Teilmobilmachung in Russland: Fisch für jeden Reservisten© russland.news

Teilmobilmachung in Russland: Fisch für jeden Reservisten

Die in Russland am 21. September angekündigte Teilmobilmachung hat in der russischen Gesellschaft eine regelrechte Panik ausgelöst. Hunderttausende junger Russen versuchen, sich dem zu entziehen, indem sie aus dem Land fliehen. Die Zahl der Brandstiftungen in militärischen Rekrutierungszentren, der Selbstmorde oder Todesfälle von Mobilisierten sowie die Zahl der Strafverfahren wegen Wehrdienstverweigerung steigen. Bis zum 3. Oktober starben mindestens sechs Menschen bei der Polizei oder in Einberufungsstellen.

Obwohl Verteidigungsminister Sergej Schoigu erklärte, dass „etwa 300.000 Reservisten“ mobilisiert werden sollen, wird diese Zahl von vielen in Frage gestellt. Später teilte Schoigu mit, dass bisher über 200.000 Menschen im Rahmen der Teilmobilmachung in Russland einberufen wurden.

Gleichzeitig hat die Hauptabteilung für Mobilmachung und Organisation des Generalstabs der russischen Streitkräfte dementiert, dass seit der Ankündigung der Mobilmachung Quoten für aus der Reserve eingezogenen Bürger festgelegt wurden. So gaben beispielsweise lokale Beamte in der Region Swerdlowsk an, dass die Mobilmachung von 9.700 Personen geplant sei.  In Tatarstan ging der Mobilisierungsplan von 10.000 Personen aus. Eine Woche später senkte das Verteidigungsministerium das Ziel auf 3.000 Personen. So entsteht der Eindruck, dass die Mobilisierungspläne nach unten korrigiert wurden.

In der Zwischenzeit werden die Fragen zur Mobilmachung immer umfangreicher: Wie, von wem und wo kann eine Einberufung erfolgen? Können Reservisten in eine militärische Aktion geschickt werden?  Was geschieht mit denjenigen, die sich den Vorladungen entziehen? Was ist zu tun, wenn man eine Vorladung in seinem Briefkasten findet? Was tun, wenn man trotz eines Aufschubs mobilisiert wurde?

All diese Fragen werden von dem Rechtsanwalt und Menschenrechtsverteidiger Pawel Tschikow auf seinem Telegram beantwortet. Wie er selbst schreibt, ist die Zahl seiner Abonnenten um 300.000 gestiegen. 120.000 Menschen haben über den zu diesem Zweck eingerichteten Bot Hilfe erhalten, und die 15 Anwälte der Hotline haben allein in einer Woche 5.000 Menschen beraten. Insgesamt zählte der Kanal in dieser Woche 37 Millionen Aufrufe.

Nach den zahlreichen Medienberichten und Meldungen in russischen sozialen Netzwerken zu urteilen, werden die Vorladungen wahllos verteilt. Laut Forbes haben die Mitarbeiter des Moskauer Bürgerbüros beispielsweise den Befehl erhalten, alle Männer zwischen 20 und 34 Jahren vorzuladen, die einen Pass beantragen wollen.

Tschikows Kanal bekommt Meldungen über Vorfällt bei der Mobilmachung von Lesern:

„Region Swerdlowsk. Mein Bruder ist 38 Jahre alt und. HIV-positiv. Der Militärkommissar sagte in einem Telefongespräch nur: „Was kümmert es dich, wo du verreckst?“

„Moskau. Sie nehmen mir meinen Freund weg. Er ist 30 Jahre alt und HIV-positiv. Er brachte Bescheinigungen mit, aber das war dem Einstellungsbüro egal.“

„Region Rostow. Mein Bruder hat Krebs, sie haben ihm seinen Militärausweis weggenommen und wollen ihn nicht zurückgeben. HIV-positive Menschen werden trotz ihrer Diagnose zur Armee gebracht“.

Sogar tote Reservisten bekommen Einberufungsbefehle. So suchte in St. Petersburg die Polizei eine Frau auf und überreichte ihrem vor neun Jahren verstorbenen Onkel eine Vorladung an das Melde- und Einberufungsamt der Armee. In Burjatien wurde versucht, einen Mann zu rekrutieren, der zwei Jahre zuvor gestorben war.

