Teilmobilmachung: Reaktionen aus Russland

Teilmobilmachung: Reaktionen aus Russland

In Russland wurde per Präsidialdekret eine Teilmobilmachung ab dem 21. September angekündigt. Nach Angaben von Verteidigungsminister Sergej Schoigu werden insgesamt 300.000 Reservisten einberufen, was etwas mehr als ein Prozent der gesamten russischen Teilmobilmachungsressourcen ausmacht.

Es ist jedoch schier unmöglich zu verstehen, was „Teilmobilmachung“ bedeutet. In dem präsidialen Dekret werden weder die Kategorien der zu mobilisierenden Bürger, noch das Alter oder die Gebiete, in denen die Teilmobilmachung stattfinden soll, festgelegt. „Das Dekret ist so weit gefasst wie möglich. Wenn wir dem Wortlaut des Dekrets folgen, kann jeder Bürger Russlands, unabhängig von Geschlecht und Alter und aus jeder Region, der das föderale Teilmobilmachungsgesetz erfüllt, mobilisiert werden“, betont die Politologin Jekaterina Schulmann. Sie erinnert daran, dass die letzte Mobilmachung in der Sowjetunion im Jahr 1941 stattfand. Während des Afghanistankrieges wurde keine Mobilmachung erklärt.

Gleichzeitig wurde in Russland kein Kriegsrecht verhängt. Die Meinung, dass das Kriegsrecht die Grundlage für die Ausrufung der Mobilmachung ist, ist jedoch ein Trugschluss. „Es kann sowohl Kriegsrecht ohne Teilmobilmachung als auch Teilmobilmachung ohne Kriegsrecht geben, oder beides“, erklärt Schulmann. Der Politologe Kirill Rogow bezeichnete die Teilmobilmachung als Ausdruck von „Wahnsinn und Verzweiflung“.

Viele russische Telegramkanäle berichteten über einen Ansturm auf Flughäfen und Grenzübergänge, nachdem die Teilmobilmachung in Russland angekündigt worden war. Putins Sprecher Dmitri Peskow bezeichnete diese Informationen als „stark übertrieben“. „Es werden viele falsche Informationen darüber verbreitet“, sagte Peskow am Donnerstag vor Reportern. Russische soziale Netzwerke sind jedoch voll mit Fotos der gigantischen Warteschlangen, die sich nach der Ankündigung einer Teilmobilmachung an den russischen Flughäfen gebildet haben.

Der Ticketverkauf der Fluggesellschaften brach zusammen, als die Russen begannen, in Scharen Tickets für Flüge ins Ausland zu kaufen, schreibt die Website Mirowoje Obosrenije. Für Direktflüge von Moskau nach Istanbul, Eriwan, Baku und in andere Nachbarländer, für die keine Visumspflicht besteht, gibt es nach Angaben von Fluggesellschaften und Ticket-Aggregator-Websites keine Tickets mehr. Auf Aviasales kostet ein Direktflug von Moskau nach Istanbul am 24. September umgerechnet 5.300 Euro. Am 23. September kostete er noch 1.225 Euro.

Ähnlich ist die Situation bei Direktflügen von Moskau nach Eriwan. Auf Aviasales kann man ein Ticket für etwas mehr als 1.000 Euro kaufen. Auf der Website von Aeroflot sind die ersten Tickets nach Eriwan nur am 26. September für Euro 1.740 erhältlich. Auf der Aeroflot-Website heißt es, dass einberufene Russen ihr Geld für Tickets zurückbekommen, die sie vor dem 21. September gekauft haben. Gleichzeitig werden die Fahrkarten an den Bahnhöfen ohne Einschränkungen verkauft.

In den sozialen Medien Russlands wird derweil heftig darüber diskutiert, wie man sich der Teilmobilmachung entziehen kann. „Russen, informiert Euch über die rechtlichen Feinheiten. Man sagt, dass wenn man keine Vorladung aushändigt bekommt, gibt es nur eine Geldstrafe. Aber wenn man eine Vorladung bekommt, ist es vorbei“, schreibt der Nutzer mit dem Nickname Irisovy Sad in den Kommentaren eines YouTube-Kanals.

Mit Hilfe des Tools Social Media Listening analysierte die Anthropologin Alexandra Archipowa 170.000 Beiträge in verschiedenen russischen sozialen Netzwerken zum Thema Teilmobilmachung. Das russische soziale Netzwerk VKontakte hatte die meisten negativen Kommentare (mehr als 15.000), gefolgt von Twitter (mehr als 8.000), Odnoklassniki (mehr als 6.000) und Facebook (etwa 5.000). Gleichzeitig äußern sich 40 Prozent der Twitter- und Facebook-Nutzer negativ über die Teilmobilmachung. „Geografisch gesehen sind neben Moskau und St. Petersburg Nowgorod, Altai und Karatschai-Tscherkessien am aktivsten, wenn es darum geht, nicht in den Krieg zu ziehen“, schreibt die Anthropologin auf ihrem Telegram.

In Dutzenden russischen Städten hat es zahlreiche Proteste gegen die Teilmobilmachung gegeben. Demonstranten in Moskau riefen „Putin in die Schützengräben!“ Auf mehreren Moskauer Polizeistationen erhielten die bei den Anti-Teilmobilmachungs-Kundgebungen festgenommenen Personen Vorladungen zu den Einberufungsstellen der Streitkräfte. Dmitri Peskow erklärte am Donnerstag gegenüber Reportern, dass die Ausstellung von Vorladungen an Personen, die bei Kundgebungen festgenommen wurden, nicht im Widerspruch zum Gesetz stehe. „Das widerspricht nicht dem Gesetz. Es liegt also keine Rechtsverletzung vor“, sagte Peskow auf die Frage von Journalisten, ob die Praxis der Vorladung von Gefangenen bei Antikriegsdemonstrationen gerechtfertigt sei.

Die Proteste gegen die Teilmobilmachung gelten dabei als Verunglimpfung der Streitkräfte. Dies zeigt sich beispielsweise an den Protokollen von Ordnungswidrigkeiten, die gegen Demonstranten in den Städten Tomsk und Kasan erstellt wurden. Und die Moskauer Staatsanwaltschaft hat potenziellen Demonstranten mit bis zu 15 Jahren Gefängnis für „unkoordinierte öffentliche Proteste“ gedroht. Dies geht aus dem Telegramkanals des Menschenrechtlers und Rechtsanwalt Pawel Chikow hervor. Er schreibt auch, dass bis zum 22. September bereits mehr als 10.000 Beschwerden bei der Hotline eingegangen sind.

Der russische Generalstab teilte mit, dass in den ersten vierundzwanzig Stunden nach Einführung der Teilmobilmachung der Wehrpflichtigen mehr als 10.000 Wehrpflichtige von sich aus bei den Einberufungsstellen erschienen sind. Ausgehend von der Zahl 300.000 machen die Freiwilligen also weniger als 2,5 Prozent derjenigen aus, die in die Ukraine entsandt werden sollen.

[hrsg/russland.NEWS]

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