„Sprungfeder des Protests“© russland.NEWS

„Sprungfeder des Protests“


Ekaterina Schulmann ist die bekannteste Politologin Russlands. Sie ist Mitglied des Menschenrechtsrates beim russischen Präsidenten, schreibt regelmäßig für unabhängige Medien. Ihr YouTube-Kanal hat mehr als 100.000 Abonnenten. Im Gespräch mit russland.NEWS äußert sich Ekatarina Schulmann zur aktuellen Protestbewegung in Russland.

Ekaterina, im heutigen Gespräch möchte ich die Rolle der „Fürsprecherin des Teufels“ übernehmen.

Ekaterina Schulmann: Von mir aus.

Die Opposition in Moskau ist nicht bereit, dort zu demonstrieren, wo das Rathaus anbietet. Warum eigentlich, denn es handelt sich um reine Geographie. Oder geht es den Oppositionellen mehr um die Lust zu „brüllen“, einen Skandal zu veranstalten, als wirkliche Forderungen zu erfüllen?

Ekaterina Schulmann:
Ich berate die Organisatoren der Proteste nicht, daher kenne ich nicht ihre Motivation. Und als Politikwissenschaftler kann ich sagen: Die Bedeutung von Massenaktionen liegt in ihrer Sichtbarkeit. Es gibt zwei Arten der Sichtbarkeit. Meine Kollegin, die Anthropologin Alexandra Archipowa, nennt es Demonstration Eins und Demonstration Zwei. Die Demo Eins ist das Ereignis selbst, und die Demo Zwei ist ihr Spiegelbild in den Medien und in den sozialen Netzwerken. Oft wird die Demonstration Zwei zur Hauptsache. Es ist sinnlos, den Organisatoren der Proteste vorzuwerfen, für sie sei es nur wichtig, Eindruck zu machen. Denn jede Massenkundgebung zieht darauf ab, Aufmerksamkeit zu erregen. Eine Gruppe von Menschen sagt: Wir existieren, es gibt viele von uns, wir vertreten eine Meinung und wir möchten unsere Meinung äußern. Außerdem ist das Element des Symbolischen in der Politik nicht zu unterschätzen, und jeder städtische Ort ist mit bestimmten Assoziationen verbunden. Zum Beispiel ist der Bolotnaja-Platz mit den Unruhen vom 6. Mai verbunden, der Sacharow-Prospekt mit koordinierten Kundgebungen usw. Deshalb haben Menschen, die Massenveranstaltungen organisieren wollen, Recht, wenn sie sich in erster Linie um den Eindruck sorgen, den sie hinterlassen. Eine Kundgebung, eine Prozession oder Streikposten sind symbolische Aktionen, und ihr Publikum sind nicht nur die direkten Teilnehmer, sondern auch diejenigen, die davon erfahren.

Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass Moskau in den letzten Jahren zu einer Stadt geworden ist, in der es sich gut leben lässt. Die Hauptstadt ist wirklich schöner geworden. Warum werden diejenigen, die dies anerkennen, beinahe als Feinde der Demokratie und Anhänger des „Putin-Regimes“ gesehen?

Ekaterina Schulmann:
Hier gibt es zwei Denkfallen. Erstens werden die Prozesse, die eine natürliche Folge der sozioökonomischen Entwicklung sind, den Verdiensten der Behörden zugeschrieben. Es wird angenommen, dass es ohne diesen oder jenen Oberbürgermeister keine Straßen, keine Häuser, keine Heizung im Winter und kein Wasser im Sommer gäbe. Und es ärgert die Menschen, weil es eine offensichtliche Unwahrheit ist. Ja, Moskau ist heute besser als vor fünf Jahren, aber wenn es nicht die heutige Macht gewesen wäre, wäre es vielleicht noch besser gewesen. Wenn die Ressourcen rationeller eingesetzt würden, würde das Geld dafür ausgegeben, was die Menschen wirklich brauchen. Hinterhalt Nummer zwei ist, dass die „Verschönerung“ von Moskau eine typische „Verschönerung“ einer Stadt der Zweiten Welt ist. Uns fehlen die sogenannten Public Goods. In der Stadt der Zweiten Welt können Sie schöne und saubere Straßen bauen, rund um die Uhr eine Dienstleistung bestellen, aber Sie werden keine Sicherheit, keine saubere Luft und kein sauberes Trinkwasser haben. Und, Public Goods werden durch Demokratie gewährleistet. Um saubere Luft zu haben, ist es notwendig, die Gier der Bauunternehmer zu begrenzen, die Bäume fällen, sowie großen Herstellern und Eigentümern von Raffinerien ökologische Standards aufzuerlegen und für Ihre Nichteinhaltung zu bestrafen. Und dafür brauchen wir öffentliche Kontrolle. Dieser Widerspruch zwischen funkelnden Schaufenstern und Sauerstoffmangel in der Luft macht die Menschen wütend. Und die Behörden sagen: Ihr schätzt nicht, was wir euch gegeben haben. Dies ist der Diskurs eines paternalistischen Bewusstseins, wobei die Macht als Vater und die Bürger als vom Staat beglückte Kinder wahrgenommen werden.