Die erste Welle der Mobilmachung geht inzwischen allmählich zu Ende. So kündigte der Leiter der Region Transbaikalien am 30. September das Ende der Mobilisierung an. Auch die Behörden von 11 weiteren Regionen Russlands kündigten das Ende der Mobilmachung an.

Inzwischen hat Präsident Putin ein Dekret über die Herbsteinberufung zur Armee unterzeichnet. Sie wird erst am 1. November beginnen. Das russische Verteidigungsministerium beabsichtigt, 120.000 Wehrpflichtige einzuberufen. Viele befürchten, dass die „Teilmobilisierung“ auf diese Weise weitergehen wird.

Immerhin gibt es jetzt auf der staatlichen Service-Website Gosuslugi ein Formular zur Einreichung von Beschwerden über die Entscheidungen der Wehrämter im Rahmen der Teilmobilmachung. Sowohl ein irrtümlich eingezogener Bürger als auch „jede andere Person“ kann sich über Verstöße beschweren.

Die Zahl der Strafverfahren wegen Wehrdienstverweigerung hat seit Anfang 2022 einen Zehnjahreshöchststand erreicht hat. „Zwischen dem 1. Mai und dem 20. September dieses Jahres gingen bei den russischen Gerichten 410 Strafverfahren nach dem Artikel über die Verweigerung des Dienstes in den Streitkräften ein“, schreibt Tschikow. Das ist mehr als im gleichen Zeitraum eines jeden anderen Jahres seit 2013. „Wir müssen klarstellen, dass dieser Artikel nur für diejenigen gilt, die sich der Einberufung zum Militärdienst entziehen. Um eine Strafsache im Mai-September vor Gericht zu bringen, muss sie mindestens zwei Monate im Voraus eingeleitet und untersucht werden. Alle diese Strafverfahren betreffen Wehrdienstverweigerer aus den Vorjahren, da die Frühjahrseinberufung erst am 15. Juli 2022 endete“, erklärt der Anwalt. Dieser Aufschwung hat also nichts mit Mobilisierung zu tun. Man kann davon ausgehen, so Tschikow, dass die Ermittler nach dem Beginn der Militäroperationen in der Ukraine die Anweisung erhielten, die vorhandenen Strafverfahren gegen Wehrdienstverweigerer aus den Vorjahren dringend abzuschließen und den Gerichten zu übermitteln.

Nach Angaben der Internetzeitung Insider werden in Moskau Reservisten mit Hilfe von Kameras mit Gesichtserkennungssystem gesucht. Allein am vergangenen Wochenende wurden auf diese Weise 12 Personen identifiziert, die sich der Mobilmachung entzogen hatten. In den meisten Fällen handelte es sich über Kameras in den Eingängen von Wohnhäusern. Die Polizei überprüfte Wohnungen, befragte Verwandte und brachte einige der Männer, die sich der Mobilmachung entzogen hatten, in die Büros des Innenministeriums und des Einberufungsamtes.

Wie man so schön sagt: Tragik und Komik gehen immer Hand in Hand. So ist die Geschichte über das Oberhaupt von Tuwa, das angewiesen hatte, den Familien für jeden mobilisierten Tuwaner ein lebendes Lamm und Kohle oder Feuerholz zu geben, auf große Resonanz gestoßen. Insgesamt sind bereits 91 Lämmer verteilt worden, hieß es. Darüber hinaus erhalten die Familien von Einberufenen 50 Kilogramm Mehl und zwei Säcke Kartoffeln. Laut Insider erhielten Familien von mobilisierten Russen auf Sachalin 5 Kilogramm Fisch. Die Regierung der Region Sachalin habe dies mit den Fischzüchtern vereinbart. Für die Region wurden insgesamt etwa 9 Tonnen frisch gefrorener Fisch zugeteilt: Scholle, Seelachs und Keta-Lachs. Wenn jede Familie 5 bis 6 Kilogramm erhält, ergibt dies etwa 1.800 Mobilisierungen in der Region.

[hrsg/russland.NEWS]

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