Ukraine – wer gewinnt?

Ukraine – wer gewinnt?

Iwan Timofejew, Programmdirektor des Valdai-Clubs, über die Folgen für globale und regionale Akteure:

Die Militäroperation in der Ukraine wirft die Frage nach einem ausgewogenen Verhältnis zwischen Verlusten und Gewinnen der wichtigsten Akteure sowie der globalen Akteure auf. Für Russland und die Ukraine muss ein solches Gleichgewicht erst noch gefunden werden. Die militärischen Aktionen dauern an, eine politische Einigung wurde nicht erzielt, so dass schwer abzuschätzen ist, inwieweit es jeder Seite gelingen wird, die politischen Ziele zu erreichen, für die bereits ein hoher Preis in Form von Menschenleben und kolossalen wirtschaftlichen Schäden gezahlt wurde. Die Konturen des Gleichgewichts für die globalen und regionalen Akteure – die EU, die USA, China, Japan, Iran und andere – sind klarer.

Die Europäische Union trägt die größten Verluste und Kosten. Sie sind mit dem Abbruch zahlreicher Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zu Russland verbunden. Die größte Herausforderung ist die Verdrängung von russischem Öl, Gas, Metallen und einer Reihe anderer Rohstoffe auf dem europäischen Markt. Dieser Prozess wird eine erhebliche Konzentration von Ressourcen und politischen Willen erfordern. Sie wird das Wirtschaftswachstum der EU und die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie in den nächsten Jahren beeinträchtigen. Die Verdrängung russischer Rohstoffe, die an sich schon schmerzhaft ist, ist jedoch eine machbare Aufgabe. Der Prozess kann bei Öl schneller und bei Gas langsamer verlaufen. Innerhalb der EU wird es länderspezifische Unterschiede geben, da die Abhängigkeit von russischen Rohstoffen nicht einheitlich ist. Das „Schleifen“ russischer Waren in die meisten Richtungen kann jedoch wahrscheinlich in ein paar Jahren erreicht werden.

Unabhängig davon, wie sich die Ukraine-Krise entwickelt und wie die Außenpolitik Russlands aussehen wird, wird die Verdrängung Russlands aus dem EU-Handel ein langfristiger Prozess sein.

Die EU trägt heute auch die Hauptlast bei der Bewältigung der ukrainischen Flüchtlinge. Angesichts der sich rasch verändernden Situation ist es immer noch schwierig, sie genau zu zählen, aber es ist bereits klar, dass ihre Zahl in die Millionen geht. Die EU-Länder stehen vor der Herausforderung, Migranten aufzunehmen, zu versorgen, anzupassen und möglicherweise zu integrieren. Die Sozialkosten in vielen EU-Ländern werden steigen. Aber auch hier ist die Europäische Union mittelfristig der Nutznießer. Die EU-Länder, insbesondere Deutschland, haben große Erfahrung im Umgang mit Migranten. Im Gegensatz zu früheren Migrationswellen aus islamischen Ländern stehen die ukrainischen Migranten den meisten, wenn nicht allen EU-Ländern kulturell nahe. Sie sind gebildeter. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie eine geschlossene Diaspora bilden, ist geringer und sie können sich schneller anpassen und integrieren. Die EU-Wirtschaft erhält eine kräftige demografische Spritze.

Die meisten EU-Länder werden ihre Verteidigungsausgaben extrem erhöhen. Dieses Wachstum wird nicht unbedingt proportional zur politischen Subjektivität der EU sein. Die EU bleibt ein Juniorpartner der NATO. Die politisch-militärische Rolle der einzelnen Mitgliedstaaten wird jedoch erheblich zunehmen. Auch hier verfügt Deutschland über ein hohes Potenzial zur Erhöhung der Verteidigungsausgaben, zur Modernisierung der Armee und zur Entwicklung der Rüstungsindustrie. Langfristig wird die hoch entwickelte Verteidigungsindustrie der EU davon profitieren. Man kann auch sagen, dass das europäische Projekt als solches davon profitiert. Russland ist heute ein mächtiger Konsolidierungsfaktor, der die innere Disziplin stärkt, die Identität nährt und die osteuropäische Flanke zusammenhält.

