine ähnliche Situation gab es in Spanien, doch nach Einführung der Substitutionstherapie sank die Zahl der Neuinfektionen von 80 % auf 5-6 %[8]. Trotzdem kommt der Einsatz einer Substitutionstherapie in Russland nicht in Frage. Dies zeigte sich beispielsweise nach dem Beitritt der Krim zu Russland: das Substitutionstherapie-Programm auf der Halbinsel wurde eingestellt (die Therapie ist in der Ukraine erlaubt). Rund 800 Personen hatten daran teilgenommen, die daraufhin gezwungen waren, das Programm mit der niedrigstmöglichen Dosierung zu verlassen. Infolge starker Entzugserscheinungen sahen sich viele von ihnen gezwungen, zum illegalen Konsum zurückzukehren, rund 20 Patienten sind bereits verstorben[9].

Neben dem Verbot der Substitutionstherapie gibt es in Russland weitere, sehr akute Probleme bei der Behandlung von Drogenabhängigkeit. Der größte Makel der russischen Narkologie ist insbesondere die Registrierung, die seit der Sowjetzeit existiert. Bei der Vorstellung in den staatlichen Drogenbehandlungszentren werden Hilfesuchende als Drogenkonsumenten registriert. Danach können sie für fünf Jahre keine normale Arbeit finden und bekommen keinen Reisepass ausgestellt. Der Stempel als Krimineller und ehemaliger Drogenabhängiger verhindert, dass Drogensüchtige wieder ins normale Leben zurückkehren können. Deshalb verbergen viele ihre Drogensucht aus Angst, z.B. ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Nur verzweifelte Süchtige mit schwerer Abhängigkeit oder jene, die von Verwandten gezwungen werden, wenden sich an solche Zentren.

Um die offizielle Registrierung zu vermeiden, wenden sich die meisten Drogenkonsumenten an private Rehabilitationszentren, wo es keine Standards für die Behandlung der Drogensucht gibt. Sehr oft wird in den Medien über Körperverletzung, Missbrauch und sogar Mord in solchen Zentren berichtet. In Russland sind ungefähr 200 offizielle Drogenbehandlungszentren registriert; die Anzahl der inoffiziellen, sowie ihre Gewinne, sind nicht bekannt. Es ist weit verbreitet, dass sich religiöse Sekten als derartige Zentren tarnen und Geld von den Angehörigen der Patienten erpressen. Aufgrund von Korruption und schattenhaften Registrierungssystemen von solchen Zentren ist es trotz der nachgewiesenen Rechtsverletzungen nahezu unmöglich, sie zu schließen. Seit 2018 entwickelt das Gesundheitsministerium neue Standards für die Arbeit von Drogenbehandlungszentren: der Aufenthalt im Zentrum sollte demnach nur mit Zustimmung des Drogensüchtigen möglich sein, welche im Vertrag festgehalten werden muss. Die Zentren sollten – ebenfalls mit Zustimmung der Patienten – über ein Videoüberwachungssystem verfügen, sowie über eine Vereinbarung mit medizinischen Ämtern, die auf Psychiatrie und Narkologie spezialisiert sind.

Schuld und Sühne

Der Kampf gegen den Drogenkonsum hat dazu geführt, dass auch Menschen mit anderen Krankheiten manchmal keine Möglichkeit haben, Schmerzmittel zu bekommen. Die Medien veröffentlichen regelmäßig Berichte über Selbstmorde von Krebspatienten, die keinen Zugang zu Schmerzmedikamenten haben. Die Hauptgründe für die Unzugänglichkeit dieser Medikamente in Russland sind einerseits hochkomplizierte bürokratische Prozesse, um medizinische Opiate kaufen zu können und, andererseits, der strafrechtliche Artikel 228.2, der hohe Strafen für Regelverstöße beim Verkauf von Opioid-Schmerzmitteln vorsieht[10]. So können Ärzte strafrechtlich verfolgt werden (Bußgeld von ca. 1 700 Euro, Strafarbeit und das Verbot, bis zu drei Jahren bestimmte Tätigkeiten auszuüben), wenn sie lediglich die Ampulle mit dem Medikament verlieren, sie zerbrechen oder im Todesfall des Patienten fälschlicherweise eine Rückerstattung ausstellen. Aus diesem Grund ziehen es viele vor, Opioid-Schmerzmitteln an leidende Patienten überhaupt nicht zu verschreiben. Die Wohltätigkeitsstiftung „Wera“ führte 2017 eine Umfrage durch, um die Ursachen dafür zu identifizieren. Ungefähr 40 % der Ärzte gaben an, dass das Risiko einer strafrechtlichen Verfolgung für sie das Haupthindernis darstelle[11]. Sie zögen es vor, viel Zeit und Energie dafür zu verwenden, einen Patienten von dem Konsum von Opiaten abzubringen, auch wenn weniger wirksame Medikamente ihm nicht helfen können.

