Tarussa – Straßenkampf in russischer KleinstadtYandex führt bereits die neuen Straßennamen

Tarussa – Straßenkampf in russischer Kleinstadt

[von Gunnar Jütte] Kaum waren die Regionalwahlen am 13. September in Russland vorbei, hat sich der neue Rat der Stadt Tarussa mit Ruslan Smolenskiy an der Spitze entschieden, handstreichartig die Straßen in Tarussa umzubenennen.

Laut Dokumenten sollen die Straßen in Tarussa wieder ihre alten historischen Namen wiederbekommen. Nach der Veröffentlichung der Umbenennungsliste am 22.10. brach ein Empörungssturm unter den Tarussianern aus. Da viele Moskauer ebenfalls ihre Datschen in Tarussa haben, haben die sich auch gleich an der Debatte beteiligt. Schnell trennte sich die Spreu vom Weizen. Die Mehrheit der Anwohner scheint gegen eine Umbenennung zu sein, alle nur sekundär Beteiligten sind begeistert, dass die Namen der „Henker“ und „Mörder“ endlich getilgt werden. Im Rausch der Entkommunisierung soll alles von Karl Marx über Rosa Luxemburg, Lenin und unbekannteren Revolutionären wie Wolodarski ausgelöscht werden.

Unter dem Mantel der historischen Rückführung der Straßennamen musste mehrfach von der Stadtregierung betont werden, dass dies nichts mit „Antikommunistismus“ zu tun habe.
Dabei übersah man, dass auch Straßennamen auf der Liste stehen, die es historisch noch gar nicht gab, also eine „Rückführung“ nicht möglich ist. Da der Stadtobere Ruslan Smolenskiy begeisterter Arktisfan ist, wurde beispielsweise die Wolodarskogo, benannt nach einem Revolutionär, der bereits im Juni 1918 ermordet wurde, kurzerhand in Pronchischtchev umbenannt, einem Arktisforscher aus dem 18ten Jahrhundert ohne irgendeinen historischen Bezug.

Tarussa hat es bereits in die überregionalen Medien und Fernsehkanäle geschafft. Besonders heroisch äußerte sich der Stadtobere Ruslan Smolenskiy der Zeitung Podyom gegenüber, dass es keine Pläne gibt, die Umbenennung abzubrechen. Nach seinem Statement könnte man meinen, in Tarussa sei bereits der bewaffnete Straßenkampf ausgebrochen.

„Wir werden es bis zum Ende durchstehen, während wir unter enormem Druck von außen stehen. Sie fordern den Rücktritt aller Selbstverwaltungsorgane der Stadt und Region, sie drohen mit körperlicher Gewalt und Verfolgung aus ganz Russland, sammeln die noch existierenden Terroristen und setzen sie auf uns an. Heute versammelten sich die sechs Abgeordneten, die dafür gestimmt hatten, und sagten, sie würden den ganzen Weg wie 300 Spartaner gehen. Wir erkennen, dass wir uns in einem der Zentren der Bedeutungsbildung der russischen Welt befinden.
Wir waren die ersten, die einen Anruf von der Union of Donbass Volunteers erhielten. Wenn wir dem Druck erliegen, wird dies ihrer Meinung nach ein Schlag für alle sein, die in Syrien und im Donbass kämpfen – für alle, die die nationalen Interessen Russlands verteidigen. Dies kann nicht erlaubt werden. Die Entscheidung wird umgesetzt. Dann können Sie uns abwählen. Wir sind hier so stur. „

Ruslan Smolenskiy bemerkte, dass Tarussa bereits mit dem Austausch von Straßenschildern begonnen hat.

Deutlich vernünftiger äußerte sich der Gouverneur des Kaluga-Gebietes, Wladislaw Schapscha, in dem die Kleinstadt Tarussa liegt, auf der Tarussa-Facebookseite.

„Freunde, heutzutage gibt es eine aktive Diskussion über die Initiative der lokalen Behörden der Stadt Tarussa im Kalugagebiet zur Rückkehr der Straßen zu deren historischen Namen. Es gibt Argumente sowohl dafür als auch dagegen, und viele Emotionen.

Ich weiß sicher, dass die Umbenennung der Straßen eine heikle Frage ist. Einerseits kann es Impulse geben, die Umwelt und sogar den Lebensstil der Menschen zu verändern. Andererseits kann man sich bei solchen Themen nicht nur auf die Geschichte verlassen, wir leben in einer sehr dynamischen Zeit. Behörden verbieten nicht, die Stadt zu entwickeln. Aber wer Veränderungen will, muss immer damit anfangen, die Meinungen der Menschen herauszufinden: Welche Zweifel und Anregungen gibt es, sind der gesamte Prozess und die Ziele ausreichend erklärt worden, um genehmigt oder abgelehnt werden zu können? Dies bietet eine umfassende Lösung an. Es geht nicht um die Namen, sondern um das, was die Leute erwarten. Dies – ein respektvoller Dialog mit der Bevölkerung – wird zusätzliche Energie für positive Veränderungen schaffen.“

Mit dem Dialog hat es nun leider nicht so geklappt, im Gegenteil. In den sozialen Medien ist ein Hauen und Stechen ausgebrochen, welches man mit dem unversöhnlichen Aufeinandertreffen bei den Corona-Diskussionen in Deutschland vergleichen kann. Die Risse gehen bereits durch Freundschaften und Kollegen.

Es zeigt sich, wie weit auch die Bevölkerung in Russland immer noch von demokratischen Spielregeln entfernt ist. Dass Regierung und Administration über die Köpfe der Bevölkerung entscheiden, ist man ja irgendwie gewohnt, aber dass Intellektuelle, die sich als Demokraten bezeichnen, die mutig in Tarussa auch gegen Wahlfälschung demonstriert haben und auch stets bereit sind, bei Ungerechtigkeiten gegen Oppositionelle und Journalisten dieses klar und offen zu äußern, ausgerechnet jetzt ihre demokratischen Ideale fallen lassen, ist erschreckend.

Dass man bei einer Straßenumbenennung eine Bürgerbeteiligung heranziehen könnte, dass man eine öffentliche Diskussion führen könnte, lehnen nun gerade diese „Demokraten“ ab. Es könnte ja sein, dass die Anwohner gegen die Interessen der „Demokraten“ abstimmen. Die „Demokraten“ wollen auch deshalb keine Diskussion, weil die zu lange dauern würde. Man möchte jetzt, auch wenn es undemokratisch ist, Nägel mit Köpfen machen. Wie schrieb einer der Demokraten doch in Facebook: „Das Ziel hier ist keine Demokratie, sondern eine Distanzierung von Mördern.“
Im Kampf ums Löschen der sowjetischen Vergangenheit ist jedes Mittel recht, sei es noch so undemokratisch.

Demokratie bekommt man nicht, indem man Denkmäler abreißt und Straßenschilder austauscht. Demokratie entsteht im Kopf.

[Gunnar Jütte/russland.NEWS]

 

 

COMMENTS