Aber meine Friseurin sagt zum Beispiel, dass sie, obwohl sie mit vielem unzufrieden ist, deswegen nicht auf die Straße gehen will. Unterdessen behaupten die Demonstranten, dass sie die Meinung aller Moskauer vertreten.

Ekaterina Schulmann: Mein Gott, warum hält es jeder für seine Pflicht, den Taxifahrer, den Babysitter oder den Friseur als Sprecher der gesuchten Volkswahrheit zu zitieren. Soweit ich weiß, behaupten die Demonstranten nichts dergleichen, sondern wollen im politischen Raum präsent sein. Einer von meinen Kollegen Politikwissenschaftlern verglich die aktuellen Moskauer Proteste mit der Kampagne für die Rechte der Afroamerikaner in den USA der 60er Jahre. Ich mag keine historischen Parallelen, aber es gibt Elemente der Ähnlichkeit. Wir zahlen Steuern, halten Gesetze ein und sie verweigern uns unsere Rechte, sagen die Menschen. Ein friedlicher Protest beginnt. Zuallererst möchten die Menschen, dass die Behörden ihre Existenz anerkennen. Das ist die Sprungfeder dieses Protests.

Sie sagen oft, dass diese Protestbewegung ein gesamtrussisches Phänomen ist. Aber vielleicht scheint es so nur von Moskau aus?

Ekaterina Schulmann: Die Protestaktivität in Russland ist nie verblasst und die Protestbewegung hat in den Regionen begonnen. Moskau ist eine wohlhabende und loyale Stadt und mit Protesten sozusagen spät dran. Die ersten Proteste fanden nach den Wahlen im Herbst 2018 in den Regionen statt, während in Moskau die Bürgermeisterwahl relativ ruhig und mit einem guten Ergebnis für die Organisatoren verlief. Proteste fanden in Jaroslawl, Jekaterinburg, Schijes, Syktywkar, Kemerowo sowie Anti-Müll-Proteste im Moskauer Gebiet statt. Es gibt also keine einzige regionale Landeshauptstadt in Russland, in der es keine Episode städtischen Protests aufgrund von Bauarbeiten, Abrissarbeiten und dergleichen gegeben hätte. Es gibt Dutzende davon in Moskau. Statistisch gesehen ist die häufigste Form des Protests in Russland die Arbeitsproteste. Und in 75 Prozent der Fälle sind solche Arbeitsproteste erfolgreich, weshalb über sie so wenig berichtet wird. Wenn Sie mit Statistiken zu tun haben, sehen Sie ein ganz anderes Bild als das, was ihnen die Nachrichten zeigen.

Die Oppositionsbewegung in Russland besteht nach wie vor aus einzelnen Menschen mit ihren Anhängern. Eine Partei im gegenwärtigen politischen System Russlands hat mehr Erfolgschancen. Warum gründet Alexej Nawalny keine politische Partei?

Ekaterina Schulmann: Nawalny wird darauf höchstwahrscheinlich antworten, wir haben hundert Mal einen Antrag gestellt, aber die Behörden lehnen jede Registrierung von uns ab. Der zweite Grund ist, dass eine organisierte Partei auch eine Gefahr darstellt. Gibt es eine Organisation, gibt es eine Zielscheibe. Und die horizontalen Netzstrukturen, die sich im richtigen Moment verknüpfen, sind schwer fassbar und damit gegenüber Polizeidruck effizienter. Die Antikorruptionsstiftung von Nawalny und ihre regionalen Ableger sind eher eine Partei als irgendeine andere Partei in Russland, mit Ausnahme der Kommunistischen Partei.

Apropos Kommunistische Partei. Die Kommunisten organisierten auch eine Kundgebung für faire Wahlen, aber nur einige Tausend Menschen kamen. Und es war irgendwie schwach in den Medien beleuchtet.

Ekaterina Schulmann: Aber die KPRF ist der Hauptnutznießer des Protests, weil genau für ihre Kandidaten bei den Wahlen abgestimmt wird. Mit der Erweiterung des Raumes für politische Konkurrenz werden die linken Parteien in Russland immer einflussreicher sein, das ist unvermeidlich.

Sie mögen keine politischen Prognosen, aber ich muss trotzdem eine Frage stellen, die alle interessiert: Was können wir von den Wahlen für die Moskauer Stadtduma am 8. September erwarten?

Ekaterina Schulmann: Wir rechnen mit einer Protestabstimmung, möglichen Wahlmanipulationen und möglichen Protesten gegen diese Manipulationen. Oder Wahlergebnisse werden anerkannt, und in der Moskauer Stadtduma wird eine größere kommunistische Fraktion geben und eine bestimmte Anzahl von selbsternannten Kandidaten, die es geschafft haben, registriert zu werden. Die Organisatoren der Wahlen sind nicht zu beneiden. Denn wenn die akute Phase der politischen Krise nachlässt, wird die Phase der Schlussfolgerungen kommen, auch der personellen. Das Moskauer Rathaus, denke ich, wird bestehen, weil es über zu viel Geld verfügt. Aber das föderale Management kann daran Schaden nehmen, weil jemand für all das schuldig erklärt werden muss. Denn das können nicht nur Nawalny und seine imaginären „westlichen Sponsoren“ sein.

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

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