Übermäßig große Bestrafung für Verkauf und Lagerung sowie eine harte Opposition gegen die Entkriminalisierung von weichen Drogen führen ebenfalls zu äußerst negativen Ergebnissen. Der 228. Artikel ist gilt bereits als „Volksartikel. Im Jahr 2018 wurden in Russland 658.300 Menschen verurteilt, fast ein Drittel von ihnen durch Drogendelikte. Jeder siebte Gefangene im Land ist aufgrund des 228. Artikels inhaftiert. Insgesamt wurden 88.400 Menschen im Jahr 2018 nach dem Artikel zu Gefängnisstrafen verurteilt, 19.000 von ihnen für den Verkauf von Drogen. Der Rest erhielt eine Freiheitsstrafe für den Kauf oder die Lagerung. Darüber hinaus sind mehr als 60 % der Verurteilten junge Menschen im Alter von 18 bis 35 Jahren[12]. Fast alle von ihnen sind Lieferanten. Studenten und Schüler werden von dem leicht zu verdienenden Geld angezogen. Werber nutzen ihre Unwissenheit aus und überzeugen sie, dass ihnen im schlimmsten Fall eine Verwaltungsstrafe drohe – was jedoch nicht der Wahrheit entspricht. Die meisten von ihnen werden Wiederholungstäter und kehren niemals zum normalen Leben zurück. Dies wird auch von Sicherheitsbeamten beobachtet, ohne, dass sie einschreiten.

Die russische Drogenpolitik verfolgt eine Nulltoleranz gegenüber Drogen, fördert die Diskriminierung von Drogenabhängigen und verletzt die Menschenrechte, indem sie den Zugang von Menschen zu lebenswichtigen Medikamenten einschränkt. Diese konservative Verbotspolitik hat ihre Sinn- und Zwecklosigkeit bewiesen. Länder, die den Weg der Entkriminalisierung von Drogen eingeschlagen haben und Drogensüchtigen eine medizinische und soziale Hilfe anbieten, konnten Fortschritte im Kampf gegen die Drogen und die Ausbreitung von HIV erzielen. Russland ist dafür jedoch noch nicht bereit. Aufgrund der seit dem letzten Jahrhundert betriebenen Politik der Stigmatisierung des Drogenkonsums sind nicht nur Politiker, sondern auch die Bevölkerung nicht bereit für notwendige, wenn auch radikale Veränderungen in diesem Bereich. Während Initiativen öffentlicher Organisationen und sogar des Gesundheitsministeriums auf Widerstand von Strafverfolgungsbehörden stoßen oder auch völlig ignoriert werden, verliert Russland den Krieg gegen die Drogen.

 

Quellen:

[1] https://stop-zavisimost.ru/blog/statistika-narkomanii-v-rossii.html

[2] http://www.consultant.ru/document/cons_doc_LAW_10699/a109722731a0509e104278d1b2d2f589beee330f/

[3] http://www.consultant.ru/cons/cgi/online.cgi?req=doc&base=LAW&n=331879&fld=134&dst=100031,0&rnd=0.3982970217953645#009408114822463398

[4] http://www.consultant.ru/document/cons_doc_LAW_10699/c6e15d3f1ba69acd08e0639594df466ecdf1958d/

[5] https://rg.ru/2010/06/15/strategiya-dok.html

[6] https://www.who.int/substance_abuse/publications/en/PositionPaper_flyer_Russian.pdf

[7] https://www.rbc.ru/society/03/07/2019/5d1b2c2e9a7947c21fdabbe4

[8] https://novayagazeta.ru/articles/2019/07/04/81121-nado-esche-300-tysyach-zarazhennyh-dobavit

[9] https://rylkov-fond.org/blog/narkopolitika/narkopolitika-nastoyaschee/smithforum/

[10] http://www.consultant.ru/document/cons_doc_LAW_10699/edd1927f800aa9a39d0d08a3b74740c679bb1761/

[11] https://lenta.ru/articles/2018/06/14/federmesser/

[12] https://darknark.lenta.ru/article/part3-broken-lives

[Anastasia Petrowa/russland.news]

 

Foto: Rebcenter-moscow, Creative Commons 4.0 über Wikimedia Commons, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Drug_addict.jpg, keine Änderungen

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