Auf den ersten Blick entstehen den USA weitaus weniger Kosten als der EU, obwohl der Verzicht auf russisches Öl zu lokalen Schwierigkeiten und höheren Kraftstoffpreisen führen könnte. Die Hauptprobleme für Washington liegen in anderen Bereichen. Eine stark eskalierte Konfrontation mit Russland zieht erneut Ressourcen aus der asiatisch-pazifischen Region ab. Die USA werden ihre militärische Präsenz in Europa ausbauen müssen, was bedeutet, dass die Konzentration der Ressourcen auf die Eindämmung der Volksrepublik China nun geringer ist. Die Aussicht, dass sich die Ukraine-Krise zu einem Krieg zwischen der NATO und Russland ausweiten könnte, wird auch in den USA mit Besorgnis betrachtet. Im Extremfall birgt sie auch die Gefahr einer nuklearen Eskalation. Washington wird gleichzeitig Moskau eindämmen müssen, muss aber aus Angst vor einer Eskalation hier und jetzt innerhalb bestimmter Grenzen handeln. Die Beherrschung der Konfliktintensität und die Verhinderung eines unkontrollierten Überkochens des Konflikts scheint die wichtigste Priorität zu sein.

An anderen Fronten ist es wahrscheinlicher, dass die Vereinigten Staaten gewinnen.

Die neue Qualität der Konfrontation mit Moskau ermöglicht es, die interne Disziplin der NATO deutlich zu verbessern und einen größeren Beitrag der europäischen Staaten zur gemeinsamen Sicherheit zu leisten.

Dies ist eine Aufgabe, die weder Donald Trump noch Barack Obama oder George W. Bush zuvor bewältigen konnten. Jetzt wird sie ohne größere Probleme in Angriff genommen. Außerdem ist eine weitere NATO-Erweiterung möglich. Die Mitgliedschaft des neutralen Schweden und Finnlands ist nicht vorbestimmt. Aber die Zahl der Befürworter eines solchen Schrittes ist in beiden Ländern erheblich gewachsen. Ein möglicher Beitritt Finnlands würde eine Machtprojektion auf den gesamten russischen Nordwesten bedeuten.

Die Notwendigkeit, Ressourcen nach Europa umzuleiten, könnte theoretisch auch von den USA zum eigenen Vorteil genutzt werden. Washington und seine Verbündeten haben einen Freibrief für einen beispiellos starken Angriff auf Russlands wirtschaftliches und technologisches Potenzial erhalten. Es besteht kein Zweifel daran, dass Russland für die USA und den Westen eine entscheidende militärische Herausforderung bleiben wird. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass die wirtschaftliche Grundlage des militärischen Potenzials untergraben wird und eine weitere Konzentration auf Asien droht.

Der US-Energiesektor profitiert davon. In naher Zukunft wird es einen bedeutenden Anteil am europäischen Markt gewinnen. Außerdem wird es den Amerikanern nun leichter fallen, Russland auch von den weltweiten Waffenmärkten zu verdrängen. China und Indien werden weiterhin wichtige Abnehmer bleiben. Aber der Wettbewerb um andere Märkte wird für Moskau wegen des größeren Widerstands der USA schwieriger sein.

Die Vereinigten Staaten haben eine Reihe von internen Problemen angehäuft. Der russische Faktor ermöglicht wiederum eine zumindest teilweise Konsolidierung von Kongress und Gesellschaft. Die Auswirkungen der Krise auf die Wahlen im Jahr 2024 sind jedoch noch sehr ungewiss.

China gewinnt derweil einen großen Handlungsspielraum. Im Gegensatz zur EU und zu den USA werden die laufenden Kosten für die VR China minimal sein. Der militärische und politische Druck aus Washington nimmt ab. Angesichts der massiven gegen Russland verhängten Sanktionen kann China einen erheblichen Teil des frei gewordenen russischen Marktes für sich beanspruchen. Russische Energieressourcen werden für China nun leichter verfügbar sein, und ihr Preis wird wahrscheinlich viel niedriger sein als zuvor. Es könnte jedoch infrastrukturelle Schwierigkeiten geben, sie auf den chinesischen Markt zu bringen. China entwickelt sich auch zu einem wichtigen Finanzpartner für Russland, eine Partnerschaft, die asymmetrisch zu Chinas Gunsten wäre. Peking stärkt die Stabilität an seinen nördlichen und nordöstlichen Grenzen weiter.

Die Partnerschaft Russlands mit China wird zu einer alternativlosen Angelegenheit.

Sie eröffnet China neue Möglichkeiten, seinen Einfluss in Zentralasien geltend zu machen. Unter Berücksichtigung der Erfahrungen mit den Sanktionen gegen Russland wird China daran arbeiten, seine eigene wirtschaftliche Sicherheit zu verbessern, falls es zu ähnlichen Komplikationen mit dem Westen kommt. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass diese Entwicklungen zum Entstehen eines vollwertigen militärisch-politischen Bündnisses zwischen China und Russland führen werden. Allem Anschein nach wird China auf Distanz bleiben und die Hände frei haben.

Für Japan ist die Bilanz der Gewinne und Verluste auf kurze Sicht eher negativ. Die Aussicht auf einen Friedensvertrag mit Russland wird immer unwahrscheinlicher. Schon vor der neuen Phase der Konfrontation war klar, dass die Verhandlungen ins Stocken geraten waren. Es gab nicht einmal den Hauch eines Fortschritts, aber die sehr theoretische Möglichkeit eines solchen Fortschritts blieb bestehen. Nach 2014 verfolgte Tokio eine ausgewogene und pragmatische Politik, indem es symbolische Sanktionen verhängte, aber den russischen Markt und konstruktive Beziehungen zur russischen Führung aufrechterhielt. Nach dem 24. Februar 2022 wich dieses Konzept der Solidarität mit den Aktionen der USA und der EU. Japan wird durch den Wegfall des russischen Marktes und die Substitution russischer Rohstoffe einige Verluste erleiden. Aber sie sind für Tokio nicht entscheidend. Vor allem aber werden die sich verschlechternden Beziehungen zu Russland, wie auch zu Deutschland, ein wesentlicher Anreiz für eine endgültige Überarbeitung des Nachkriegsparadigmas für den Einsatz von Streitkräften sein. Japan wird den Weg zur Wiedererlangung des Status einer vollwertigen politisch-militärischen Macht selbstbewusster beschreiten. Die Lösung des Problems der „Nördlichen Territorien“ wird zunehmend auch militärisch angegangen werden.

Indien ist von der derzeitigen Krise nur minimal betroffen. Delhi hält den Dialog mit Moskau aufrecht und wird sich Versuchen von Drittländern widersetzen, die militärische und technische Zusammenarbeit zu beeinflussen. Allerdings könnte die Position der Lobbyisten westlicher Waffenhersteller im Lande gestärkt werden. Das Erstarken Chinas vor dem Hintergrund der Krise ist ein Problem für Indien. Es ist jedoch schwierig, die Veränderungen als grundlegend zu bezeichnen.

Zu den Nutznießern der neuen Phase der Ukraine-Krise werden auch einige Länder gehören, die derzeit unter schweren US-Sanktionen stehen. Dazu gehören vor allem Venezuela und der Iran. Washington könnte durchaus bereit sein, den Sanktionsdruck zumindest teilweise zu verringern, um die Verluste durch das Verbot russischer Öleinfuhren auf dem Markt auszugleichen. Im Falle Venezuelas ist eine Lockerung der Sanktionen politisch einfacher als im Falle des Irans. Letzten Endes handelt es sich um eine reine Frage der internen Organisation des Landes, bei der die USA vorübergehend ein Auge zudrücken können. Venezolanisches Schweröl könnte auf dem US-Markt durchaus russisches Öl ersetzen. Die Regierung von Nicolas Maduro bekäme dann eine Atempause und frischen Wind in Form von Deviseneinnahmen.

Im Falle des Irans ist die Situation noch komplizierter, denn es geht um ein militärisches Atomprogramm und eine neue Version des Gemeinsamen Umfassenden Aktionsplans (JCPOA), d. h. eines multilateralen Prozesses, an dem auch Russland beteiligt ist. Technisch gesehen könnten die USA jedoch iranisches Öl auch ohne das neue JCPOA auf den Weltmarkt lassen. Alternativ hat die Regierung Joe Biden die Möglichkeit, die von Donald Trump abgeschafften Ausnahmeregelungen für eine Reihe europäischer und asiatischer Länder zum Kauf iranischen Öls wiederherzustellen. Das Problem für die USA wird sein, dass auch der Iran eine Atempause bekommt und seine Verhandlungsposition stärken wird. Dies wird in Zukunft Druck auf die Republikaner ausüben, die gegen Geschäfte mit Teheran sind. Angesichts der russischen Opposition könnten diese Differenzen jedoch in den Hintergrund treten. In jedem Fall hat der Iran die Möglichkeit, die Situation zu seinem Vorteil zu nutzen. Diese Entwicklung verhindert die Bildung einer Koalition von Ländern, gegen die Sanktionen verhängt wurden, zu der theoretisch auch China, Russland, Iran und Venezuela gehören könnten. China wird mit allen drei Ländern zusammenarbeiten, aber nicht auf Kosten der Beziehungen zum Westen.

Unter dem Strich wird die neue Phase der Ukraine-Krise globale Auswirkungen haben. Für einige wird sie kurz- und mittelfristig Kosten verursachen, und zwar ganz erhebliche. Für viele wird sie jedoch mit der Möglichkeit verbunden sein, ihren Einfluss langfristig zu stärken.

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